Von den Wörtern, die ich in diesem Buch vorstelle, können viele als Epithethon genutzt werden, vor allem, wenn es sich um ein Adjektiv handelt. Als Epitheton bezeichnete man schon in der antiken Rhetorik ein Beiwort. Es geht, wie die on-Endung anzeigt, auf das Griechische zurück und wurde von dort ins Lateinische und anschließend ins Deutsche entlehnt, ohne seine Form zu verändern. Die Bedeutung des griechischen Wortes lautet ›das Hinzugefügte, das später Eingeführte‹.
In der Rhetorik unterscheidet man schon seit der Antike zwischen dem epitheton ornans, dem schmückenden Beiwort, das nicht unbedingt nötig ist, und dem epitheton necessarium, dem notwendigen, etwas Wesentliches ausdrückenden Beiwort. Die Frage nach dem Wert und Nutzen von Epitheta prägte die Diskussion der Barockpoetik um eine deutsche Literatursprache. In seinem für die Dichtkunst grundlegenden »Buch von der deutschen Poeterey« erkennt Martin Opitz 1624 ihren Wert an: »Newe wörter / welches gemeiniglich epitheta, derer wir bald gedencken werden / und von andern wörtern zuesammen gesetzt sindt / zue erdencken / ist Poeten nicht allein erlaubet / sondern macht auch den getichten / wenn es mässig geschiehet / eine sonderliche anmutigkeit.« Daher sei es nötig, Epitheta, »an denen bißher bey uns grosser mangel gewesen / sonderlich von den Griechen und Lateinischen ab[zu]stehlen / und uns zue nutze [zu] machen«. Denn sie gäben »den Poetischen sachen einen solchen glantz«.
Kaum sechs Jahrzehnte später allerdings hatten die Dichter des Barocks das Erfinden neuer Beiwörter und den Gebrauch von Epitheta dermaßen auf die Spitze getrieben, dass übermäßiger Einsatz von Adjektiven seither als typisches Kennzeichen eines schwülstigen Stils gilt. Schon 1682 rät Daniel Georg Morhof in seinem »Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie«, »schwülstige Epitheta und Periphrases ganntzlich zu meiden«.
Wie allgegenwärtig Epitheta dennoch bis heute geblieben sind, zeigt der sprachkritische Philosoph Fitz Mauthner 1910 am Beispiel des Wortes Wahrheit:
In sehr zahlreichen Redensarten wird eine besonders wahre Wahrheit von der Wahrheit überhaupt unterschieden: die ganze, volle, gründliche, schlichte, runde, strenge, reine, pure, lautere, nackte (nuda veritas; auch die meisten andern dieser Epitheta haben Analoga in den andern Sprachen, sogar die deutsche Wahrheit [Hervorhebung im Original, mh]), bloße, bare, ungeschminkte, dürre, scharfe, unumstößliche, ausgemachte, höchste (summa) Wahrheit.
Die Bedeutung von Epitheton wurde im Laufe der Jahrhunderte immer mehr erweitert. Heute kann damit auch ein Substantiv gemeint sein oder eine ganze Wortgruppe wie in Ingo Schulzes Nachwende-Roman »Neue Leben«, in dem der Held Enrico Türmer seinem Freund Jo über den Auftritt des Erbprinzen von Altenburg-Gera in der ersten frei gewählten Volksversammlung berichtet: »[D]er Besuch trägt das Epitheton ›organisiert vom Altenburger Wochenblatt‹«. Von der »sonderlichen anmutigkeit«, die Opitz mit den Epitheta in der Poesie zu erreichen gedacht, ist in der Realität des von Schulze bespöttelten Konglomerats von Lokalpolitik und Lokaljournalismus nicht mehr viel übrig geblieben.