Ethos

Das Wort ist heute geradezu ein Leitwort jeglichen Diskurses über richtiges Verhalten. Zahlreiche Wendungen wie ärztliches, journalistisches oder soldatisches Ethos und Zusammensetzungen wie Berufsethos, Standesethos oder Arbeitsethos zeugen davon. Sein Sinn ist dabei selten klar von dem der Ethik geschieden. Beide haben die gleiche etymologische Wurzel und gehen auf ethikos (›den Charakter betreffend‹) zurück, das im Griechischen eine Adjektivbildung zum Substantiv ethos ist.

Im Deutschen war Ethos, als es im späten 18. Jahrhundert aus dem Griechischen entlehnt wurde, zunächst ein Begriff der Literaturtheorie rund um die Weimarer Klassik. Wieland, Schlegel und Schiller benutzen das schon in der Antike gebräuchliche Begriffspaar Ethos und Pathos, um die Triebkräfte von Figuren in der Tragödie zu beschreiben. So erläutert Friedrich Schiller: »Würde wird mehr im Leiden (pathos), Anmuth mehr im Betragen (ethos) gefordert und gezeigt.«

Im Griechischen meint ethos ›Gesinnung, Charakter‹, wenn von einer einzelnen Person die Rede ist, und ›Sitte, Herkommen, Gebrauch‹, wenn es um eine Gruppe geht. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wird Ethos zur Bezeichnung für das, woran sich menschliches Verhalten im besten Falle orientiert; nach der Definition des Duden-Fremdwörterbuchs bedeutet es ›vom Bewusstsein sittlicher Werte geprägte Gesinnung, Gesamthaltung; ethisches Bewusstsein; Ethik‹. Häufiger wurde das Wort aber erst im 20. Jahrhundert gebraucht. Beispielhaft ist ein Zitat aus Carl Friedrich von Weizsäckers Buch »Bewusstseinswandel« von 1988:

In Gesellschaften, in denen das ebenfalls uralte Ethos des Herrschens und Dienens selbst eine überkommene und beibehaltene Verhaltensform ist, ist die dienende Klasse oft konservativer als die zu Experimenten fähigen, zu neuen Einfällen freigesetzten Herren.

Peter Sloterdijk kann 1983 bei seiner bildungssprachlich versierten Leserschaft Vertrautheit mit dem ganzen weiten Bedeutungsgehalt des Wortes voraussetzen, wenn er in seiner »Kritik der zynischen Vernunft« über den Beginn der Säkularisierung der Moral schreibt: »Die Aufklärung überrascht die Religion, indem sie sie im Ethos ernster nimmt als diese sich selbst.« Ethos kann immer nur im positiven Sinne verwendet werden; Verbindungen wie Nazi-Ethos oder verbrecherisches Ethos sind kaum vorstellbar.