gerieren

Wer als darstellender Künstler auf sich aufmerksam machen will, sollte sich nicht allzu übertrieben gerieren, sonst sieht die Kritik nur den fuchtelnden Furor, nicht die Kunst. Das reflexive Verb wurde im 18. Jahrhundert aus französisch se gérer (›sich betragen, sich benehmen, sich verhalten‹) entlehnt. Der französische Ausdruck geht auf ein lateinisches Wort zurück, das mit Geste verwandt ist.

Zunächst war die Bedeutung im Deutschen ähnlich wie im Französischen, allerdings gab es von Anfang an den Nebensinn des ›Schwindels‹ oder des ›Selbstbetrugs‹ – wer sich gerierte, war meist nicht ganz ehrlich zu sich selbst und anderen. So schreibt Rahel Varnhagen 1832 an ihren Freund Ludwig Robert über die Erkenntnisse aus ihrer Lektüre Hegels: »Als Unendliches ist dem Geist bloß armer Witz gelassen, um sich reich in dieser Armuth zu geriren.« Und 1897/98 schwärmt in Fontanes Roman »Der Stechlin« Gräfin Melusine dem alten Dubslav von Stechlin über eine süddeutsche Baronin vor: »Glaubt eigentlich gar nichts und geriert sich dabei streng katholisch. Das klingt widersinnig und ist doch richtig und reizend zugleich. All die Süddeutschen sind überhaupt viel netter als wir, und die nettesten, weil die natürlichsten, sind die Bayern.«

Heute wird das Wort bildungssprachlich nahezu ausschließlich in der Wendung sich als etwas geriereren verwendet, wenn im beschriebenen Verhalten etwas Hochstaplerisches oder Anmaßendes anklingen soll. Dieser Gebrauch ist ebenfalls schon seit dem 18. Jahrhundert üblich; im 19. Jahrhundert wurde er dominant. Arthur Schopenhauer etwa höhnt 1844 in seinem Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« über den sogenannten Atomismus als philosophisches und physikalisches Welterklärungsmodell:

Diese ganze Aether-Atomen-Tremulanten-Hypothese ist nicht nur ein Hirngespinst, sondern thut es an täppischer Plumpheit den ärgsten Demokritischen gleich, ist aber unverschämt genug, sich heut zu Tage als ausgemachte Sache zu geriren, wodurch sie erlangt hat, daß sie von tausend pinselhaften Skribenten aller Fächer, denen jede Kenntniß von solchen Dingen abgeht, rechtgläubig nachgebetet und wie ein Evangelium geglaubt wird.

Gegenwärtig liest man das Verb in Wendungen wie sich als Märtyrer, als Beschützer, als Saubermann, als Opfer gerieren. Ungewöhnlich ist die Verwendung mit in statt als bei Herta Müller in ihrem 2003 erschienenen Buch »Der König verneigt sich und tötet«: »Ich weiß, viele von den Windigen gerieren sich heute in ziviler Unschuld.«