Gran

Dies ist wieder eines der Wörter, bei denen sich die Lexikografen nicht einig sind, ob es nun bildungssprachlich ist oder dem gehobenen Sprachgebrauch angehört. Ich neige mit Gerhard Augst dazu, es dem Bildungswortschatz zuzurechnen, vor allem, weil es ein Fremdwort ist – selbst wenn es heute nicht mehr als solches empfunden wird.

Aus dem lateinischen granum (›Korn‹) wurde in der Mitte des 15. Jahrhunderts – und zunächst im Niederdeutschen – das deutsche Gran als Bezeichnung für ein sehr kleines Gewicht entlehnt. Das besonders bei Apothekern, Juwelieren und Münzmeistern gebräuchliche Wort kennt seitdem alle drei Genera; heute überwiegt das Neutrum. Lily Braun führt 1911 in ihren »Memoiren einer Sozialistin« noch die männliche Form an: »Die Menschen kehren heim, ohne einen Gran Kraft und Klugheit gewonnen zu haben.«

Gelegentlich wird das Wort noch für Gewichte benutzt, aber oft gewinnt man den Eindruck, dass der eigentliche Wortsinn längst vergessen ist und Sprecher Gran nur für ein vornehmes Synonym von Gramm halten. So wirkt es zumindest bei Otto Flake, der in seinem 1917 erschienenen »Logbuch« aus dem Ersten Weltkrieg berichtet: »Man begegnet jetzt überall dem schlanken Typ des deutschen Offiziers: kein Gran Fett, alles von gebräunter Haut überspannte Nerven und Energie.«

Von Anfang an wird Gran im übertragenen Sinne von ›eine winzige Spur‹ verwendet – selbst bei Abstrakta, die natürlich gar nicht messbar sind. In der 1661 uraufgeführten Tragödie »Cleopatra« des Barockdramatikers Daniel Casper von Lohenstein sinniert der Römer Caelius: »Ein Gran Verwegenheit ist unter ein gantz Pfund / Der Klugheit schon genung. Vernunft ist das Gewichte / Der Stärck und der Gefahr.« Heute ist der bei Lohenstein noch erkennbare Bezug auf den ursprünglichen Gehalt der Maßeinheit ganz verblasst. Besonders häufig wird das Wort nun auf Gefühlsregungen bezogen. Im 2006 erschienenen Roman »Marthes Vision« von Regula Venske gibt eine Romanfigur zu: »Mag sein, in meine Anteilnahme mischte sich ein Gran Neid.«

Zu Gran gehört die Redensart cum grano salis. Sie geht zurück auf Plinius den Älteren, der im Jahr 79 beim Ausbruch des Vesuvs nahe Pompeji umkam. Der römische Gelehrte gehört zu den sprachlich folgenreichsten Schriftstellern des Abendlandes: In seiner »Naturgeschichte«, in der er das Wissen seiner Zeit sammelt, überliefert Plinius manche Details vor allem zu Tieren, die dann auf dem Umweg über das im Mittelalter bestimmende Wörterbuch des Isidor von Sevilla sowie die Sammlung »Adagia« des Renaissancehumanisten Erasmus von Rotterdam als Redensarten in die Bildungssprachen der europäischen Länder eingingen. Ohne Plinius den Älteren würde wir beispielsweise nicht von den Krokodilstränen sprechen, die die Tiere angeblich beim Verzehr ihrer Opfer weinen. Die Formulierung cum grano salis rührt her von einer Stelle im 23. Buch der »Naturalis historia«, in der Plinius berichtet, der Feldherr Pompeius habe ein Gegengift gegen Schlangenbisse erfunden, zu dessen Zutaten man immer ein Salzkorn gegeben müsse (»addito salis grano«). Da lateinisch salis auch Verstand und Witz bedeutet, kann die Redensart so verstanden werden, dass man bei einer Aussage bitte nicht den Verstand ausschalten und sie stets kritisch betrachten solle. In diese Richtung weist wohl der Ausspruch: »Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß der Satz Denken ist Sprechen cum grano salis zu verstehen sei«, mit dem der sprachkritische Philosoph Fritz Mauthner eine Devise seiner eigenen Philosophie einschränkt – natürlich cum grano salis.