holistisch

Hier handelt es sich um ein Wort, mit dem man tatsächlich noch Distinktionsgewinne erzielen kann. Ganzheitlich ist in den letzten drei bis vier Jahrzehnten zum weit verbreiteten Schlagwort in Ökologie, Medizin und Therapieszene geworden. Holistisch bedeutet im Wesentlichen dasselbe, aber es klingt doch nicht nach etwas, das jeder Allerweltsöko im Munde führt, sondern wesentlich wissender und eingeweihter.

In die Bildungssprache ging das Wort in den 1980er-Jahren ein. Es ist das Adjektiv zum Begriff Holismus, den der südafrikanische Philosoph, Politiker und General Jan Smuts 1926 mit seinem Buch »Holism and Evolution« prägte. In Deutschland war es der Naturphilosoph Adolf Meyer-Abich, der in Texten wie »Hauptgedanken des Holismus« von 1940 das Wort und die dahinter liegenden Vorstellungen weiterentwickelte. Global populär wurden Holismus und holistisch schließlich in den 1970er-Jahren durch den sehr erfolgreichen österreichisch-amerikanischen Physiker und Philosophen Fritjof Capra. Dieser gehörte zu den Denkern, die 1987 in einem »Zeit«-Artikel beschrieben werden: »Das nichtlineare Yin-Denken, das sich primär auf das Gefühl beziehe, betrachte die Welt eher ganzheitlich – ›holistisch‹, wie die New-Age-Vertreter die erstrebte schöne neue Weltsicht nennen.«

Doch nicht nur New-Ager, selbst gestandene Systemtheoretiker und -kritiker wie Luhmann und Habermas verwendeten das Wort. Mittlerweile ist holistisch bildungssprachlich so etabliert, dass es zwei so unterschiedliche Politiker wie Johannes Rau (SPD) und Julia Klöckner (CDU) in Reden benutzen konnten. So lobt Bundespräsident Rau 2003 auf einem Staatsbesuch in Indien das in der Universität Hyderabad praktizierte interdisziplinäre Arbeiten: »Das entspricht gewiss auch dem indischen Denken, das in seiner spirituellen Tradition stärker an einem ganzheitlichen, holistischen Naturverständnis orientiert […].« Und Bundesministerin Klöckner informiert in einem Bulletin Fürst Albert II. von Monaco während seines Besuchs der »Hamburger Klimawoche« 2018 über die Möglichkeiten des Klimaschutzes: »Das Erreichen dieser Ziele ist nur durch einen holistischen Ansatz aller beteiligten Akteure möglich, die im engen Schulterschluss zusammenwirken.« Nun, es mag nicht immer auffallen, aber die Aura des Besonderen, das im Grenzgebiet zwischen Spiritualität und Philosophie, zwischen westlichem und östlichem Denken angesiedelt ist, soll dem Wort nach wie vor anhaften.