idiosynkratisch

Dies ist eines der rätselhaftesten Wörter des deutschen Bildungswortschatzes. Der Online-Duden nennt nur die beiden fachsprachlichen Bedeutungen – in der Medizin ›überempfindlich gegen bestimmte Stoffe und Reize‹ sowie in der Psychologie ›von unüberwindlicher Abneigung erfüllt und entsprechend auf jemanden, etwas reagierend‹. Das Adjektiv wurde im 19. Jahrhundert abgeleitet von dem etwas älteren Substantiv Idiosynkrasie, das schon bei den alten Griechen ein medizinischer Terminus für die spezifische Reaktion eines Menschen auf Reize war. Ursprünglich bezeichnete das griechische idiosynkrasia die besondere Säftemischung im menschlichen Körper – und weil man sich vorstellte, dass das Temperament einer Person vom individuellen Zusammenspiel gelber und schwarzer Galle, Blut und Schleim abhing, wurde idiosynkrasia auch zum Ausdruck für die jeweilige Wesensart eines Menschen.

Das Wort Idiosynkrasie gebrauchten E. T. A. Hoffmann, Heinrich Heine und andere dann im Sinne von ›starke Abneigung, Ekel‹, den es seit dem 18. Jahrhundert in der deutschen Medizin hat. Doch schon seit dem frühen 19. Jahrhundert sind beide Wörter auch neutral als Synonyme zu ›Wesensart, Eigenart‹ beziehungsweise ›wesensartlich, der besonderen Eigenart entsprechend‹ in der Bildungssprache üblich. So schreibt 1838 der Arzt Gustav Blumröder unter dem Pseudonym Antonius Anthus in seinen »Vorlesungen über die Esskunst«: »Üebrigens vergesse man nicht, daß bei Kunsturtheilen gar viel darauf ankommt, was der Urtheilende schon Alles gegessen, was er weiß und nicht weiß, was er gewohnt und nicht gewohnt ist, was er idiosynkratisch liebt und nicht liebt.« Auf diese Belegstelle passt keine der beiden eingangs angeführten fachsprachlichen Definitionen, genauso wenig wie auf diesen Satz von Jürgen Habermas aus seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« von 1981: »Nicht die wissenschaftliche Rationalität als solche, wohl aber ihre Hypostasierung scheint zu den idiosynkratischen Zügen der westlichen Kultur zu gehören.«

Habermas, der das Wort idiosynkratisch immer wieder verwendet, ist möglicherweise der Hauptverantwortliche dafür, dass dessen Frequenz in der Bildungssprache seit den 1980er-Jahren nachweisbar zunimmt. In der »Theorie des kommunikativen Handelns« findet der Philosoph sogar zu einer eigenen Erklärung: ›nicht verallgemeinerbar und bloß subjektiv‹. Möglicherweise unter seinem Einfluss nutzt die Linguistik den Terminus idiosynkratisch, um sprachliche Unregelmäßigkeiten zu beschreiben, die sich keiner Regel fügen. Der Gebrauch, den Habermas selbst von idiosynkratisch in seinen Werken macht, passt dazu. Nicht jede Stelle lässt sich jedoch mit der Bedeutungsangabe erhellen, die er selbst gegeben hat. Wie in der Sprache der Feuilletons, wo der Ausdruck sehr häufig auftaucht, setzt Habermas das Wort oft in einem schillernden Sinne ein, der sich wohl am ehesten mit ›aus schwer ergründlichen persönlichen Motiven‹ oder einfach mit ›für Außenstehende fast unverständlich‹ beschreiben lässt. Wer es selbst aktiv gebrauchen möchte, sollte sich darüber im Klaren sein, dass das Wort leicht als abwertend verstanden werden kann, aber auch auf eine vertrackte Weise ironisch wirkt – wie ein Fremdwort, das man nutzt, um sich über Fremdwortgebrauch lustig zu machen. Diese Klippen zu umschiffen, ist nicht allen gegeben. Es handelt sich hier eindeutig um Bildungswortschatz für Fortgeschrittene.