inkommensurabel

Hier liegt der Fall vor, dass ein Grundwort im Deutschen viel seltener gebraucht wird als das mit einer entsprechenden Silbe gebildete Gegenwort. Das Adjektiv inkommensurabel haben fast alle schon einmal gehört oder gelesen, kommensurabel wohl eher nicht. Letzteres wurde im 18. Jahrhundert aus dem Französischen ins Deutsche entlehnt, wobei das dem französischen Wort commensurable (›messbar, vergleichbar‹) zugrunde liegende lateinische commensurabilis noch mitwirkte. Ungefähr zur gleichen Zeit gelangte dann das französische incommensurable in unsere Muttersprache; die Form inkommensurabel setzte sich erst im 19. Jahrhundert durch. Wie kommensurabel diente es zunächst als Fachwort der Mathematik, wo es für Größen, deren Verhältnis irrational ist, verwendet wurde und wird. So liest man 1723 in einer Übersetzung der »Elemente« des Euklid in der 41. Proposition: »Wenn 2 rechte Linien AB und BE, (welche in Macht incommensurabel, und deren zusammen addirte quadrate ein rectangulum medium, ingleichen das von ihnen beschlossene rectangulum eine rational Fläche ausmachen) zusammen gebracht werden. So wird die ganze Linie A E irrational seyn.«

Obwohl kommensurabel bei E. T. A. Hoffmann und Theodor W. Adorno steht und Karl Marx den Ausdruck im »Kapital« häufig für messbare Größen und Verhältnisse im Warenverkehr gebraucht, wurde das Wort im 20. Jahrhundert allmählich immer seltener. Inkommensurabel hingegen stieg auf zum allgemein gängigen Wort der Bildungssprache. Vielleicht lag es daran, dass kommensurabel weiterhin fast nur in seinem fachsprachlichen Sinn ›messbar, in Zahlen vergleichbar‹ verwendet wird, während inkommensurabel auch die übertragene Bedeutung ›mit dem Verstand nicht erfassbar, alle Vorstellungskraft übersteigend‹ angenommen hatte.

An dieser Entwicklung wirkte Goethe mit, der den Ausdruck offenbar vor allem in mündlicher Rede gern nutzte. Die Hälfte der fünfzehn Belege, die das Goethe-Wörterbuch kennt, stammen aus Gesprächsaufzeichnungen. Gegenüber Eckermann sagte Goethe beispielsweise: »Der Faust […] ist doch ganz etwas Incommensurabeles, und alle Versuche, ihn dem Verstand näher zu bringen, sind vergeblich«. Oder: »Die Erwägung, wie incommensurabel Menschliches zum Himmlischen stehe, war auch dem Mittelalter nicht verschlossen.« Und über seinen Plan zum Roman »Die Wahlverwandtschaften« ließ er den Gesprächspartner Eckermann wissen: »Je inkommensurabeler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion ist, desto besser.«

Dieser freiere Gebrauch löste das Wort aus dem Gefängnis der Fachsprache und machte es für die Bildungssprache verfügbar. Theodor W. Adorno schreibt 1951 über die Stücke des von ihm verachteten Friedrich Schiller: »Die Kabalen der allzu gut gebauten Stücke Schillers sind ohnmächtige Hilfskonstruktionen zwischen den Leidenschaften der Menschen und der ihnen bereits inkommensurablen und darum in menschlichen Motivationen nicht mehr greifbaren sozialen und politischen Realität.« In »Minima Moralia« gebraucht Adorno das Wort noch häufiger. Die genaue Bedeutung, die er dem Wort beilegt, ist oft im besten Goethe’schen Sinne inkommensurabel und gelegentlich für den Verstand unfasslich.