Kanon

Die Kanone hat ein Rohr, das weiß jeder, auch wenn die Redewendung Heiliges Kanonenrohr! aus der Mode gekommen ist. Weniger bekannt ist, dass auch der Kanon etwas mit Rohr zu tun hat. Das griechische Wort kanon bezeichnete wohl zunächst einen Rohrstab und ist verwandt mit kanna (›Rohr‹). Schon im Griechischen nahm kanon – ausgehend vom ursprünglichen Sinn ›Richstab, Lineal, gerade Stange‹ – die übertragenen Bedeutungen ›Regel, Vorschrift, Liste, Katalog, Verzeichnis der klassischen Schriftsteller‹ an. Nur als Musikstück kannten die Griechen das Wort noch nicht; dieser Zusammenhang entwickelte sich erst im 16. Jahrhundert im Deutschen, weil ein Kanon nach strengen kontrapunktischen Regeln gesungen wird.

Bildungssprachlich sind heute allein die beiden Bedeutungen ›Richtschnur, Leitfaden für jemandes Verhalten‹ sowie ›Liste mustergültiger Autoren, Werke‹. Diese gehen auf kirchenlateinisch canon zurück, das den unveränderlichen Hauptbestandteil der Messe, das Verzeichnis der als göttlich inspiriert geltenden Bücher der Bibel sowie den Katalog der Heiligen bezeichnet.

Die erste Bedeutung, Kanon als ›Verhaltensleitfaden‹, ist gemeint, wenn Walter Rathenau 1918 in seinem Buch »Von kommenden Dingen« schreibt:

Welch gewaltige Richtkraft bewußter Volksüberzeugung innewohnt, das erkennt man in einem Lande, das uns nicht Vorbild ist, wo die einseitigen und unbeseelten Begriffe der Herrenwürde und der Stammesgepflogenheiten zum Kanon allen Menschenurteils geworden sind.

Die zweite Bedeutung, ›Liste mustergültiger Autoren, Werke‹, wurde um die Jahrtausendwende sehr populär, als sowohl der Anglistikprofessor Dietrich Schwanitz als auch der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in einem späten Aufbäumen gegen das Verblassen abendländischer Bildungstraditionen Kanons aufstellten. Hierzu erläutert Schwanitz 1999 in seinem Bestseller »Bildung. Alles was man wissen muss«: »›Bildung‹ war aber das Konzept, das vor 1968 den Widerspruch zwischen dem Fachstudium und dem Schulunterricht durch den sogenannten ›Kanon‹ überbrückte.«

Reich-Ranicki kündigte 2001 in einem »Spiegel«-Gespräch an, einen »Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke« als »Opus magnum« seines Lebens zusammenzustellen und zu veröffentlichen: »Die Frage, ob wir einen solchen Katalog benötigen, ist mir unverständlich, denn der Verzicht auf einen Kanon würde den Rückfall in die Barbarei bedeuten. Ein Streit darüber, wie der Kanon aussehen sollte, kann dagegen sehr nützlich sein.« Dieser Ankündigung folgten in den Jahren 2002 bis 2006 fünf Teile mit von Reich-Ranicki für kanonisch erachteten Romanen, Erzählungen, Dramen, Gedichten und Essays.

Seitdem gab es immer wieder Versuche, einen vermeintlich zeitgemäßeren Kanon aufzustellen. Die »Literarische Welt« etwa forderte 2018: »Wir müssen den Kanon umschreiben« – es ging darum, Literatur von Frauen bekannter zu machen. Und im gleichen Jahr las man in der »Zeit« die Überschrift: »Wir brauchen einen neuen Kanon« – hier war ein modernerer Begriff von Allgemeinbildung gemeint.

Manche Traditionalisten fanden das unter aller Kanone. Die Redensart geht zurück auf ein altes studentensprachliches Wortspiel mit der lateinischen Formel sub omni canone (›unterhalb aller Kanons‹), bei dem das letzte Wort absichtlich falsch übersetzt wurde.