In seiner »Kritik der zynischen Vernunft« ruft Peter Sloterdijk 1983 den Dichter Gottfried Benn als Kronzeugen auf, um zu erläutern, was Zynismus überhaupt sei: »Gottfried Benn, selber einer der profilierten Sprecher der modernen zynischen Struktur, hat wohl die Jahrhundertformulierung des Zynismus gegeben – luzide und unverschämt: ›Dumm sein und Arbeit haben – das ist das Glück!‹« Typisch daran ist, dass das Adjektiv, das laut Duden eigentlich nur luzid lautet, hier um ein wohlklingendes End-e bereichert wird; ohne dieses e am Ende ist es selten zu finden. Vielleicht wirkt die Tatsache, dass die deklinierten Formen des Wortes wie luzider Witz oder mit luzider Ironie alle ein e haben, auf die Wahrnehmung der undeklinierten Normalform zurück. Im Duden gehört es noch zu den Adjektiven auf -id, bei denen Varianten mit oder ohne e nebeneinander gezeigt werden, wie etwa frigid(e), invalid(e), rapid(e), solid(e), stupid(e). Klar ohne e sind dagegen hybrid, arid, florid.
Hinzu kommen regionale Unterschiede: Im großen österreichischen Schulwörterbuch aus dem Dudenverlag wird zum Beispiel invalid als »besonders österreichisch, süddeutsch, schweizerisch« ausgewiesen, während invalide als »in Deutschland« gebräuchlich gilt. Diese regionale Variation passt dazu, dass in süddeutschen Mundarten viele Wörter, die im Standarddeutschen ein unbetontes Endungs-e haben, ohne e gesprochen werden: Kron, Seel, Sonn sind Beispiele aus den Grammatiken des 18. Jahrhunderts, als diese Schreibweise noch ein höchst umkämpftes religionspolitisches Thema war. Die Schreibung und Aussprache mit e galt nämlich in den katholischen Gebieten als »lutherisch« und war deshalb unerwünscht. Schließlich war der Ausfall des Endungs-e um 1500 in fast allen deutschen Mundarten vollzogen, nur nicht im Mitteldeutschen, das aber Martin Luther über den Umweg der mitteldeutsch-sächsischen Kanzleisprache als Grundlage seiner Bibelübersetzung genutzt hatte. Durch das Prestige der Luther-Bibel wurde das Endungs-e dann in den nächsten 250 Jahren in die allgemeine Standardsprache implantiert. Erst im 18. Jahrhundert gaben katholische Grammatiker ihren Kampf gegen das »lutherische e« allmählich auf.
Das Wort luzid, das im 19. Jahrhundert aus lateinisch lucidus (›lichtvoll‹, verwandt mit lux ›Licht‹) entlehnt wurde, wird im Duden-Universalwörterbuch erstens mit ›klar (und eindeutig); verständlich, einleuchtend‹ und zweitens mit ›hell, durchsichtig, klar‹ definiert, wobei nur die zweite Bedeutung bildungssprachlich sein soll und zudem als »veraltet« gilt. Gemeint ist damit eine konkrete physikalische Beschreibung, die sich allerdings noch 2023 in einer Architekturkritik des Berliner »Tagesspiegels« findet: »Ein luzides, transparentes Haus, am Fuß des Bettenhauses auf dem Campus Mitte.«
In den Medien ist luzid heute ein ubiquitäres Modewort, das weit über die enge Definition des Dudens hinaus verwendet wird. Lobend kann es im Sinne von ›intelligent‹ genutzt werden; so wird Robert Habeck 2017 in der »Zeit« als »der sonst überaus luzide Grünen-Spitzenpolitiker« gepriesen. Auffällig oft bringen Musikkritiker den Ausdruck, um die geglückte Interpretation von musikalischen Werken zu würdigen. Über eine Darbietung der Chorwerke György Kurtágs liest man ebenfalls 2017 in der »Zeit«: »Ein zärtlicheres, luzideres Denkmal wurde Kúrtag [sic!, mh] nie gesetzt als hier unter Reinbert de Leeuw.« Besser begreift man, was in der Traumforschung mit dem Wort gemeint ist: Dort wird von luziden Träumen gesprochen, wenn sich der Schlafende des Träumens bewusst ist.