Narrativ

Was für eine steile Karriere! Innerhalb kürzester Zeit konnte sich dieses Wort einen Weg aus der Verborgenheit der Soziologen- und Literaturwissenschaftlerterminologie in die Sprache der Leitartikel und Grundsatzreden bahnen. Bis in die ersten Jahre des neuen Jahrtausends hinein verwendete man narrativ fast ausschließlich als Adjektiv, und allein so stand es bis 2017 im Rechtschreibduden. Seine Bedeutung wird dort mit ›erzählend‹ erklärt; in direkter Nachbarschaft fand sich noch die Narratologie (›Erzählforschung, Erzähltheorie‹).

Erst seit der 28. Auflage des Dudens 2020 drängt sich das neutrale Substantiv Narrativ dazwischen. Seine Bedeutung wird mit ›(verbindende) sinnstiftende Erzählung‹ angegeben. Hierbei handelt es sich offenbar nicht um die Sorte Erzählungen, von denen im Deutschunterricht die Rede war. Gemeint sind vielmehr die ›großen Erzählungen‹, deren Ende der poststrukturalistische Philosoph Jean-François Lyotard 1979 in seiner Studie »Das postmoderne Wissen« verkündet. Als deren Urheber macht Lyotard zwei deutsche Philosophen aus: Immanuel Kant, der als Erster die Befreiung des rationalen Individuums durch die Aufklärung analysiert habe, und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, auf den die Idee einer zielgerichteten Geschichte zurückgehe.

Von Hegel führt bekanntlich ein Weg zu Marx und von dort zum Sozialismus und Kommunismus des 20. Jahrhunderts. Nach Lyotards epochalem Buch dauerte es nicht lange, bis auch die Ideologien der Moderne als »große Erzählungen«, »Metaerzählungen« oder »Meistererzählungen« interpretiert wurden ebenso wie rückwirkend das Christentum oder das Abendland. Lyotard selbst spricht im französischen Original von grands récits oder metarécits; die englischen Übersetzungen seiner begrifflichen Neuschöpfungen lauten grand narratives oder master narratives.

Lyotards Ansatz wurde unter Fachleuten viel diskutiert und trug dazu bei, das neue Wort zunächst in einem Zirkel von Wissenden zu etablieren. Mit elektronischen Archiven lässt sich dann seit den späten Neunzigerjahren ein explosionsartiger Anstieg des Gebrauchs von Narrativ in deutschsprachigen Texten nachweisen. Ein Grund dafür ist paradoxerweise, dass die meisten Narrative mittlerweile als recht problematisch gelten: Solange sie funktionierten, musste niemand über sie reden, ja, man erkannte sie nicht einmal als solche. Gegen die inflationäre und oft nebulöse Verwendung des Wortes wendet sich unter anderem der Historiker Dan Diner in seinem Essayband »Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis« von 1994. Seine Kritik bringt er mit dem bemerkenswerten Satz auf den Punkt: »Die Massenvernichtung der europäischen Juden hat eine Statistik, kein Narrativ.«

2014 ist der Terminus schon so verbreitet, dass der Verlag Springer VS einen Sammelband unter dem Titel »Politische Narrative« veröffentlicht. In der Ankündigung wird der Titel erklärt:

Die zentrale Bedeutung von Narrativen in der Sinnvermittlung menschlicher Kommunikation wird kaum noch bestritten. Politische Narrative finden sich nicht nur in der Literatur oder in Bildern, sondern auch in vielfältigen Legitimierungsstrategien und Herrschaftstechniken politischer Akteure.

Damit ist der Höhepunkt der Wortkarriere aber noch immer nicht erreicht. Obwohl es zunehmend als angeberisches Modewort empfunden wird, liest man im Zusammenhang mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine trotzdem zahlreiche Überschriften wie »Moskau muss Narrativ anpassen« (N-TV), »Moskaus Probleme mit dem Nazi-Narrativ« (ZDF) oder »Russland-Reporter Rainer Munz über das neue Kriegs-Narrativ des Kreml« (Stern). Selbst Klimawandel und Feminismus wurden schon als Narrative bezeichnet. Dem engeren Bereich der Bildungssprache ist das Wort längst nicht mehr zuzurechnen.