Orkus

Noch 1942 kam der Sprachforscher Otto Basler zu dem Schluss, Orkus sei trotz sparsamer Verwendung im Dichterischen – besonders prominent bei Goethe und Schiller – nicht zum allgemeinen Gebrauch gelangt. Man wüsste gern, wie Basler zu dieser Ansicht gelangt war, denn erstens ist das von Dichtern so »sparsam« eingesetzte Wort genauso häufig unter anderem bei Jean Paul und Heinrich von Kleist vertreten und zweitens spricht man in Zeitungen, Zeitschriften und Reichstagsreden schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts vom Orkus des Antipatriotismus, Orkus der Hofkanzlei, Orkus des Vergessens, Orkus der philosophischen Terminologie oder Orkus des Steuerkompromisses. Gemeint ist damit jeweils ein Gedankenbereich, ein Bürokratiefeld oder Ähnliches, in dem Dinge der Unklarheit und dem Vergessen anheimgegeben werden.

In Zeitungen taucht das um 1750 aus dem Lateinischen entlehnte Wort schon seit etwa 1800 auf. Die frühen Belege in Dichtung und Medien bezogen sich aber zumeist noch auf den Eigennamen des Gottes der Unterwelt, den die Römer unter anderem Pluto oder eben Orcus nannten, beziehungsweise dessen Herrschaftsbereich: Schon im klassischen Latein bezeichnete Orcus – ähnlich wie im Altgriechischen Hades – nicht nur die Gottheit, sondern ebenso den Aufenthaltsort der zu einer Strafe verdammten Seelen.

Die wohl berühmteste dichterische Verwendung im Deutschen findet sich in Schillers Gedicht »Nänie«, das mit den Versen endet: »Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich; / Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.« Dieser konkrete Bezug zum Totenreich ist auf humorvolle Weise noch 1920 in Else Urys Roman »Nesthäkchen fliegt aus dem Nest« gegenwärtig. Hier fällt die Titelheldin durch ein Loch im Heuboden, auf dem sie mit Wanderkameraden übernachtet hatte, und resümiert: »Ja, ich wollte mich bloß auf die andere Seite umdrehen und da segelte ich plötzlich in den Orkus hinab.«

Die heutigen Wörterbücher verzeichnen für Orkus neben dem Synonym für Hades in der römischen Mythologie noch die zweite Bedeutung ›Toilette‹, die aber als »veraltend bildungssprachlich« erläutert wird. Sicher ist, dass der damalige Außenminister Joschka Fischer keine Toilette meinte, als er 2002 an den Zusammenbruch der UdSSR erinnerte und sagte: »In wenigen Monaten löste sich die alte Ordnung auf, und die DDR und die Sowjetunion verschwanden im Orkus der Geschichte.« Auch an das Totenreich der Römer dachte Fischer vermutlich nicht mehr konkret. Stattdessen gebrauchte er das Wort, wie es schon lange im übertragenen Sinne üblich ist: für das Reich des Vergessens, die Dunkelheit, irgendeinen Ort, an dem man nicht gerne ist. Es ist möglich, dass die Verwechslung mit Lokus ursächlich für die Toilette als Orkus ist. Ob das aber tatsächlich für eine Buchung im Wörterbuch ausreicht?