postulieren

Wie so viele andere Wörter in diesem Buch hat dieses Verb eine alte kirchenrechtliche Bedeutung, die in Vergessenheit geraten ist. Als das Verb postulieren im 15. Jahrhundert geprägt wurde, bedeutete es zwar bereits wie heute ›fordern‹ – die frühen Wörterbücher erläutern es mit ›heischen, begehren‹ –, aber der Gebrauch war eingeengt auf die Besetzung kirchlicher Posten, und hier nahm es den Sinn von ›vorschlagen‹ an. In den frühneuzeitlichen Quellen liest man häufig, jemand sei zum Bischof oder Ähnlichem »postuliert und erwählt« oder »nominiert und postuliert« worden. Zugrunde liegt das ältere mittelalterlich-kirchenlateinische postulatio, das als Postulation eingedeutscht wurde. Das »Deutsche Rechtswörterbuch« definiert es ausführlich als ›Benennung eines durch das kanonische Recht eigentlich nicht zugelassenen Bewerbers für ein hohes Kirchenamt, die durch die wahlberechtigten Kanoniker erfolgt‹. Leopold von Ranke bringt in seiner »Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation« ein anschauliches Bespiel: »Im Jahre 1516 postulirte das Capitel von Schwerin den Prinzen Magnus von Meklenburg, obwohl er noch nicht volle sieben Jahr alt war, zu seinem Bischof.«

Ebenfalls schon im Frühneuhochdeutschen tauchte das heute als Neutrum verwendete kürzere Substantiv Postulat auf, das – neben den vielen Bedeutungen, die der von Postulation entsprachen – einen durch Postulation nominierten Kleriker bezeichnen konnte; dieser angehende Würdenträger hieß dann der Postulat. Von dort aus entfaltete sich die Bedeutung des Verbs postulieren weiter in diverse Richtungen. Es konnte ›vorschlagen, nominieren‹ nun auch für weltlich-politische Gremien bedeuten; ebenso wurde ein angehender Drucker zum Gesellen postuliert. Zudem sind ›eine Schrift auslegen‹ und ›jemanden vor Gericht vertreten‹ frühneuhochdeutsch nachgewiesen.

Für die heutige Bildungssprache wurde die Verwendung von Postulat und postulieren in der Philosophie und Mathematik wegweisend. Ersteres bedeutet dort ›Voraussetzung‹, und das Verb wird definiert als ›etwas vorläufig als wahr und gegeben annehmen, ohne es beweisen zu können‹. Den philosophischen Gebrauch erläutert – gewissermaßen gesetzgebend – Immanuel Kant 1781 in seiner »Kritik der reinen Vernunft«:

Wenn nun entweder, daß etwas sey, oder geschehen solle, ungezweifelt gewiß, aber doch nur bedingt ist: so kan doch entweder eine gewisse bestimte Bedingung dazu schlechthin nothwendig seyn, oder sie kan nur als beliebig und zufällig vorausgesezt werden. Im ersteren Falle wird die Bedingung postulirt, (per thesin) im zweiten supponirt, (per hypothesin).

Die Kernbedeutung von postulieren bleibt aber ›fordern, verlangen‹. Schiller verschmilzt schließlich 1793 den Kant’schen und den allgemeinen Sinn in seiner Schrift »Vom Erhabenen«: »Die Möglichkeit des Sittlichen postuliert also Freiheit«, und »moralische Sicherheit postuliert also, […] Religionsideen, denn nur die Religion, nicht aber die Moral, stellt Beruhigungsgründe für unsere Sinnlichkeit auf«.

Franz Grillparzer setzte das Wort dann 1861 in seinem Aufsatz »Zur Literaturgeschichte« polemisch ein, um ›erfinden, zusammenlügen‹ auszudrücken. Den Philologen und Altertumswissenschaftlern, die von den offensichtlich französisch inspirierten Epen behaupteten, sie beruhten in Wahrheit auf urgermanischen oder uraltdeutschen Vorbildern, unterstellt Grillparzer spöttisch: »Man postulierte antediluvianische, mastodontisch-ichthyosaurische Volksepen.«

Die gesamte schillernde Bedeutungsentfaltung des Verbs würde eine vielseitige Monografie füllen und kann in der Gedrängtheit dieses Buchs nur angedeutet werden. Heute changiert sein Sinn im bildungssprachlichen Gebrauch zwischen ›verlangen, für notwendig erklären‹ und ›behaupten, als wahr hinstellen‹. Oft hat man den Eindruck, den Sprechern sei nicht mehr wirklich klar, was dieses wohlklingende Wort bedeutet. Denn sonst fiele ihnen wohl auf, dass Verbindungen in der Art von »Forderungen postulieren« oder »etwas als Wahrheit postulieren« Pleonasmen sind.