Vor 15 Jahren hätten Sie mit dem klanglich sehr ähnlichen Verb prokrastinieren noch Eindruck schinden können. Doch das ist mittlerweile zum Modewort geworden, mit dem in sozialen Medien Psychotipps gegen Faulheit, Schlaffsein und Aufschieberitis angepriesen werden. Wer wirklich gebildet klingen will, sollte die nüchterne Tatsache, dass er mit seiner Unihausarbeit nicht rechtzeitig fertig geworden ist, besser damit erklären, dass er in das starre deutsche Bildungssystem nun mal so wenig hineinpasse wie in ein Prokrustesbett.
Wie bei prokrastinieren liegt der Reiz von Prokrustesbett an seinen vielen harten Konsonanten, von denen zwei mitten im Wort sogar effektvoll lautmalend aufeinanderfolgen. Es klingt unangenehm und bezeichnet Unangenehmes – eine seltene Einheit von Klang und Vorstellunginhalt.
Prokrustesbett gehört wie Ödipuskomplex und Sisyphusarbeit zu den Wörtern, die uns »The Tyranny of Greece Over Germany« (›Die Tyrannei Griechenlands über Deutschland‹) bescherte – so nannte die britische Germanistin E. M. Butler 1935 ihr Buch, in dem sie analysiert, wie sich die Deutschen jahrhundertelang freiwillig der kulturellen Herrschaft der alten Griechen unterwarfen. Den Anfang machte Johann Joachim Winckelmann, der im 18. Jahrhundert folgenschwer die »edle Einfalt, stille Größe« der griechischen Kunst idealisierte und damit einer wirkmächtigen Reihe von Griechenschwärmern den Kurs wies – von Goethe und Schiller über Hölderlin und Heine bis zu Nietzsche; den damals gerade erst verstorbenen George hatte Butler noch nicht auf dem Radar.
Doch eigentlich begann die Griechenherrschaft über Deutschland schon viel früher. Nämlich am 28. August 1518. Da hielt der erst 21-jährige Philipp Melanchthon, den Martin Luther an die Universität Wittenberg geholt hatte, seine Antrittsvorlesung »De corrigendis adolescentiae studiis«. In ihr entwarf er ein Programm zur Reform der höheren Bildung, in der das Studium griechischer Texte in der Originalsprache eine gewichtige Rolle spielen sollte. Zunächst für den protestantischen Teil des deutschen Sprachgebiets, dann auch für katholische Schulen wurde Melanchthons Vorstellung wegweisend. Der junge Mann prägte entscheidend das, was bis heute humanistische Bildung heißt und zu der, wenn man es ernst meint, unabdingbar Altgriechischunterricht gehört. Wer es sich leichter machen will, für den reicht die Lektüre von Gustav Schwabs »Sagen des klassischen Altertums«.
In beiden Fällen macht man die Bekanntschaft mit dem Riesen Prokrustes (›der Gliedausrenker‹), einen Sohn des Meeresgottes Poseidon, der als Wegelagerer nördlich von Athen Wanderern auflauerte. Scheinheilig bot dieser antike Serienkiller arglosen Reisenden eine Übernachtungsmöglichkeit an. Lagen sie erst einmal auf seinem Bett, hackte er ihnen die Gliedmaßen ab, die über die Bettkante hinausragten. Wenn die Schlafgäste zu klein waren, hämmerte und streckte er sie auf einem Amboss, bis sie passten. Dies trieb er so lange, bis der mythische Held Theseus ihn tötete.
In den 1830er-Jahren wurde dann das Wort Prokrustesbett geprägt. Die Horrorstory vom Riesen mit dem Hackebeil war im Deutschland des 19. Jahrhunderts so bekannt, dass ein Satireblatt wie die »Berliner Wespen« 1878 Bismarck als Prokrustes darstellen konnte, der mit dem Sozialistengesetz der zu groß gewordenen Freiheit die Beine abhackt. Das verstanden damals alle halbwegs Gebildeten sofort.
Heute ist die humanistische Bildung im Schwinden; Altgriechisch lernen nur noch sehr wenige im Gymnasium. Das ist nun Ihre Chance, sich mit dem Prokrustesbett ins rechte Licht zu rücken. Gegenüber den vielen griechischen und pseudogriechischen Allerweltswörtern wie Philharmonie oder hysterisch, von denen unser Wortschatz nur so wimmelt und die oft auch von weniger Gebildeten benutzt werden, hat diese Zusammensetzung aus einem mythischen Namen und einem deutschen Grundwort den Vorteil, dass sie tatsächliche Kenntnisse der griechischen Welt elegant andeutet. Sie wissen ja nun, was es mit Prokrustes auf sich hatte, und sollten den Gebrauch dieses Wortes nicht länger prokrastinieren.