In den »Gothaischen Gelehrten Anzeigen« wirbt 1781 der Gießener Universitätsbuchhändler J. Chr. Krieger für einen »Juristischen Almanach für 1782«, der auch einen Aufsatz über »Chikanen und Cabalen, oder Fragmente zu einer künftigen Rabulistik« enthalte. Zu diesem Zeitpunkt existierte schon eine Weile das Wort Rabulist, das Adelung in seinem Wörterbuch so definiert: »[E]in geschwätziger und dabey ränkvoller Sachwalter, welcher den Sinn des Gesetzes nach seinem Vortheile zu drehen weiß; ein Zungendrescher. […] Es ist aus dem mittlern Lat. rabulare, viel leeres Geschrey vor Gericht machen, welches wieder von dem Lat. Rabula, ein Zungendrescher, Rabulist, abstammet.« Adelung nennt zudem das Wort Rabulisterey, das älter ist als das gleichbedeutende Rabulistik und in einem um 1700 anonym veröffentlichten Lexikon namens »Summarische Geographie und Regenten-Saal« so erklärt wird: »Rabulisterey / böser Advocaten Gewäsche / List und Betrug. ars rabulistica.«
Alle drei Wörter gehörten, wie deutlich erkennbar, zunächst dem Wortschatz der Juristen an. Im 19. Jahrhundert wurden sie auf ›substanz- und verantwortungslose politische Rede‹ ausgedehnt. In den Verhandlungsprotokollen der Reichstage des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches erscheint Rabulistik als ein ausgesprochen abwertendes Wort, mit dem natürlich nur die Argumentation politischer Gegner belegt wird. Der Online-Duden erklärt Rabulistik heute mit ›Argumentations-, Redeweise eines Rabulisten; Spitzfindigkeit, Wortklauberei‹. Rabulist wiederum wird definiert als ›[…] Person, die in spitzfindiger, kleinlicher, rechthaberischer Weise argumentiert und dabei oft den wahren Sachverhalt verdreht‹.
Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki wies darauf hin, dass Rabulistik während der NS-Zeit ein antisemitisches Schimpfwort gewesen sei. In einem Interview für die Rezensionsseite »literaturkritik.de« berichtet er:
Ich habe das Institut für Zeitgeschichte in München angerufen und gebeten nachzuforschen, ob mein Eindruck stimmt, dass das Wort Rabulistik während des Dritten Reiches von Goebbels benutzt worden ist, die haben alles im Computer. Das Institut hat mir am nächsten Tag geantwortet: 16-mal in den Reden, 15-mal in den Tagebüchern taucht das Wort »rabulistisch« bei Goebbels auf. So ungefähr. Und meine Frage war dann: In welcher Verbindung? Immer dieselbe: jüdisch-rabulistisch. Jüdisch-marxistisch-rabulistisch. Es war ein antisemitischer Ausdruck.
Eine eigene Recherche bestätigt zwar die Verwendung bei Goebbels nicht – weder Rabulistik noch rabulistisch sind in seinen Reden nachzuweisen –, doch ist der antisemitische Gebrauch in der NS-Presse klar belegbar. 481-mal wird Rabulistik zwischen 1933 und 1945 in Druckwerken, die im »Deutschen Zeitungsportal« digitalisiert sind, verwendet. Und tatsächlich ist dort häufig die Rede von zum Beispiel (typisch) jüdischer Rabulistik. Die Behauptung, Rabulistik sei etwas typisch Jüdisches, lässt sich bis zu einem der Urväter des modernen Antisemitismus zurückverfolgen. Houston Stewart Chamberlain schreibt 1899 in »Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts«:
Schlimmer noch als das Handelsmonopol der Phönicier wäre das Religionsmonopol der Juden gewesen; unter dem bleiernen Druck dieser geborenen Dogmatiker und Fanatiker wäre jede Denk- und Glaubensfreiheit aus der Welt entschwunden; die platt-materialistische Auffassung Gottes wäre unsere Religion, die Rabulistik unsere Philosophie gewesen.
Wer das klingende Wort heute noch verwenden will, sollte sich des antisemitischen Aspekts seiner Geschichte bewusst sein. Das galt offenbar nicht für den Literaturkritiker, der dem Autor Arnold Grünberg 2014 im Deutschlandfunkt bescheinigte, die Stärke seines Romans »Der jüdische Messias« sei »diese Rabulistik, dieses Auf-den-Kopf-Stellen politisch korrekten Verhaltens«.