Ratio

Die Ratio kennen wir aus der Sphäre philosophischer Diskussionen und der Bildungssprache, die Ration von Wandertagen und die Eiserne Ration vom deutschen Militär. Doch die Schreibweise beider Wörter wurde erst im 18. Jahrhundert sauber getrennt. Bis dahin schrieb man auch das philosophische Wort oft mit n am Wortende, vermutlich unter dem Einfluss flektierter lateinischer Formen wie dem Genitiv rationis.

Das Wort hat im Latein einen weiten Bedeutungshorizont: ›Rechnung; Vernunft, Einsicht, Denkvermögen, Vernunftgrund, Grund; Verhältnis; Beschaffenheit, Natur; Methode, Art und Weise; Gesetzmäßigkeit, Prinzip‹. Im 16. Jahrhundert tauchte es in deutschen Texten auf, oft noch als Zitatwort mit lateinischer Beugung. In einem Gutachten von 1590 zum Exorzismus bei der Taufe wirft der Theologe Polykarp Leyser der Ältere seinen Gegnern vor, »das diese ihre ratio lauter lügen sey«. Hier wird Ratio in dem heute veralteten Sinne von ›Vernunftsargumente, -gründe, vernünftige Überlegungen‹ verwendet. In der Bedeutung ›Vernunft, Einsicht, Denk-, Urteilsvermögen‹ wird Ratio ebenfalls schon seit dem 16. Jahrhundert gebraucht.

Häufig steht in politischen Schriften das Wort ratio status synonym zur heutigen Staatsräson. 1700 liest man in einer bearbeiteten Version von Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphausens Bestseller-Roman »Die asiatische Banise«: »Ratio Status ist die eintzige Richtschnur grosser Herren / und hat die Gerechtigkeit zur Stieff-Schwester.« Eine erste Verdeutschung von ratio status war Staatsration. Erst im 18. Jahrhundert setzte sich durch den immer stärker werdenden französischen Einfluss Staatsräson durch.

Im selben Jahrhundert wurde Ratio als Gegenwort zu theologischen Begriffen wie Glaube, Offenbarung, Dogma zum Schlüsselbegriff der Aufklärung, die auf die Selbstständigkeit der Vernunft pocht. In der Folge kam es zu einem zunehmenden Gebrauch der daraus abgeleiteten Adjektive rational und irrational und vor allem des Begriffes Rationalismus als Bezeichnung für eine von der Vernunft geleiteten Denkrichtung. Diese wird 1788 von Kant in seiner »Kritik der praktischen Vernunft« definiert: »Der Empirism gründet sich auf einer gefühlten, der Rationalism aber auf einer eingesehenen Nothwendigkeit.«

Erst seit dem 19. Jahrhundert sprechen wir von einer ultima ratio als ›letztes Mittel, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt‹. Diese Wendung hat die vielleicht interessanteste Geschichte von allen mit ratio zusammenhängenden Bildungen. Sie soll in der Form ultima ratio regum (›letztes Mittel der Könige‹) auf den Kanonen des Sonnenkönigs Ludwig XIV. eingraviert gewesen sein. Nachweislich findet sich der Spruch auf Spanisch jedoch schon im zweiten Akt von Calderóns vor 1664 verfasstem Schauspiel »En la vida todo es verdad y todo mentira«. Dort steht: »[Ú]ltima razón de reyes / son la pólvora y las balas.« (›Letzte Mittel der König sind das Schießpulver und die Kugeln‹).