Die Geschichte dieses Wortes hat zwei Stränge; der ältere ist vom Französischen beeinflusst, der jüngere vom Englischen. Im 17. Jahrhundert wurde das Wort aus dem Französischen entlehnt, wo réaliser das Gleiche bedeutet wie heute unser deutsches Verb: ›etwas, einen Plan, eine Idee oder Ähnliches in die Tat umsetzen‹. 1650 bringt Georg Philipp Harsdörffer als Beispiel für »Makkaronische Dichtung« (›Nudelverse‹), einen Studentenulk, bei dem in irrwitzigster Weise Fremdwörter gereimt werden:
Sol eur mentalconcept sich recht realisiren,
mit à la mode Red und Reputation,
so gourmandiret ihr der Wörter naifen Ton.
Interessant ist hier nicht nur das schöne Wort mentalconcept, der ganz modern nach dem Jargon aktueller Psychoratgeber klingt, sondern auch die reflexive Verwendung von realisieren. Häufiger war in den vier Jahrhunderten, die seit diesem Frühbeleg vergangen sind, der transitive Gebrauch des Verbs. Gottfried Benn etwa schreibt 1930 in »Der Aufbau der Persönlichkeit«: »Wir tragen die Reste und Spuren früherer Entwicklungsstufen in unserem Organismus, wir beobachten, wie diese Spuren realisiert werden im Traum, in der Ekstase und bei gewissen Zuständen der Geisteskranken.«
Unter dem Einfluss des Englischen steht dagegen der viel jüngere, erst seit dem 20. Jahrhundert nachweisbare Gebrauch des Verbs im Sinne von ›erkennen, einsehen, begreifen‹. Diese Verwendungsweise wurde von Sprachkritikern lange als besonders empörend dümmlicher Anglizismus kritisiert. Doch sie findet sich selbst bei Thomas Mann, dem man ja nachsagt, die deutsche Sprache nicht übel beherrscht zu haben. In seinem Tagebuch notiert Mann im März 1943, wie in ihm allmählich der Entschluss zu einem neuen Großroman reife (es wurde der »Doktor Faustus«): »Erst jetzt realisiere ich, was es heißt, ohne das Joseph-Werk zu sein, die Aufgabe, die in dem ganzen Jahrzehnt immer neben mir, vor mir stand.« Aber mit diesem Mann-Zitat kann das Wort in dieser Bedeutung kaum dem Bereich der Bildungssprache zugeschlagen werden. Bildungssprachlich ist allein die ältere Verwendung wie bei Benn.