Allgemein bekannt ist dieses neutrale Substantiv aus dem Biologieunterricht als Bezeichnung für den erhaltenen Rest eines weitgehend zurückgebildeten Organs. Rudimente beim Menschen sind beispielsweise das Steißbein als Rest der Schwanzwirbelsäule, die Körperbehaarung, die vom Fell übrig geblieben ist, und die Weisheitszähne als Erinnerung daran, dass ursprünglich alle höheren Säugetiere 44 Zähne besaßen.
Als das Wort im späten 16. Jahrhundert eingedeutscht wurde, bedeutete es zunächst das Gleiche wie lateinisch rudimentum (›Anfänge, Versuche, Ansätze‹). Beispielhaft dafür ist ein Satz in einem 1676 erschienenen Buch von Erasmus Francisci mit dem tollen Titel »Das eröffnete / Lust-Haus / Der Ober- und Nieder-Welt«. Dort beschreibt der barocke Polyhistor das Stoffliche: »Die Materi ist nicht / von Gott / geschaffen / als ein vollständiges / und unterschiedenes natürliches Ding; sondern vielmehr den natürlichen Sachen mit angeschaffen / und gleichsam ein Rudiment / oder Anfang / und Theil aller natürlichen Dinge.«
Zudem konnte und kann Rudimente im Plural bezogen auf das Erlernen eines Handwerks oder einer Sprache ›elementare Grundbegriffe, Anfangsgründe‹ meinen wie in die Rudimente des Lateinischen oder die Rudimente der Klempnerei. Den erwähnten medizinisch-biologischen Sinn nahm Rudiment erst im frühen 18. Jahrhundert an. Um 1850 findet sich schließlich die heute dominierende Bedeutung ›Überbleibsel, Bruchstück‹. Friedrich Christian Benedikt Avé-Lallemant berichtet 1858 in seinem Buch »Das deutsche Gaunerthum«:
An den beiden Ufern des Main, im Spessart und im Odenwalde hauste eine große aus den Rudimenten der Schinderhannesbande zusammengezogene Räuberhorde, in welcher Veit Krämer, Manne Friedrich (Philipp Friedr. Schütz), Hölzerlips (Georg Philipp Lang), Krämer Matthes (Matthias Oesterlein) insbesondere als Straßenräuber und Raubmörder sich auszeichneten.
Max Weber etablierte dann den Gebrauch von Rudiment für übrig gebliebene Elemente älterer sozialer Realitäten. Über eine bestimmte Art von Volksfesten in Indien schreibt er 1916/17 in seiner »Wirtschaftsethik der Weltreligionen«: »Sie werden mit Gesang, Tanz, Mimus, Konfetti und Rudimenten sexualorgiastischer Freiheiten begangen.«
Mittlerweile wird auch in Fachtexten der Biologie das Wort keineswegs mehr nur auf Reste älterer Organe bezogen. Im »Indikatorenbericht 2019 der Bundesregierung zur Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt« liest man über die »Phänotypische Erhaltungspopulationen« gefährdeter alter Nutztierrassen: »Diese Rassen können aus tierzuchtwissenschaftlicher Sicht nur noch als Rudimente verstanden werden, der kulturelle Wert solcher Rassen ist jedoch unbestritten.«