sibyllinisch

Der letzte König von Rom, Lucius Tarquinius Superbus, musste um 500 v. Chr. erfahren, warum man mit weisen Frauen lieber nicht um die Zukunft feilschen sollte. Eine alte Frau habe ihm neun Bücher mit Orakelsprüchen, aus denen man die Zukunft lesen könne, für einen horrenden Preis angeboten, lautet die Legende. Als der König zögerte, verbrannte die Sibylle – denn so wurden die Wahrsagerinnen in Rom genannt – drei der Bücher und verlangte die gleiche hohe Summe für die übrigen sechs. Der König knauserte immer noch, und so warf die Alte erneut drei Bücher ins Feuer. Schließlich entschloss sich der verunsicherte König, den geforderten Preis zu zahlen.

Die Bücher wurden nach der Vertreibung von Tarquinius und der Gründung der Republik zum festen Bestandteil des römischen Staatskultes. Man befragte sie in Krisensituationen, um Ratschläge für die notwendigen religiösen Riten zu erhalten. Abgefasst waren die Sprüche in griechischen Hexametern, sechshebigen daktylischen Versen, in denen auch die Werke Homers niedergeschrieben sind. Im Jahre 83 v. Chr. gingen die Bücher beim Brand des Jupitertempels verloren. Die praktisch gesinnten Römer ließen daraufhin einfach neue Bücher mit Sprüchen anfertigen, die man aus dem gesamten Mittelmeerraum unter anderem von anderen berühmten Sibyllen zusammentrug. Diese neue Sammlung blieb mindestens bis zum vierten nachchristlichen Jahrhundert im Gebrauch.

Da die Orakelsprüche, wie üblich in der Antike, in einem dunklen, zweideutigen Ton abgefasst waren, konnte das Adjektiv sibyllinisch im deutschen Bildungswortschatz des 18. Jahrhunderts die Bedeutung ›rätselhaft, geheimnisvoll‹ annehmen. Caroline von Wolzogen nutzt es 1798 in ihrem Roman »Agnes von Lilien« noch im Sinne von ›nach der Art einer Sibylle‹, ohne die Dunkelheit der getanen Prophezeiung zu betonen: »Die gute treue Rosine umarmte mich mit tausend Freudenthränen, hatte mit sibyllinischer Weisheit vorhergesagt, wie es kommen würde, und bediente uns mit unerschöpflicher Redseligkeit.« Da die genannte Rosine eine schlichte Bedienstete ist, bekommt das Wort hier einen eher ironischen Ton. Bei Goethe ist dann 1811 in »Dichtung und Wahrheit« vom »sibyllinischen Stil« einer Jugendschrift die Rede. Als Vorbild nennt er den Schriftsteller und Philosophen Johann Georg Hamann, der wegen seiner oftmals dunklen Sprache bekannt war.

Heute ist sibyllinisch längst ein massenhaft gebrauchtes Zeitungswort der Intelligenzblätter. In der »Zeit« wurden in den vergangenen Jahren unter anderem Äußerungen der Fußballtrainer Jürgen Klopp und Dick Advocaat sowie der Dirigenten Riccardo Muti und Mariss Jansons als sibyllinisch bezeichnet.