Sybaris, eine von griechischen Kolonisten an der Ostküste Kalabriens gegründete Stadt, war das Schlaraffenland der Antike. Die Genusssucht der Einwohner, die die Erträge des fruchtbaren Umlandes und der Handel reich gemacht hatte, war sprichwörtlich. In einer von den vielen »Sybaritischen Geschichten«, die ein halbes Jahrtausend vor Christi Geburt im Umlauf waren, ist die Rede von ganzen Strömen von Fleisch, gebratenem Fisch und Käsekuchen, die auf dem Stadtgebiet flossen. Ob mit dieser Völlerei der Mangel an Siegen bei den Olympischen Spielen zusammenhing, den man unter den anderen griechischen Stadtstaaten als beschämend empfand, bleibt dahingestellt. Selbst die Erfindung von Badewanne und Nachttopf, die die alten Griechen offenbar als dekadente Accessoires empfanden, sagte man den Sybariten nach. Den Nachttopf sollen sie vor allem gebraucht haben, um bei Gelagen nicht ihren Platz verlassen zu müssen.
Das Legendenhafte solcher Erzählungen konnte beliebig ausgeschmückt werden, nachdem die Stadt 510 v. Chr. in einem Krieg vollständig zerstört worden war. Sybaris wurde nun – ähnlich wie Atlantis – zum Inbegriff einer Kommune, in der man Zucht, Gemeinsinn und Ehrfurcht vor den Göttern so vernachlässigt hatte, dass sie als Strafe ihren Untergang erleben musste. Alsbald wurde der Name der Sybariten zum Synonym für Lust und Völlerei: So gebrauchte Aristophanes sybaritikos in seinen Lustspielen, und bei den Römern war sybaritcus gleichbedeutend mit ›wollüstig‹. In den poetischen Briefen, die Ovid von seinem Verbannungsort Tomis am Schwarzen Meer schickte, zählt er zahlreiche Dichter auf, die Schlimmeres getan hätten als er, ohne deshalb ins Exil geschickt worden zu sein – darunter einen Mann, der kürzlich »sybaritica«, also schamlose erotische Gedichte, veröffentlich hatte.
In viele neuere europäische Sprachen gelangte sybaritisch durch die »Adagia« genannte Sammlung antiker Redensarten, die Erasmus von Rotterdam zwischen 1500 und 1533 in stets wachsendem Umfang veröffentlichte. Im Deutschen liest man zunächst die Wendung nach sybaritischer Art. So beschreibt Daniel Casper von Lohenstein in seinem Roman »Arminius« von 1689 die Verweichlichung der Römer:
Die Taffeln und die Köche waren nach Sybaritischer Art nicht nur mit Blumen überdeckt / alle Schüsseln und Gerüchte darmit überstreuet / alle Trinck-Geschirre mit Blumen-Kräntzen umbflochten /und der Wein mit Blumen vermischt; sondern man gieng auch so gar auf nichts / als Rosen; und denen Gästen waren zum Sitzen Küssen und Polster aus Rosen untergelegt; also daß dieser Ort mehr / als die Stadt Paläa der Götter Rosen-Tisch genennet zu werden verdiente.
Im 18. Jahrhundert wurde das alleinstehende sybaritisch bei Gottsched wie schon bei Ovid zur Beschreibung erotischer Literatur gebraucht. Zeitgleich nahm es auch den Sinn ›verweichlicht, überempfindlich, genusssüchtig‹ an, ohne notwendig auf antike Verhältnisse zu verweisen. Ebenso ist des maskuline Substantiv Sybarit als allgemeine Bezeichnung für einen genusssüchtigen Menschen seit dieser Zeit nachweisbar. Heute nennen der Duden und das DWDS sybaritisch »veraltet«, doch verschwunden ist es nicht. Die Historikerin Christina Morina schreibt 2017 in ihrem Buch »Die Erfindung des Marxismus« über Rosa Luxemburg: »Die musische, naturverliebte, sybaritisch-schwelgerische Seite, die an Luxemburgs Persönlichkeit bis heute bewundert wird, ist zugleich auch ihre erklärungsbedürftigste.« Der Satz beweist auch, dass bei den Menschen, die es noch gebrauchen, der abwertende Sinn des Wortes in Vergessenheit geraten ist, denn der Autorin ging es ja wohl nicht darum, Rosa Luxemburg zu schmähen.