tangieren

Dieses Verb ist ein faszinierendes Beispiel für ein Wort, das einmal von einem Autor benutzt wurde – als Hapaxlegomenon (›nur einmal belegtes‹), wie man in der Sprachwissenschaft Wörter nennt, die singulär bleiben –, und dann für drei Jahrhunderte in Vergessenheit geriet. 1571 erklärt Simon Roth in seinem Fremdwörterbuch »Ein Teutscher Dictionarius« tangiren mit »Berüren / anrüren / angreiffen«. Wir wissen nicht, warum Roth das Verb aufnahm, aber sein Titel verspricht, dass es hier um Wörter geht, die tatsächlich im Gebrauch und daher für Leser erklärungsbedürftig sind: »Ein Teutscher Dictionarius / dz ist ein außleger schwerer / unbekanter Teutscher / Griechischer / Lateinischer / Hebraischer / Wälscher und Frantzösischer / auch andrer Nationen wörter / so mit der weil inn Teutsche sprach kommen seind.« Doch bis heute konnte kein Sprachwissenschaftler das vom lateinischen tangere (›berühren, anrühren‹) abgeleitete Wort in irgendeiner anderen frühneuhochdeutschen Quelle finden. Erst im 18. Jahrhundert, knapp 300 Jahre nach Roth, gelangte das Wort als Fachterminus der Botanik, der Mechanik und der Mathematik ein zweites Mal ins Deutsche – diesmal, um zu bleiben.

Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts kommt tangieren auch in einer psychologischen Bedeutung vor, etwa bei Ludwig Feuerbach, der 1841 in »Das Wesen des Christentums« die schleichende Säkularisierung erklärt: »Der Mensch entschuldigt mit der Unerkennbarkeit Gottes vor seinem noch übriggebliebenen religiösen Gewissen seine Gottvergessenheit […]; er greift seine Existenz nicht an; er läßt ihn bestehen. Allein diese Existenz tangirt und incommodirt ihn nicht.« Dieser Gebrauch des Verbs ist heute am weitesten verbreitet. Das Duden-Universalwörterbuch definiert seinen Sinn mit ›jemanden in bestimmter Weise (innerlich) berühren, im Denken oder Handeln beeinflussen‹. Das DWDS nennt diesen psychologischen Gebrauch in Wendungen wie »Das tangiert mich nicht« mit einigem Recht »gespreizt«. Ironisch verwendet wird das Verb aber noch in der Wendung »Das tangiert mich peripher«, wo der zweifache Gebrauch entlegener Fremdwörter die Distanz des Sprechers betonen soll. Wir erinnern uns an das, was in der Einleitung über Bildungssprache als »Sprache der Distanz« gesagt wurde.

Es gibt aber eine Verwendung im Jargon der Politik, die man als fach- oder sondersprachlich vom stilistischen Verdammungsurteil der genannten Lexikografen ausnehmen kann. Willy Brandt schreibt in seinen »Erinnerungen« über die Europäische Union: »Österreich hat im Frühsommer 89 sein Beitrittsgesuch eingereicht, es allerdings an die Voraussetzung geknüpft, daß seine Neutralität nicht tangiert werde.« Ähnlich nutzten das Verb unter anderem auch Helmut Kohl und Richard von Weizsäcker – und die Berichterstatter in Medien wie dem »Spiegel« taten es den Akteuren der hohen Politik gleich.