Dem Adjektiv hört man schon an, dass es ursprünglich aus der medizinischen Fachsprache stammt, wo es ›ansteckend, giftig‹ meint. Dementsprechend warnt in der neunten Auflage der »Schatz-Kammer Medicinisch- und Natürlicher Dinge« von 1737 der Arzt Johann Jacob Woyt vor Blutegeln,
welche einen grossen Kopff haben, grün und gläntzend sehen, und derer Rücken wollicht und mit dunckeln Linien gezeichnet ist, und welche sich in Pfützen und faulen Wassern aufhalten; denn solche pflegen etwas virulentes an sich zu haben, und werden insgemein für gifftig gehalten.
Politisch aktive Ärzte wie Rudolf Virchow oder Wilhelm Loewe trugen den Terminus, der auf lateinisch virulentus (›giftig‹) zurückgeht, schließlich in den weiteren öffentlichen Sprachgebrauch. Letzterer erklärt 1874 in einer Reichstagsdebatte über die Pockenimpfung, dass die gefährliche Kraft des Virus von Infektion zu Infektion zunehme, »die Ansteckung wird also viel virulenter«.
Die heutige bildungssprachliche Bedeutung ›sich gefahrvoll auswirkend, drängend, aus der Latenz hervorbrechend‹ ist seit den 1930er-Jahren belegt; diese sei, so vermuten Alan Kirkness und sein Team im »Deutschen Fremdwörterbuch«, unter dem Einfluss des sinngleichen englischen virulent entstanden. Heinrich Mann schreibt in seinen 1943/44 im amerikanischen Exil verfassten Memoiren »Ein Zeitalter wird besichtigt«, die deutsche Barbarei im Nationalsozialismus, sei »Wirklichkeit geworden auf Grund einer uralten, jetzt akuten, virulenten und aggressiven Mißbilligung der gesamten Geschichte, der Kultur – des Christentums und des Mittelmeeres«.
Ebenfalls zum Bildungswortschatz gehört das ursprünglich medizinische, schon bei Woyt 1737 nachweisbare feminine Substantiv Virulenz. Der Philosoph Arnold Gehlen gebraucht es 1956 in seinem Buch »Urmensch und Spätkultur« auch im Sinne von ›kreative Unruhe, Neugier‹: »Eine weitere Eigenschaft des menschlichen Antriebslebens ist hier einzurechnen, nämlich seine chronische nichtpausierende Virulenz.« Häufiger wird es jedoch synonym zu ›politische Bedeutsamkeit‹ verwendet. So erklärt die »Zeit«, ein Festivalbeitrag von Mario Bellocchio habe »politische Virulenz und aktuelle Relevanz« in die Filmfestspiele von Venedig gebracht, und den Drehbuchautoren der Marvel-Filme wird versichert, sie könnten sich auf die »Virulenz des X-Men-Themas eigentlich verlassen«.