Tom starrte in eine Reihe wütender Gesichter. Nathan, Malvels Soldat, beugte sich über den verletzten jungen Mann. Der Kuhdieb hatte die Augen geschlossen und stöhnte. Seine Gesichtshaut war grau und sein Rücken war völlig zerkratzt. Madara, die Höllenkatze, hatte die Haut mit ihren Zähnen und Krallen zerrissen. Blut war auf den Boden zwischen den Felsen getropft.
„Glaubst du, er wird überleben?“, fragte Elenna, aber Nathan warf ihr nur einen kalten Blick zu. Ihr Wolf Silver drückte sich an sie und sie streichelte ihm über den Rücken. „Madara war so stark“, fuhr sie fort. „Er hatte keine Chance.“
„Du lügst!“, sagte Nathan. „Ihr wart das! Nehmt die Hände hoch.“
Tom folgte dem Befehl. Er wünschte, sie hätten Madara besiegt, bevor sie den Jungen so übel zurichten konnte. Das Portal am Himmel hatte sich geschlossen, nachdem Tom Madara dorthin zurückgeschickt hatte, wo sie hergekommen war. Jetzt war der Himmel über ihnen wieder glatt und leer. Es gab also keine Möglichkeit, den Soldaten zu beweisen, was wirklich passiert war.
Tom hatte genug von diesem Land. Tavania war seinem Heimatland Avantia sehr ähnlich. Und dennoch war es auf viele Arten ganz anders. Zum einen war alles abweisend und unwirtlich. Zum anderen saß Malvel anstelle des guten Königs auf dem Thron. Tom und Elenna kämpften nicht nur gegen den bösen Zauberer und die Biester, sondern sie führten auch einen Kampf gegen das Land selbst, das sich gegen sie gewendet zu haben schien.
Plötzlich wurde es hinter ihnen unruhig. Tom wirbelte herum, wodurch er seinen Hengst Storm erschreckte. Seine Hand wanderte automatisch zum Schwertgriff, bevor ihm wieder einfiel, dass man es ihm abgenommen hatte.
„Hände hoch!“, brüllte Nathan.
Ein älterer Mann drängte sich nach vorn. Sein ausgezehrtes Gesicht verzog sich vor Schmerz, als er den Jungen auf dem Boden sah. Tom erkannte ihn sofort. Er hatte den Mann gestern getroffen, als sie sich verkleidet unter die Soldaten gemischt hatten, um nach Madara zu suchen.
„Was habt ihr mit meinem Sohn gemacht?“, fragte der Mann.
Ein Raunen ging durch die Menge. Die Soldaten hatten nicht gewusst, dass der Vater des Jungen unter ihnen war. Tom hörte, wie noch mehr Schwerter gezogen wurden und jemand rief: „Wir sollten sie sofort bestrafen!“
„Wir haben nich–“, begann Elenna.
Ein Stöhnen aus dem Mund des Jungen unterbrach sie. Blut sickerte aus den schrecklichen Wunden, die Madara ihm mit ihren Krallen zugefügt hatte.
Der alte Soldat, sein Vater, kniete sich neben ihn und nahm seine Hand. „Ludor“, sagte er. „Sprich mit mir. Was haben die beiden mit dir gemacht?“
Der Junge krampfte sich vor Schmerz zusammen und der alte Soldat sah zu Tom hoch. Nachdem seine Augen über Toms blutige Hände und Kleidung gewandert waren, flackerte Wut in seinem Blick auf.
„Wir waren es nicht“, sagte Tom.
„So etwas würden wir niemals tun!“, erklärte Elenna.
„Lügen!“ Das Misstrauen in der Stimme des Mannes war nicht zu überhören. „Nichts als Lügen!“ Er sprang auf die Füße, zog sein Schwert und richtete es auf Tom. „Ich sollte dich sofort töten“, sagte er.
Tom stand vollkommen still. Die Klinge war nur wenige Millimeter von seiner Kehle entfernt.
„Nein, Erco“, warnte Nathan. „König Malvel will die beiden lebendig. Wir bekommen eine Belohnung, wenn wir sie zum Palast bringen.“
Doch Erco schien ihn nicht zu hören. Er packte sein Schwert fester und presste die Spitze gegen Toms Hals. Tom fühlte einen stechenden Schmerz, dann rann Blut an seiner Haut hinunter.
„Erco“, sagte Nathan verzweifelt. „Wir müssen dem König gehorchen. Es lohnt sich.“
Erco biss die Zähne zusammen und senkte das Schwert. Tom sah die Angst im Gesicht des alten Soldaten.
„Fesselt sie“, befahl Nathan den Männern.
Silver knurrte und fletschte die Zähne, als die Soldaten mit einigen Seilen näher kamen. Ein Soldat hob sein Schwert, bereit, nach dem Wolf zu schlagen.
„Nein!“ Elenna schrie entsetzt auf. „Alles ist in Ordnung, Silver. Bleib ruhig und komm her.“
Silver wehrte sich nicht mehr, er knurrte noch, gehorchte aber. Tom und Elennas Waffen wurden von einem jungen Soldaten namens Peter fortgetragen.
Mit Schwertspitzen im Rücken wurden sie zu einem Viehwagen gedrängt. Dort banden die Soldaten raue Seile um ihre Hand- und Fußgelenke und stießen sie auf das Stroh.
Tom wehrte sich nicht. Der richtige Zeitpunkt und der passende Ort für eine Flucht würden schon noch kommen. Zwei Soldaten knebelten Silver und banden ihn am Wagen fest. Storm wurde nach vorn geführt, wo er nervös schnaubte.
Erco legte seinen Sohn neben Tom ins Stroh. Die Augen des Jungen öffneten sich flackernd. „Sie nicht …“, murmelte er. „Riesige … weiße Katze …“
„Schhh, Ludor“, sagte Erco. „Ruh dich aus. Du weißt nicht, was du sagst.“
Von vorne ertönte plötzlich ein Schrei. Storm war auf die Hinterbeine gegangen und wirbelte mit seinen Vorderhufen durch die Luft.
Tom stützte sich auf seine Ellbogen. „Storm!“, rief er. „Alles wird gut. Vertraue mir!“
Als er Toms Stimme hörte, beruhigte sich Storm und ließ es zu, dass die Soldaten ihn vor den Karren spannten.
Als Nächstes hörte Tom eine Peitsche durch die Luft zischen und auf Storms Rücken treffen. Der Hengst wieherte vor Schmerz.
„He!”, rief Tom. „Hört auf damit!”
„Du kannst uns keine Befehle geben“, knurrte der Soldat, der den Wagen lenkte. Er ließ die Peitsche erneut knallen und der Karren kam mit einem Ruck in Bewegung. Silver rannte neben den Rädern her. Die Seilenden baumelten von seinem verbundenen Maul herab. Seine Augen waren fest auf Tom und Elenna gerichtet.
„Armer Silver“, sagte Elenna. „Das Seil ist zu fest.“
Der Wagen fuhr und Tom ließ sich ins Stroh zurücksinken. Er schloss die Augen. Bald würden er und seine Freunde Malvel übergeben werden.
„Meine Mission wird scheitern“, dachte er. „Nach allem, was wir durchgemacht haben, wird Malvel gewinnen.“