Je tiefer Tom und seine Freundin in den Nebeldschungel vordrangen, desto größer wurde der Schaden, den die Blitzeinschläge verursacht hatten. Überall lagen umgestürzte, verkohlte Bäume. Das Unterholz, das bis auf den nackten Boden heruntergebrannt war, rauchte und glühte rot.
Sie fanden noch mehr tote Tiere, die beim Sturz von den Bäumen ums Leben gekommen waren. „Kein Wunder, dass die anderen Dschungelbewohner so panisch auf der Flucht gewesen sind“, dachte Tom.
Wut erfüllte ihn und gab ihm neue Kraft. Sie würden das Biest besiegen oder im Kampf sterben.
Doch vom Biest fehlte noch immer jede Spur. Tom wunderte sich. Versteckte es sich? Für ein Wesen mit solchen Superkräften, wie sie Nergato besaß, war das ungewöhnlich. Vielleicht lag er irgendwo auf der Lauer und wartete mit seinen spitzen Reißzähnen auf sie.
Sie traten auf eine Lichtung hinaus. Eine Ansammlung von grauen, feucht glänzenden Felsen lag vor ihnen. Üppige Farne wuchsen in Spalten und Nischen.
„Wo ist er?“, wisperte Elenna.
Tom sah sich um. Im Felsgestein konnte er ungefähr zehn bis zwölf dunkle Höhleneingänge entdecken. Die Öffnungen waren so riesig, dass ein Pferdekarren hineingepasst hätte.
„Er versteckt sich vielleicht in einer der Höhlen“, sagte Tom zu Elenna und ging auf den größten Eingang zu. „Ruf mich, wenn du etwas entdeckst.“
Die erste Höhle wurde lebendig, als Tom einen Fuß hineinsetzte. Eine Familie von Mäusen flüchtete nach draußen und wuselte so schnell um Toms Füße herum, dass er erschrocken in die Höhe sprang. Als sein Herz nicht mehr wie verrückt hämmerte, musste Tom lächeln. Nergato hatte also nicht alle Dschungelbewohner vertrieben. In der Höhle stellte er fest, dass sie für ein riesiges Biest wie Nergato doch zu klein war. Also ging er zur nächsten. Der Schmerz in seiner Hand ließ ihn zusammenzucken. Tom wusste, dass seine verletzte Hand Nergato einen Vorteil brachte. Er wechselte das Schwert in die linke Hand und schwang es probeweise ein paarmal im Kreis herum. Es war nicht perfekt, aber es musste genügen. Er hatte schon einmal mit links gekämpft. Damals in Gwildor, als Rapu seine Schwerthand vergiftet hatte.
„In den Höhlen da drüben ist nichts“, berichtete ihm Elenna, die zu ihm gekommen war. „Warst du schon in dieser hier?“
Seite an Seite betraten die Freunde den Höhleneingang. Es ging ein Stückchen nach unten, dann öffnete sich eine weite Halle vor ihnen, deren Decke sich drei bis vier Stockwerke hochwölbte. Es fühlte sich an, als würden sie im Mund eines Riesen stehen. Denn die Stalagmiten auf dem Boden und die Stalaktiten an der Decke sahen aus wie Zähne.
Diese Höhle hatte die richtige Größe für Nergato. Tom suchte sich einen Weg zwischen den Stalagmiten und den Stalagtiten hindurch, die zum Teil bis fast zum Boden reichten. Doch er sah das Biest nirgendwo.
Auch die restlichen Höhlen waren leer. Als sie aus der letzten Höhle heraustraten, die so schmal gewesen war, dass Tom sich kaum hineinquetschen konnte, setzte Elenna sich hin.
„Das ist wie ein Versteckspiel“, sagte sie ärgerlich.
Die Luft war schwüler geworden. Nun fing es an zu regnen und die Tropfen fielen auf Toms Gesicht. Am Himmel entdeckte er dunkle Sturmwolken. Das Portal zitterte und pulsierte hoch über ihnen.
„Sollen wir in der Höhle Schutz suchen?“, fragte Elenna.
„Nein, das Biest zu finden ist wichtiger“, entschied Tom. „Wir müssen zurück in den Wald.“
Der Regen wurde stärker. Eigentlich hätte er erfrischend sein sollen, aber die Dschungelhitze machte ihn warm und unangenehm. Wenigstens wusch er den stinkenden Schlamm aus ihren Kleidern.
Sie kamen an besonders dicht stehenden Bäumen vorbei, deren Äste sich weit hoch ins neblige Blätterdach erhoben. Da lief plötzlich ein Schauer über Toms Arme. Er blickte an sich herunter und sah, dass sich die Härchen auf seinem Arm aufgerichtet hatten.
„Tom, deine Haare“, keuchte Elenna. „Sie stehen ab!“
„Deine auch“, erwiderte Tom. Elennas Haar bewegte sich wie vom Wind erfasst. Aber die Luft war still. Toms Herzschlag beschleunigte sich. „Nergato ist in der Nähe“, murmelte er. „Die Energie kommt von ihm, Elenna. Ganz sicher.“
Tom hielt den Atem an, als er vor ihnen einen blauen Schimmer zwischen den Pflanzen entdeckte. Nergato hatte seinen glänzenden Körper um einen Baumstamm gewickelt und beobachtete sie aus seinen stechenden Augen. Seine Zunge schoss vor und schmeckte die Luft. Sein Zischen klang wie das Rascheln von Blättern.
Regen tropfte von oben herunter. Es rauchte, als er auf dem Biest landete. Dampfwölkchen stiegen auf und vermischten sich mit dem Nebel. Über den Himmel zuckten Blitze.
Dann hatte Tom plötzlich eine Idee. „Wir locken ihn raus“, sagte er. „Wenn wir ihn aus dem Schutz der Bäume lotsen können, wird er vielleicht von einem der Blitze getroffen.“
Tom und Elenna gingen zurück zu der Lichtung mit den Felsen. Elenna zielte die ganze Zeit mit der Armbrust auf den Kopf des Biests und Tom hielt sein Schwert bereit.
Nergato blinzelte langsam, dann wickelte er sich vom Baumstamm und glitt auf die Lichtung. Er fächerte regenbogenfarbene Hautfalten auf beiden Seiten seines Kopfes auf. Über ihnen grollten die Sturmwolken. Tom begriff plötzlich, dass nicht nur das Biest, sondern auch Elenna und er vom Blitz getroffen werden konnten.
In diesem Moment zuckte ein Lichtstrahl über den Himmel. Ein weiß glühender Blitz schoss durch den Nebel und traf Nergato im Nacken.
„Wir haben ihn!“, rief Elenna.
Doch das Biest schien auf einmal noch mehr zu schimmern als zuvor. Nergatos Augen leuchteten wie glühende Kohlen. Zum Angriff bereit bäumte er sich auf.
„Nein!“ Tom keuchte. Sie hatten einen Fehler gemacht. „Die Blitze schaden ihm nicht, sie machen ihn noch stärker!“