»Mau.«
Erschrocken fahre ich herum und blinzele die große, schwarze Katze an, die soeben auf die Balustrade der Dachterrasse gesprungen ist. Kopfschüttelnd umfasse ich ihren Brustkorb und setze sie auf dem Gartenstuhl neben mir ab. Selbst mit der Geschicklichkeit einer Katze sollte man so hoch oben nicht auf Umrandungen herumlaufen, wenn man nicht wirklich über sieben Leben verfügt.
»Musst du dich immer so anschleichen?«, frage ich – rein rhetorisch, da ich weiß, dass Taro mir nicht antworten kann. Nicht heute Nacht. Denn in Vollmondnächten ist mein Bruder ganz dem tierischen Teil seiner Natur als Wertier unterworfen. In fast allen anderen Nächten hingegen kann er seine Erscheinung frei wählen. Mit einer Ausnahme: Der Neumond unterbindet seine besondere Magie und macht ihn für vierundzwanzig Stunden menschlich.
Während ich also auf der Terrasse stehe und mit Wasser gefüllte Phiolen im Mondlicht wende, beobachtet mich Taro mit zur Seite geneigtem Kopf und zuckt ab und an mit einem Ohr. Es gab schon Momente, da habe ich ihn um seine gestaltwandlerischen Fähigkeiten beneidet, aber Vollmondnächte und der darauf folgende Tag gehören nicht dazu. Selbst wenn manche Menschen von übernatürlichen Dingen fasziniert sind, passen Wertiere selten in ihr Weltbild. – Und so hält mein Bruder diesen Teil seines Ichs geheim. Er achtet immer sehr penibel darauf, dass bloß kein Katzenhaar in unserer Wohnung oder an der Kleidung zu finden ist. Nichts, was auch nur die harmloseste Rückfrage provozieren könnte. Normale Menschen fänden es vermutlich nicht abwegig, mal ein Katzenhaar irgendwo zu haben, aber Taro ist eben Taro. Und wenn er es so wünscht, bewahre ich sein Geheimnis.
Vielleicht habe ich auch nur so gut reden, weil ich mit dem Ausleben meiner Begabung momentan kaum Konsequenzen zu befürchten habe, außer vom Rest der Welt als verschroben abgetan zu werden. Ein Wertier hingegen könnte in der Tat einige Wissenschaftler auf den Plan rufen, die sich Taros DNA gerne mal im Labor ansehen würden. Und selbst wenn es heutzutage weitaus bessere Untersuchungsmethoden gibt, als jemanden in feine Scheibchen zu schneiden, um ihn zu mikroskopieren, kann ich verstehen, dass er ein halbwegs normales Leben vorzieht.
Dad, der recht wenig zu unseren Begabungen beigetragen hat – außer einer sehr interessanten Wahl seiner Sexualpartnerinnen natürlich –, unterstützt uns bei allem, was wir tun. Wenn er gerade mal nicht verreist ist, hilft er Taro beim Putzen der Wohnung und seinen Studienprojekten und mir beim Fotografieren der Sachen für meinen etsy -Shop. Er steht auch dann zu uns, wenn ich Dinge tue, die andere Menschen seltsam finden. Zum Beispiel bei herbstlichen Temperaturen Kristalle, Tarotkarten und Phiolen auf der Dachterrasse auslegen und Taro hinter dem Ohr kraulen, während er dem Mond ein leises Lied singt. Von wegen Katzenmusik – seine Melodie berührt etwas tief in mir. Etwas, was mich dazu bringt, kurz die Augen zu schließen. Farbige Explosionen in Purpur und Orange glimmen in meinem Inneren auf, während ich Taros Gesang lausche. Synästhesie nennen es die Wissenschaftler, wenn bei einem Sinneseindruck ein zusätzlicher Reiz ausgelöst wird. Es ist eine Spielart der Evolution, die in verschiedenen Varianten und Ausprägungen existiert. Bei mir ist es vor allem Musik, die Farbeindrücke hervorruft. Ebenso wie das Gen, das Taro zur Werkatze macht, wird auch die Synästhesie vererbt – nur eben sehr viel häufiger.
Ich lasse mich für ein paar Sekunden in Taros Welt entführen und kraule weiterhin sein Ohr. Er hat unglaublich weiches und seidiges Fell, aber er duldet Streicheleinheiten nur, wenn er an Vollmond ganz seiner tierischen Natur unterworfen ist. An den übrigen Tagen des Monats, an denen er sein Erscheinungsbild frei wählen kann, verwandelt er sich zurück, bevor meine Hand auch nur in seine Nähe kommt. Es gibt ohnehin nur wenige Menschen, denen er sich in seiner felinen Gestalt je gezeigt hat: unserem Dad, seiner Mom und mir. Mit seinen neunzehn Jahren hatte er laut eigener Aussage noch nie eine feste Freundin, obwohl sich einige junge Studierende der Akademie auf dem Flur nach ihm umdrehen. Eigentlich kein Wunder: Er hat Dads Größe und helle Augen geerbt, dazu den eher athletischen Körperbau seiner Mom und ebenso ihre dichten, dunklen Haare. Selbst meine beste Freundin Hazel, die normalerweise nicht zu Schwärmereien neigt, ist ihm und seiner zurückhaltenden Art verfallen. Auch wenn ich schwören könnte, dass in seinem Blick jedes Mal ein Funke aufglimmt, sobald er sie ansieht, weist er all ihre Annäherungsversuche ab. Dementsprechend geschmeichelt sollte ich mich wohl fühlen, dass er mich hier freiwillig besuchen kommt, obwohl im Lexikon unter dem Eintrag Einzelgänger bestimmt sein Name steht: Taro Takahashi.
»Du hast mir noch immer nicht verraten, wie sich die Verwandlung für dich anfühlt«, murmle ich und wende mich wieder den im Sternenlicht schimmernden Phiolen zu, um sie sacht zu drehen.
Dies ist eines meiner Rituale: Meinen Vorrat an Mondwasser aufstocken, weil sich das durch die Energie des Mondes belebte Wasser nun einmal nur an Voll- oder Neumond herstellen lässt. Das wäre eigentlich auch eine schöne Anekdote für den Livestream gewesen. »Hey, Hank. Wusstest du, dass Vollmondwasser kräftigend und Neumondwasser reinigend wirkt?« Dann hätte er gleich noch mehr gehabt, über das er sich in seiner Engstirnigkeit lustig machen kann. Seufzend verdränge ich den Gedanken und beobachte Taro dabei, wie er mit der Pfote einen schimmernden Mondstein vom Tablett angelt. Manchmal leistet er mir hier oben Gesellschaft, manchmal sitzt er auf der Fensterbank seines Zimmers und starrt hinaus, in anderen Nächten ist er regelrecht unauffindbar. Ich weiß nicht, was ihn umtreibt, denn er redet nie über seine tierische Natur. Zumindest nicht mit mir.
Als ich mitten in der Nacht mit dem Körbchen voll schillernder Phiolen und aufgeladener Kristalle zurück hineingehe, da sie ausreichend Energie getankt haben und mir langsam kalt wird, fällt mein Blick auf Dads Piano. Manchmal, wenn er mal wieder wochenlang am anderen Ende der Welt unterwegs ist, kommt mir diese Wohnung viel zu groß vor. Die roten Backsteinwände mit den gerahmten Schwarz-Weiß-Fotografien, das senfgelbe Ledersofa, die Coffee Table Books auf dem Glastisch … Alles hier schreit förmlich nach Dad, aber es ist nur Stille, die antwortet.
Um das Gefühl der Einsamkeit zu unterdrücken, stelle ich das Tablett mit den leise aneinanderklirrenden Phiolen auf dem Tresen der offenen Küche ab und setze Taro und mir einen Topf mit Hafermilch auf.
Ich habe kaum damit angefangen, in der Küche herumzuhantieren, da springt Taro neben mir auf die Arbeitsplatte und betrachtet die schillernden Phiolen. Er stupst mit seiner Pfote immer wieder eines der Glasfläschchen an, weil der sich darin spiegelnde Mond Lichtreflexe ins Wasser zaubert, die ihn faszinieren. Irgendwie ist sein Verhalten süß, vor allem deswegen, weil es eigentlich so gar nicht zu meinem vorbildlich erwachsenen Bruder passt.
Wenige Minuten später sitzen wir nebeneinander auf der Theke in der vom Mondschein erhellten Küche. In den Händen halte ich meinen warmen Becher und baumele mit den Füßen, während Taro seine Milch aus einem Schälchen schleckt.
Auch wenn ich mir an Vollmond manchmal einsam vorkomme, weil ich niemanden zum Reden habe und ich meine Rituale allein abhalten muss, statt sie mit meinen Moms zu zelebrieren, fühlt es sich in diesem Moment absolut richtig an, hier zu sein. Nicht nur, weil die beiden so keine Chance dazu haben, jeden meiner Handgriffe mit Argusaugen zu bewachen, sondern weil ich es spüre. Da ist diese Stimme, tief in mir, die mir sagt, dass ich genau hierher gehöre. Nach New York. Und wenn man seiner eigenen Intuition nicht vertrauen kann, wem denn dann?