Ich habe Darren nicht belogen, ich muss wirklich noch etwas für das Studium erledigen. So lümmeln Hazel und ich auf der Sofalounge in dem gläsernen Gewächshaus auf unserer Dachterrasse. Ihre Corgihündin Bina liegt zu unseren Füßen und schläft. Da die Tierarztpraxis ihrer Mom dieses Wochenende Notdienst hat, hat Hazel Bina kurzerhand mitgebracht, damit sie nicht allein zu Hause bleiben muss, denn Hazel und ihre Mom leben nur zu zweit. Hazel hat mir mal erzählt, dass ihr Dad kurz nach ihrer Geburt verstarb, aber ich habe mich bis heute nicht dazu überwinden können, sie zu fragen, was damals passiert ist. Manchmal vergesse ich, dass wir uns erst seit einem Jahr kennen und es noch so einiges gibt, das wir nicht übereinander wissen.
Als die Sonne rauskommt und die Luft in unserem gläsernen Rückzugsort erwärmt, duftet es verführerisch nach den Kräutern, die in großen Tontöpfen wachsen. Tagsüber wird es mir hier drinnen schnell zu warm, doch nachts, mit einigen Kerzen, Lichterketten und kuscheligen Decken, ist dieser Ort beinahe magisch.
»Ich habe übrigens etwas für dich.« Ich deute auf ein von Hand beschriftetes und mit rosafarbenem Wachs versiegeltes Fläschchen, das ich auf dem Tisch bereitgestellt habe. Es trägt den reißerischen Namen: Anti-Taro , aber genau genommen ist es einfach ein Zauberglas für mehr Selbstliebe. »Es ist eine Ölmischung aus Lavendel, Rosenblüte und Orange. Mit ein wenig Rosmarin, rosa Salz und der Unterstützung eines Rosenquarzes. Gegen Liebeskummer, für mehr Selbstliebe, und es hilft dabei, Altes loszulassen. Ich habe den Inhalt mit ein paar Tropfen Vollmondwasser angereichert, um seine Wirksamkeit zu verstärken. Du kannst das Glas einfach auf deinen Nachttisch stellen.«
»Und dann?«, fragt Hazel und streicht behutsam darüber.
»Dann sagst du dir jeden Morgen nach dem Aufstehen: Ich liebe mich selbst. Das war’s. Sobald der Inhalt des Glases unansehnlich wird, ist die Magie aufgebraucht, du kannst es öffnen und den Inhalt entsorgen.«
Während ich vorhin hier im Gewächshaus saß und den Zauber vorbereitet habe, habe ich die ganze Zeit an Hazel gedacht und mich gefragt, wobei die weiße Magie ihr helfen könnte. Über Taro hinwegzukommen? Jemand anderen kennenzulernen? Aber es kam mir nicht richtig vor, mich in ihr Liebesleben einzumischen. Wie aus einem Reflex heraus strich ich mit den Fingern über das Tattoo an meinem Unterarm und musste an meine Moms denken. Vielleicht haben sie recht, und das Beste, was man tun kann, ist sanft zu sich selbst zu sein. Auch dann – oder gerade dann – wenn wir das Gefühl haben, uns in eine ausweglose Sache verrannt zu haben.
»Danke dir. Du bist die Beste.« Hazel fällt mir erleichtert um den Hals, dabei kann ich ihr nicht garantieren, dass der Zauber helfen wird, um die Gefühle für Taro zu überwinden. Denn dafür muss sie es vor allem wollen. »Aber weswegen ich eigentlich hier bin: Mr Miller hat es ja letztes Semester schon angekündigt und plant tatsächlich eine Liveperformance zum Thema Orpheus in der Unterwelt für die jährliche Spendensammlung der Akademie.« Hazel steckt das Glas in ihre Umhängetasche, zieht eine Mappe daraus hervor und breitet ein paar Ausdrucke zwischen uns aus. Als Studiengangssprecherin hat sie alle Unterlagen zuerst ausgehändigt bekommen und nun die Aufgabe, uns einzuweihen. »Du kennst Orpheus? Weißt schon: Spießiger Geigenlehrer Orpheus würde seine Frau Eurydike gern loswerden, aber die öffentliche Meinung hält ihn davon ab. Eurydike lässt sich bereitwillig von Pluto in die Unterwelt entführen, weil sie ihr langweiliges Leben satthat. Die öffentliche Meinung zwingt Orpheus dazu, seine Frau zurückzuholen, die übrigen Götter schließen sich ihm an und am Ende sind alle in der Unterwelt, und es gibt eine große Party, bevor wir es damit enden lassen, dass Jupiter mit einer List die schöne Frau für sich gewinnt und Pluto und Orpheus leer ausgehen lässt.«
»Schöne Frau«, wiederhole ich schmunzelnd, weil Hazels Name bereits für die Rolle der Eurydike vermerkt ist.
»Das steht so im Skript und ist garantiert nicht meine Wortwahl«, erklärt sie kleinlaut und läuft dezent rot an. »Ist ja auch egal. Wir haben die Aufgabe zugewiesen bekommen, eine Location zu finden, die wir in eine riesige Party der Unterwelt verwandeln können. Die Zuschauenden sollen quasi als Vertreter der Öffentlichen Meinung – so heißt die Rolle – das ganze Schauspiel aktiv begleiten und verfolgen können.«
»Also wird es eine Sponsorenparty mit Schauspielenden als Kulisse und gelegentlichen Schauspieleinlagen zur Unterhaltung«, schlussfolgere ich. Die Allbright Academy finanziert sich und ihre Stipendien vor allem durch Spenden. Nichts anderes wird diese Veranstaltung: Eine gut inszenierte Spendengala mit Unterhaltungsprogramm.
»Zumindest, wenn ich das Konzept richtig verstanden habe. Die Studierenden aus der Szenografie kümmern sich bereits um die Kostüme und Masken, die Grafik- und Mediendesign-Leute haben letztes Semester Ideen für ein Leitkonzept entwickelt, damit die Menschen wissen, wann sie wo sein müssen. Die Musik- und Tanzstudiengänge steuern ihren Teil zur Abendgestaltung bei. Es wird also mal wieder ein interdisziplinärer Kraftakt.« Hazel blättert durch die Unterlagen. »Und natürlich soll die Aufführung schon vor Ende des Semesters stattfinden, als hätten wir alle Langeweile. Am liebsten wäre es ihnen kurz vor Thanksgiving, weil die Menschen zu der Zeit oft in Spendierlaune sind. Miller sagte, dass es Extra-Credits für diejenigen gibt, die bei der Organisation aushelfen. Punkt eins wäre Locationscouting. Ich weiß, dass das nicht unbedingt dein Lieblingspart ist, weil du erst seit einem Jahr in dieser Stadt wohnst, aber …«
»Aber da ich dieses Semester kaum gebucht wurde, kann ich Extrapunkte dringend brauchen«, unterbreche ich ihre Ausführungen.
Sie sieht mich schuldbewusst an, doch im Grunde hat sie ja recht: Ich brauche die Bonuspunkte tatsächlich dringend. Mit einem mittelmäßigen Abschluss und nichtexistierenden Referenzen kann ich die Schauspielerei gleich an den Nagel hängen.
»Uns bleibt kaum Zeit, um eine Location zu finden und auszuarbeiten, wie das Stück dort im Rahmen der Möglichkeiten inszeniert werden kann. Wie groß muss die Örtlichkeit sein? Wo finden die Szenen statt? Wo die Party? Wie viele Schauspielende brauchen wir für die Atmosphäre der Unterwelt? Du weißt schon«, zählt Hazel auf.
»Ich weiß schon.« Ich war letztes Jahr mit Dad als Zuschauerin bei einem dieser interdisziplinären Theaterstücke, bei dem sie eines der Gebäude der Akademie in eine Art Zeitreisebahnhof verwandelt haben. Schauspielende in Kleidung aller Epochen irrten umher, ständig suchte jemand seinen verlorenen Koffer, eine projizierte Anzeigetafel informierte über verspätete Flüge in alle Zeiten. Es war ebenso imposant wie chaotisch. Wenn es eine Rahmenhandlung gab, war sie verloren gegangen. Vielleicht ist es keine schlechte Idee, sich dieses Jahr wieder eines bekannten Motivs zu bedienen. »Und du meinst nicht, dass du dieses Semester auch so bereits genug zu tun hast?«, vergewissere ich mich.
Schulterzuckend sammelt Hazel die Unterlagen wieder ein. »Schon, aber das muss ja nicht heißen, dass ich dich nicht trotzdem ein wenig unterstützen kann.«
Mom sagt immer, dass eine Freundschaft nichts ist, was einfach existiert. Sie ist eine Blume, die regelmäßig gegossen werden muss – und darin ist Hazel echt gut. In Momenten wie diesen frage ich mich, was ich ohne sie tun würde. Und dann? Durchzuckt mich mein schlechtes Gewissen, weil ich nie vollkommen ehrlich zu ihr sein kann, solange Taro einen Teil seines Selbst vor ihr geheim halten will.
Da hilft nur eine Sache: Ablenkung. Und so stöbern wir im Netz nach Räumlichkeiten, die wir vielleicht anfragen könnten, bis Hazel uns unterbricht.
»Musst du mal auf die Toilette? Sollen wir eine Pause einlegen? Du hibbelst so unruhig herum, das ist irgendwie ansteckend.« Sie mustert mich aufmerksam, bis ich den Kopf schüttle und einen flüchtigen Blick auf die Uhr meines Handys werfe.
»Alles gut, ich bin nur nachher noch verabredet.«
»Mit wem?«, fragt sie geradeheraus, weil wir – abgesehen von dem meines Bruders – keine Geheimnisse voreinander haben. Auch Bina hebt den Kopf und sieht mich aufmerksam an, als erwarte sie eine Antwort von mir.
»Du erinnerst dich an den Livestream mit DarkDuke? « Ich mache eine auffordernde Geste und überlasse den Rest ihrer Fantasie.
Es arbeitet sichtlich hinter Hazels Stirn, bis sie auffährt. Ihre Augen weiten sich, während sie mich ungläubig mustert. »Ihr trefft euch also wirklich? Warum sagst du denn nichts? Soll ich dich begleiten?«
»Alles gut, du musst dir keine Sorgen machen. Ich glaube nicht, dass er gefährlich ist. Zumindest nicht direkt. Kannst du dich an den Typ von der Demo erinnern? Darren.«
»Der, von dem Taro behauptet hat, dass er uns gefolgt ist?«
Ich warte einige Sekunden, bis ein Funke der Erkenntnis in Hazels Augen tritt.
»Nicht dein Ernst! Bist du dir sicher? Der Typ ist DarkDuke? Er lebt in New York?«
»Gleich nebenan«, stimme ich zu und deute flüchtig auf das Nachbargebäude.
»Jetzt veralberst du mich.« Hazel starrt mich an, doch es ist kein Scherz. »Dieser Typ ist dein Nachbar? Das ist echt schräg. Ich meine, er könnte überall auf der Welt wohnen.«
Könnte er, aber er lebt hier.
»Und er sah … nett aus«, fährt Hazel sichtlich überfordert fort. »Wirklich. Wie jemand, den man gern auf einen Kaffee trifft. Nicht wie ein gesichtsloses Monster, das Existenzen zerstört.«
»Er sagte, er tut es, um Schlimmeres zu verhindern. Keine Ahnung, was ich davon halten soll.«
»Das hat er dir erzählt? Das heißt, ihr hattet nach dem Livestream noch Kontakt?« Hazel greift nach ihrer Mappe und schlägt mir damit spielerisch gegen den Arm. »Gemma! Warum erzählst du so was denn nicht gleich?«
»Keine Ahnung. Wir haben heute nur spontan gemeinsam gefrühstückt und …«
»Ihr habt was? « Hazel lässt die Mappe auf das Sofa fallen und hebt die Arme, als würde sie kapitulieren. »Ehrlich, Gem. Das ist die Art von Neuigkeit, auf die ich als deine beste Freundin ein sofortiges Anrecht habe. Du hast dich in dem ganzen letzten Jahr mit keinem einzigen Kerl getroffen. Und man geht nicht einfach so mit irgendwem frühstücken. Kino ist ein unverbindliches Erstes-Date-Ding. Beim Frühstücken muss man miteinander reden, sich in die Augen sehen und offenbart, ob man ein Kaffee-oder-Tee-Mensch ist. Ob man lieber Vollkornbrot mit Käse oder Croissant mit Marmelade isst. Das ist intim .«
»Er hatte einen Cappuccino und Scones mit Marmelade«, antworte ich, um ihren Vortrag zu unterbrechen. »Aber …«
»Kein Aber. Ich fasse es einfach nicht, dass du und DarkDuke gemeinsam frühstücken wart. Wenn eure Follower das erfahren, drehen sie durch.«
»Weil sie schockiert wären, dass ein Phantom frühstückt?«
»Nein, das ist, als wäre Darth Vader mit Prinzessin Leia frühstücken gewesen.«
»Korrigier mich, aber sind das nicht Vater und Tochter?«
»Ja, schon. Du weißt, wie ich das meine. Und ihr trefft euch nachher noch einmal?«
»Erstens hatten DarkDuke und ich nie persönliche Probleme miteinander, also kannst du mit den ›Dunkle Seite der Macht‹ -Vergleichen aufhören. Und zweitens gehen wir nur eine Runde spazieren und sehen uns den Sonnenuntergang am Charlotte Beach an, weil er mir nicht glauben wollte, wie schön es dort ist«, fasse ich zusammen.
»Gemma. Ist das dein Ernst? Ihr geht frühstücken und trefft euch am Abend, um euch gemeinsam einen Sonnenuntergang anzusehen?«
»Es klingt romantischer, als es ist. Du hast den Livestream doch gesehen. Er braucht bei irgendetwas Hilfe und will nicht mit der Sprache rausrücken, worum es geht, solange wir uns nicht kennen.«
»Okay. Es gäbe wahrscheinlich tausend andere Möglichkeiten, einander kennenzulernen außer Frühstück und Sonnenuntergang, aber wie du meinst. Hast du meine Nummer auf Kurzwahl? Meldest du dich, sobald du zurück bist? Ich liege sonst die ganze Nacht wach und mache mir Sorgen um dich. Wenn du dich unwohl fühlst, schreib mir. Bina und ich eilen sofort zu deiner Rettung. Oder bringen euch Kondome vorbei. Je nachdem. Der Typ sah echt gut aus. Wusste er auf der Demo eigentlich schon, wer du bist? Weil … So, wie er dich angesehen hat. Das war nicht, als würde er seinen potenziellen Feind betrachten.«
»Er weiß, wer ich bin«, bestätige ich. Zumindest weiß er wohl mehr über mich als ich über ihn. Denn selbst wenn er mir noch nicht lange folgen sollte, kann er die Videos der letzten vier Jahre abrufen. Die meisten Aufnahmen aus meiner Michigan-Zeit zeigen mich beim Kristallesammeln am See, wie ich Zeichnungen für meinen etsy -Shop anfertige oder über Kristalle und Tarotkarten rede. Ab und zu habe ich mal einen der aktuellen TikTok -Trends aufgegriffen und versucht, ihn auf die Hexerei umzumünzen, aber das ist auch alles. Bisher kam es mir nie seltsam vor, wenn die Menschen nach dem Schauen meiner Videos meinten, ein Bild von mir im Kopf zu haben. Also warum fühlt es sich dann so seltsam an, wenn ich mir vorstelle, dass Darren das auch tun könnte? Dass er die Makramee-Anleitungen, lustigen Tänze und Aufnahmen aus meinem damaligen Kinderzimmer ansehen und sich einbilden könnte, dass er mich dadurch kennt?
Weil es nur Facetten deines Lebens sind , beantworte ich mir die Frage selbst. Sollte er die Gemma suchen, die er von WitchTok zu kennen glaubt, werde ich ihn enttäuschen. Und das nicht allein, weil ich prinzipiell immer nur den aufgeräumten Teil meines Zimmers zeige.
Die Zeit mit Hazel vergeht viel zu schnell. Als ich mich am späten Nachmittag von ihr verabschiede, haben wir noch keine konkrete Idee, aber immerhin eine Liste von Locations, die ich für eine Begehung anfragen könnte.
Auf dem Weg zur Haustür laufen wir Taro über den Weg, der einen erschrockenen Satz macht, als Bina ihn lautstark verbellt.
»Bina, aus!« Vollkommen irritiert nimmt Hazel ihren Hund beiseite, der sich davon herzlich wenig beeindruckt zeigt. »Aus!«
Bina verstummt zwar, lässt Taro allerdings keine Sekunde aus den Augen, als er an uns vorbei in Richtung des Kühlschranks geht. Auch Taro behält den Hund im Blick, als könnte er sich jede Sekunde losreißen und ihm in die Wade beißen.
»Entschuldige«, murmelt Hazel. »Ich weiß gar nicht, was das soll. Eigentlich ist sie total lieb.«
»Kein Ding«, erwidert Taro, öffnet die Kühlschranktür und verschanzt sich dahinter, als wäre sie ein Schutzschild.
»Wirklich. Normalerweise regen sie nur Katzen so auf. Wir haben sie aus dem Tierschutz, vielleicht hatte sie mal ein unschönes Erlebnis. Wir wissen es nicht, aber Katzen können ja ganz schön gemein sein«, versucht Hazel ihre Hündin in Schutz zu nehmen, hockt sich neben sie und krault sie liebevoll hinter den Ohren, bis sie sich tatsächlich etwas entspannt.
»Ja«, antwortet Taro gedehnt, nimmt sich ein Getränk und schlägt die Tür zu. »Katzen sind wirklich widerliche Tiere.« Sein Blick zuckt zwischen mir und dem Hund hin und her, als sollte ich dafür sorgen, dass Hazel endlich geht und ihren Vierbeiner mitnimmt.
»Im Moment siehst du eher aus, als hättest du Angst vor Hunden«, analysiert Hazel Taros Verhalten.
»Vielleicht bin ich generell kein Tiermensch«, stimmt er zu und nippt an seiner Limonade, ohne sich vom Fleck zu rühren. »Sie sind instinktgetriebene und unberechenbare Wesen.«
»Tatsächlich? Komisch. Ich hätte dich immer für einen Tierfreund gehalten. So kann man sich irren.« Schulterzuckend sieht sie mich an und schenkt mir ein Lächeln, als wollte sie sagen: Ich glaube, dein Anti-Liebeszauber wirkt bereits. Taro ist gerade sehr viel unattraktiver geworden.
Seufzend bedeute ich ihr voranzugehen, weil ich wirklich nicht weiß, was ich dazu noch sagen soll, außer: Du hast ihn vollkommen falsch verstanden.
Als Hazel sich wieder erhebt, fällt das Zauberglas aus ihrer Tasche. Glücklicherweise überlebt es den Sturz, weniger glücklicherweise rollt es über den Boden zu Taro hinüber und stößt gegen seinen Fuß. Mit erhobener Augenbraue hebt er es auf und liest die Beschriftung laut vor.
»Anti-Taro?«
Sofort errötet Hazel bis unter den Haaransatz.
Mein Bruder zögert, ehe er das Glas kommentarlos auf den Tresen stellt und in Hazels Richtung schiebt. Es scheint, als wollte sie sich rechtfertigen, aber mein Bruder kommt ihr zuvor.
»Ich hoffe, es wirkt«, ist alles, was er dazu sagt, bevor er sich an Bina vorbeidrückt und in seinem Zimmer verschwindet.
Ich wiege die Kette mit dem schwarzen Turmalin-Anhänger auf der Hand und schließe die Augen. Wenn ich mich darauf konzentriere, kann ich ihn vibrieren spüren. Seine Ladung sollte auch ohne zusätzliche Schutzzauber noch ausreichen, um mich vor Manipulationen durch Darren zu bewahren.
Ich bin gerade dazu gekommen, mir die silberne Kette umzulegen, da nehme ich den Impuls wahr, das Haus zu verlassen. Eigentlich ist es noch ein wenig zu früh für ein Sonnenuntergangsdate, dennoch schnappe ich mir im Flur Schal und Mantel und mache mich auf den Weg nach unten. Meinem knurrenden Magen nach wäre es eine gute Idee, eine Kleinigkeit zu essen, bevor ich zum Strand gehe.
Offensichtlich sieht es das Universum genauso. Ich habe die Straße kaum betreten und überlege, worauf ich Appetit hätte, da kommt mir Darren entgegen. Für einen Moment frage ich mich, ob es wohl Zufall ist, aber er steuert direkt auf mich zu und schenkt mir ein Lächeln.
»Was hältst du von einem vorgezogenen Spaziergang zum Wasser? Ich hätte Proviant, falls du Falafel magst.« Demonstrativ hebt er die Papiertüte in seiner Hand und schon beim Anblick des Logos von Humus Kitchen läuft mir das Wasser im Mund zusammen.
»Mag ich«, bestätige ich lächelnd, ziehe meinen Schal höher und sehe zu ihm auf, während er eine Falafel-Rolle aus der Tüte hervorzieht und mir überreicht. »Danke. Perfektes Timing.«
»Sehr gern. Es ist immer ein gutes Gefühl, zur rechten Zeit zu kommen.«
»Du stehst also auf flache Wortwitze?«, schlussfolgere ich, aber er sieht mich so ratlos an, als wäre ihm die Doppeldeutigkeit seiner Worte nicht bewusst. Vielleicht hat er sie tatsächlich nicht so gemeint? Bilde ich mir jetzt schon ein, er würde flirten, obwohl er nur nett sein möchte? Was ist nur los mit mir? Ich spüre förmlich, wie ich bis unter den Haaransatz erröte, während er mich noch immer mustert. »Du meintest es nicht als Anspielung.«
»Eigentlich nicht«, behauptet er und kann ein Grinsen dann doch nicht unterdrücken. »Aber ich finde es irgendwie charmant, dass du denkst, ich wäre so mutig, dich dermaßen plump anzugraben. – Wollen wir gehen?« Er sieht flüchtig zum Café und nickt in Richtung der Straße. »Ich habe mich mit Beryl gestritten und kein Interesse daran, ihr in den nächsten Stunden ständig über den Weg zu laufen.«
Überrascht hebe ich die Augenbrauen. Sie haben sich gestritten? Dabei wirkten sie vorhin noch so vertraut miteinander. Aber sein Geständnis lenkt mich zumindest davon ab, dass mir meine vorschnelle Äußerung noch immer ein wenig peinlich ist.
Gemeinsam setzen wir uns in Bewegung, gehen Seite an Seite in Richtung East River. So eng nebeneinander, dass sich unsere Arme berühren, als wollten wir sichergehen, dass sich kein Passant zwischen uns hindurchquetscht, was dennoch gelegentlich passiert. New York ist einfach alles: romantisch, kreativ, voller Leben. Aber auch schlaflos, laut und stellenweise dreckig. Die Geruchsmischung aus den Speisen der Streetfoodstände, der Autoabgase und den überfüllten Mülltonnen in den Seitenstraßen ist für mich noch immer speziell.
»Willst du über euren Streit sprechen?«, biete ich nach einer Weile an.
»Da gibt es nichts zu reden. Ich erwarte nicht viel von den Menschen um mich herum«, behauptet Darren, »aber Vertrauen gehört dazu.«
»Und Beryl hat es missbraucht?«, vermute ich, doch traue mich nicht, zu fragen, inwiefern.
»Sehen wir es positiv: Da ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe, war ich eine Runde spazieren, bis ich das Verlangen gespürt habe, uns Proviant zu besorgen.«
Offensichtlich möchte er sich nicht weiter über Beryl auslassen, also wickle ich die Falafel-Rolle aus dem Papier und beiße genüsslich hinein. Frisches Gemüse und fluffige Falafel mit knuspriger Hülle. Es schmeckt himmlisch. »Wenn du mich fragst, macht Humus Kitchen die besten Falafel der Stadt.«
»Mhm.« Darren nimmt sein Essen aus der Tüte, die er anschließend im nächsten Mülleimer versenkt. Statt hineinzubeißen, betrachtet er seine Mahlzeit, als sollte sie ihm etwas flüstern. Es ist ziemlich offensichtlich, dass ihn etwas beschäftigt. Vermutlich der Streit. Auch wenn meine Neugierde sich brennend dafür interessieren würde, werde ich nicht weiter nach den Gründen fragen.
Mir fällt jetzt erst auf, dass Darrens Outfit gar nicht recht zu ihm passt. Jogginghose, Lederjacke und Chucks. Der Style steht ihm, aber es sieht aus, als wäre er vorhin sehr überstürzt aus der Wohnung aufgebrochen.
»Bist du dir sicher, dass wir nicht noch einmal zurückgehen und dir wenigstens eine wärmere Jacke holen sollen? Am Strand kann es abends recht kühl werden.«
»Alles bestens. Ich werde schon nicht erfrieren.« Er schüttelt den Kopf, als wollte er einen lästigen Gedanken vertreiben, bevor er einen Bissen von seinem Essen nimmt. Aufmerksam beobachte ich seine Reaktion, aber er starrt kauend ins Nichts.
»Und?« Entweder hat er nur das beste Essenspokerface der Welt oder keinen rechten Appetit. »Nicht gut?«
»Doch«, antwortet er unbestimmt und schüttelt erneut den Kopf, bevor er mir ein Lächeln schenkt. Wo auch immer er gerade mit seinen Gedanken war, dem Funkeln in seinen Augen nach ist er wieder zurück. »Ist wirklich lecker. Im Gegensatz zum Pumpkin Spice könnte ich mich hieran gewöhnen.«
»Meine Güte, das Zeug hat es dir mehr angetan als mir.« Warum sonst fängt er immer wieder davon an? »Isst du eigentlich Fleisch?«, frage ich zusammenhanglos zwischen zwei Bissen. Ich weiß, dass es ziemlich indiskret ist, nicht umsonst führt dieses Thema des Öfteren zu hitzigen Diskussionen – auch in der Hexenwelt. Ist es respektlos, andere Lebewesen zu töten, um daraus Energie zu gewinnen? Oder spielt es keine Rolle, wenn wir ohnehin alle demselben Kreislauf unterliegen?
»Manchmal«, gesteht er. »Vor allem dann, wenn Dad gekocht hat. Ich habe keine Lust auf Grundsatzdiskussionen mit ihm. Er hat bei einigen Themen eine sehr festgefahrene Meinung und akzeptiert keinen Widerspruch. Laut ihm sind Menschen dazu geschaffen, die Erde zu beherrschen – inklusive der Tiere. Wer sich nicht nimmt, was er braucht, ist selbst schuld.«
Darren beißt so lustlos in sein Essen, als wäre es eine Bestrafung.
»Es hört sich ein wenig so an, als wärt ihr euch bei mehr als diesem einen Thema nicht ganz einig«, sage ich vorsichtig und lasse ihn nicht aus den Augen, aber Darrens einzige Reaktion ist ein kurzes Blinzeln.
»Wir sind selten einer Meinung«, stimmt er zu und zupft ein Salatblatt aus der Rolle, das er nachdenklich betrachtet, bevor er es isst.
»Hat dein Problem etwas mit ihm zu tun?«, folge ich einer spontanen Eingebung.
Darren schweigt.
Und das ist eindeutig kein Nein.