15. KAPITEL

Seufzend setze ich mich mit meinem iPad auf das Sofa und beginne eine Skizze für meinen Onlineshop. Ich zeichne eine Phiole, die Zutaten des Anti-Liebeszaubers, den ich für Hazel entwickelt habe, dazu einen Rosenquarz und einen Lavendelzweig. Die Kunstdrucke mit Anleitungen für Tränke und Rituale verkaufen sich in meinem Shop am besten, und normalerweise entspannt es mich, die wunderschönen Pflanzen und Blüten festzuhalten. Immer wieder zeichne und lösche ich einzelne Teile, verschiebe sie, damit am Ende eine stimmige Gesamtkomposition entsteht. Doch die beruhigende Wirkung bleibt heute aus. Ich starte eine zufällige Playlist mit Meditationsmusik, die mir hoffentlich dabei hilft, mich zu entspannen. Auch wenn ich mich bemüht habe, es mir nicht anmerken zu lassen, bin ich unterschwellig nervös. Natürlich vertraue ich der Magie, aber ich habe nie einen Zauber mit offenem Ausgang initiiert.

Lächelnd horche ich auf, als ein Lied abgespielt wird, das mich an das Schlaflied von Darrens Mom erinnert. An das Lied, das er mir auf Dads Klavier vorgespielt hat. Mit geschlossenen Augen lasse ich es auf mich wirken. Die farbigen Wolken vor meinem geistigen Auge nehmen mich mit, zurück zu dem beinahe magischen Moment in unserer Wohnung. Zu den Erinnerungen an die zauberhafte Melodie, an das silberne Mondlicht auf Darrens Haaren und Wimpern, an die Bewunderung für sein Talent. Mir wird augenblicklich warm ums Herz, wenn ich daran denke, wie er sich in der Musik verloren hat – zumindest bis es einen spürbaren Stolperer einlegt. Die blauen Wolken kehren zurück, überlagern die Erinnerung und reißen mich mit sich, zu einer Erinnerung, die definitiv nicht meine ist. Ich sehe vor meinem geistigen Auge eine Szene, die mir vollkommen fremd, aber zu glasklar für eine Fantasie ist. Ich wüsste auch nicht, warum ich von einer jungen Frau tagträumen sollte, die in einer marmorgefliesten Eingangshalle steht und sich aufgebracht mit einem Mann unterhält. Ein cremefarbenes Kleid umspielt ihre Beine, viel mehr sehe ich von ihr nicht. Der Perspektive nach bin ich klein – ein Tier oder Kleinkind vielleicht. Die Gesichter der Personen erkenne ich nicht, auch die Umgebung ist mir ein Rätsel. Manchmal glaube ich, Bruchstücke einer Stadtvilla zu erahnen, doch immer, wenn ich mich umsehen will, verschwimmt alles in meinem Sichtfeld, als sollte ich meine Aufmerksamkeit auf das Paar richten.

»Was hast du getan?«, fragt die Frau mit einer Stimme, die mir fremd ist, aber trotzdem irgendetwas in mir berührt.

»Das einzig Richtige.« Der Mann tritt an sie heran, umfasst ihre Oberarme. Will er sie schütteln oder stützen? Auf jeden Fall wirken sie vertraut miteinander. »Ich tue es nicht nur, um dich zu schützen, sondern auch ihn. Wir können nicht riskieren, dass er Dinge ausplaudert. Weder jetzt noch später.«

»Aber er ist doch noch fast ein Baby.«

»Für dich wird er immer ein Baby bleiben. Aber er spricht, Ligeia. Er plappert alles nach, was er irgendwo hört. Das Risiko kann und will ich nicht eingehen.«

Seufzend befreit sie sich aus seinem Griff und lässt sich auf einen Sessel sinken. Ich verspüre den Impuls, ihr zu folgen, aber kann es nicht.

»Jetzt sieh mich nicht so an. Ich habe es getan, weil es das Beste für uns alle ist«, rechtfertigt sich der Mann.

»Wie sehe ich dich denn an? Wie eine Mutter, die gerade erfahren hat, dass ihr Partner ihr einziges Kind verflucht hat?«

»Es war – verdammt noch mal – die bestmögliche Variante!«, ruft er irgendwo zwischen Verzweiflung und Wut.

Ich höre, dass sie etwas erwidert, aber ihre Stimme wird von einem aufdringlichen Geräusch überlagert.

Es dauert einen Moment, bis ich es einordnen kann: mein Handytimer. Die halbe Stunde ist rum.

Blinzelnd schalte ich den Alarm aus und sehe mich irritiert um. Noch immer sitze ich auf dem Sofa in Darrens Wohnzimmer. Ich bekomme gar keine Chance dazu, diesen seltsamen Tagtraum zu verarbeiten. Das Geräusch aufgewühlten Wassers erklingt, kurz bevor Darren die Badezimmertür aufreißt, ins Wohnzimmer hastet und mich anstarrt.

»Hast du …?«, beginnt er und verstummt schwer atmend.

»Ich weiß nicht genau, was ich getan habe, aber du hast dein Handtuch vergessen«, erwidere ich und versuche mich an einem entschuldigenden Lächeln.

Mit einer Hand durch seine Locken streichend, sieht Darren an sich herunter, als wollte er meine Aussage überprüfen. Er nickt und kehrt ins Bad zurück. Statt sich in Ruhe abzutrocknen, zieht er sich nur eine Jogginghose an, kommt zu mir herüber und lässt sich mir gegenüber auf das Sofa fallen.

»Und? Ist der Fluch gebrochen?«, frage ich vorsichtig.

Darren öffnet den Mund, als wollte er etwas sagen, doch kein Wort kommt ihm über die Lippen. »Ich fürchte nicht. Nur als ich eben in der Wanne an dich gedacht habe … Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Vielleicht bin ich im warmen Wasser kurz weggenickt, aber ich habe mich an eine Sache aus meiner Kindheit erinnert – und du warst auch da. Klingt das verrückt?«

»Nicht viel verrückter als ein Vater, der seinen eigenen Sohn verflucht, damit er keine Geheimnisse ausplaudert«, gestehe ich zögerlich und lege mein iPad beiseite. Ich kenne Darren nicht gut genug, um einschätzen zu können, wie er auf mein Geständnis reagieren wird, aber ich kann unmöglich für mich behalten, was ich getan habe. »Sei mir nicht böse, doch man kann einen Blutfluch, dem man seinem eigenen Kind zugefügt hat, nicht brechen. Also habe ich die weiße Magie gebeten, einen Weg zu finden, den Fluch zu umgehen. Ich meine, ich wusste nicht, wer dich verflucht hat, aber es war schon irgendwie naheliegend, dass es jemand aus deiner Familie gewesen sein könnte. Und offensichtlich war diese Art von Channeling die bestmögliche Variante, mir meinen Wunsch zu erfüllen. Wenn du diese Erinnerung nicht ganz freiwillig mit mir geteilt hast, tut es mir aufrichtig leid.«

Darren mustert mich, als würde er an meinem Verstand zweifeln, bevor er in schallendes Gelächter ausbricht.

Ich habe ihn noch nie so ausgelassen lachen gesehen – doch fröhlich zu sein, steht ihm. Vielleicht täusche ich mich oder aber seine Aura ist gerade eine Nuance intensiver geworden.

»Du bist mir also nicht böse?«, frage ich hoffnungsvoll.

Mit einem Kopfschütteln lässt er sich gegen die Rückenlehne des Sofas sinken und betrachtet mich mit sanfter Faszination. »Kennst du den Spruch Genie und Wahnsinn liegen nahe beieinander? Bei dir scheinen sie sich zwar gelegentlich ein Bett zu teilen, aber …« Räuspernd verstummt er. »Entschuldige. Das klang vollkommen falsch. Eigentlich sollte es ein Kompliment werden, doch offensichtlich bin ich besser darin, Menschen vor den Kopf zu stoßen, als mich bei ihnen zu bedanken.«

»Gern geschehen. Und ich wurde noch nie so voller Bewunderung beleidigt«, ziehe ich ihn auf.

»Gern geschehen«, wiederholt er meine Worte schmunzelnd. In der nächsten Sekunde ist jede Belustigung aus seinem Gesicht verschwunden. »Denkst du, wir könnten diese Sache eventuell wiederholen? Nicht das Beleidigen, sondern das Channeling. Es gibt andere Dinge, die ich dir gern zeigen würde. Wichtigere Dinge. Nur falls du noch immer dazu bereit bist, mir zu helfen.«

»Sicher. Ich weiß zwar nicht ganz genau, wie es funktioniert hat und ob es sich rekonstruieren lässt, aber wir könnten probieren, es herauszufinden.«

Darren nickt gedankenverloren, den Blick ins Leere gerichtet, bis er auffährt. Etwas blitzt in seinen Augen auf, als wäre ihm soeben ein Gedanke gekommen. »Es gibt eine Sache, die ich dir auch so zeigen könnte. Hast du zufällig Sonntagmorgen Zeit?«

»Zeigen? Sicher. Außer ein paar Sachen fürs Studium und einer Tarot-Legung habe ich noch nichts geplant.«

»Besitzt du ein Kleid? Dann hole ich dich ab.«

»Sag mir eine Uhrzeit und ich bin fertig«, antworte ich, obwohl ich unsicher bin, worauf ich mich gerade einlasse. Was hat er vor? Und was spielt es für eine Rolle, wie ich dabei gekleidet bin?

»Perfekt.« Darren schenkt mir ein Lächeln und schlägt mit einer Hand auf die Sofalehne, als wäre damit alles gesagt. Schon bevor er den Mund öffnet, weiß ich, dass er das Thema wechseln wird. »Möchtest du zufällig etwas essen? Ich werde vom Baden immer hungrig. Soll ich uns etwas kochen?«

»Du willst mich also mit etwas zu essen abspeisen, statt mit der Sprache rauszurücken, was du am Sonntag vorhast?«, stichle ich. Zur Antwort zwinkert er mir zu.

Zauberhaft.

Ich beobachte Darren dabei, wie er zum Kühlschrank schlendert und einen Blick hineinwirft. Wie hypnotisiert folge ich jeder seiner Bewegungen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ihn nackt zu sehen. Oder warum fasziniert mich mit einem Mal das Muskelspiel an seinen Unterarmen? Kann es sexy aussehen, sich gegen eine Kühlschranktür zu lehnen und durch die feuchten Haare zu fahren – oder was stimmt nicht mit mir?

»Ich könnte uns Omeletts braten. Isst du Eier?«, reißt mich Darren aus meinem Bewunderungsmodus.

»Manchmal, wenn ich weiß, wie die Hühner gehalten werden«, antworte ich wie auf Autopilot und erhebe mich vom Sofa, ohne genau zu wissen, warum ich es tue. Ein Teil von mir würde gern zu Darren hinübergehen, um ihm nahe zu sein. Vielleicht habe ich es mit den aphrodisierenden Badezusätzen ein wenig übertrieben? Jemanden ausziehen zu wollen, ist definitiv keine normale Reaktion auf ein Reinigungsritual.

»Ich habe sie bei einem neu gegründeten Ökokollektiv gekauft. Ich schwöre, dass diese Eier von den glücklichsten Hühnern ganz New Yorks stammen.«

»Na dann.« Mehr fällt mir nicht ein. Da ich noch immer sinnlos herumstehe, setze ich mich mit meinem iPad an den kleinen Tresen, der Küche von Wohnbereich trennt, und sehe Darren dabei zu, wie er die Eier aufschlägt und Gemüse abwäscht. Auf der Suche nach einer Bratpfanne stellt er diverse Töpfe auf dem Tresen ab.

»Wenn ich dir einen Tipp geben darf: Ziehe nie mit einer Kitchen Witch zusammen«, erklärt er grinsend. »Die Hälfte der Utensilien dieser Küche hat Beryl einzig und allein zum Herstellen von Tränken freigegeben. Wir besitzen drei Mörser, aber wehe du nutzt einen davon zum Zubereiten von Pesto. Nein, sie sind nur dafür da, um magische Kräutermischungen anzurühren.«

»Schade. Eigentlich hatte ich vor, eine magische WG zu gründen – und ganz oben auf meiner Wunschliste stand jemand, der kochen kann.«

»Gemma Stone – Möglichmacherin des Unmöglichen – scheitert also an banalen Dingen wie dem Kochen?«

Ich würde ihm gern widersprechen, aber laut Taro sind meine Kochkünste unterirdisch. »Niemand ist perfekt.«

Darren verharrt in der Bewegung und schenkt mir ein Lächeln. Diese neue, offene Art, die ich vorhin zum ersten Mal bei ihm gesehen habe. »Niemand ist perfekt, aber manche von uns sind verdammt nah dran.«

Am liebsten würde ich ihm dasselbe sagen, wie letztens am Wasser: Ich nehme an, du redest von dir? – Doch ich kann es nicht. Irgendetwas an seinem Blick hält mich gefangen und untergräbt jede Schlagfertigkeit. Ich spüre förmlich, dass meine Wangen warm werden.

»Könnte ich vielleicht meine Kette wiederhaben?«, bitte ich kleinlaut, weil ich das Bedürfnis nach etwas habe, das mich vor Darrens Anziehungskraft schützt.

»Sicher.« Er greift sie aus seiner Hosentasche und reicht sie achtlos herüber.

Ich weiß nicht, was ich mir davon erhoffe, doch auch als sie wieder um meinen Hals hängt und ich den Anhänger umfasse, verfliegt meine Faszination für Darren nicht. Und vermutlich liegt es nicht nur daran, dass der Kristall mittlerweile vollkommen entladen ist. Schade. Oder aufregend? Ich bin mir nicht so sicher. Aber wenn ich ihm bei einer Aufgabe helfen soll, ist es vor allem eines: unangebracht. Er hat sich vor mir ausgezogen, weil es zum Ritual gehörte. Unsere geistige Verbindung war Teil eines Zaubers. Das ist alles. Mein Kopfkino muss dringend enden.

»Hältst du Burlesque-Tanz eigentlich für sexistisch?«, frage ich aus heiterem Himmel, weil mir gerade einfällt, dass ich bis morgen eine Hausarbeit abgeben muss, für die ich noch keinen einzigen Satz geschrieben habe. Eine Hausarbeit, die ich allein deswegen verfassen muss, weil ich auch während meines Seminars zu viele Gedanken an ihn verschwendet habe, statt mich auf die Realität zu fokussieren.

»Das kommt wohl darauf an, wie du es betrachtest«, erwidert er und sieht mich irritiert an, bevor er sich wieder der Zubereitung des Essens widmet. »Ich dachte, es geht dabei um Kunst, weibliche Selbstbestimmung und Body Positivity

»Aber wenn es das Ziel ist, andere zu verführen, wie empowernd kann das sein?«

Während Darren die Omeletts in der Pfanne brät, denkt er darüber nach. »Zum Verführen gehört es dazu, dass man sich selbst attraktiv findet. Und wenn du anderen vermittelst, dass jede Körperform attraktiv sein kann, ist das eine Definition von female empowerment . Denke ich. Ich bin kein Profi in diesen Dingen. Weil … auf der anderen Seite gibt es ja auch asexuelle Menschen. Ich bin mir sicher, dass die weibliche Selbstbestimmung anders definieren würden.«

»Aber es ist ein interessanter Ansatz, danke dir.« Ich mache mir eine kurze Notiz und sehe ihn aus dem Augenwinkel schmunzeln. »Was?«

»Nichts. Hast du noch mehr Fragen auf deiner Checkliste, um dich davon zu überzeugen, dass ich tatsächlich ein anständiger Kerl bin?«

»Oh, das war nicht …«, stammle ich wenig eloquent. »Ich meine, ich muss eine Hausarbeit zu dem Thema schreiben. Es war kein Verhör.«

Und ob er wirklich ein anständiger Kerl ist, muss sich erst noch zeigen. Wobei mindestens ein Teil meines Ichs offensichtlich auch zu unanständigen Dingen bereit wäre.

Während des Essens und in all den Stunden danach reden wir nicht mehr über den Fluch und das Channeling – vielleicht, weil wir beide das Erlebnis erst verarbeiten müssen –, aber als ich mich von Darren verabschiede, habe ich dennoch das Gefühl, dass sich etwas zwischen uns geändert hat.

»Ich hole dich Sonntagmorgen um halb zehn ab«, erinnert er.

Mit einem Nicken wende ich mich zum Gehen. Ich habe zwar keine Ahnung, zu was wir uns verabredet haben, aber ich vertraue ihm. Und vielleicht freue ich mich sogar darauf, erneut Zeit mit ihm zu verbringen.

»Gemma?«

Ich hebe fragend die Augenbrauen und drehe mich noch einmal zu ihm herum. Es wirkt, als wollte er etwas sagen, stattdessen lehnt er sich gegen den Türrahmen und betrachtet mich.

»Was?«, gebe ich meiner Neugierde nach.

»Nichts. Pass einfach auf dich auf.«

»Ich wohne nur eine Haustür entfernt.«

»So nah und doch so fern«, erwidert er zwinkernd und nickt mir zum Abschied zu.

Irgendetwas an dieser Geste lässt mein Herz kurz flattern, aber ich unterdrücke den Impuls, ihn zu fragen, wie er es meint.

Er braucht meine Hilfe. Nicht mehr und nicht weniger als das , ermahne ich mich.

Es scheint, als ob das mein neues Mantra wird, denn ich wiederhole die zwei Sätze wieder und wieder. Auch dann noch, als ich wenig später im Bett liege und nach wie vor meinen unanständigen Gedanken nachhänge.