28. KAPITEL

Ich klopfe an Darrens Zimmertür und öffne mir dann doch selbst. Unaufgefordert trete ich ein, schließe die Tür hinter mir und lehne mich mit dem Rücken dagegen.

Darren hat sein Jackett ausgezogen und achtlos aufs Bett geworfen. Kurz sieht er auf, als hätte er zur Kenntnis genommen, dass ich ins Zimmer gekommen bin, und widmet sich seinem Hemd, das er schweigend aufknöpft. Offensichtlich ist ihm mittlerweile egal, ob ich ihm dabei zusehe.

»Verrätst du mir, was mit dir los ist?«, frage ich.

»Nichts«, behauptet er stumpf. Aber die Art, wie er sich mit halb offenem Hemd auf sein Bett setzt und die Unterarme auf den Oberschenkeln abstützt, sagt etwas anderes. Er reibt sich mit der Hand über die Stirn. »Dad meint, ich kann das Fernstudium überall fortsetzen und sieht keinen Grund dazu, warum es hier in New York sein sollte.«

»Oh. Okay«, antworte ich nicht sehr eloquent und weiß selbst nicht, weshalb sich seine Niedergeschlagenheit auf mich überträgt. Es dauert einen Moment, bis die Bedeutung seiner Worte ganz zu mir durchgedrungen ist.

Er kann das Studium überall fortsetzen.  – Das heißt, er wird diese Stadt verlassen.

»Wohin geht die Reise?«, frage ich leise.

»Pittsburgh.«

»Du wirst dorthin zurückziehen?« Das ist es zumindest, was ich zwischen den Zeilen lese. Und er widerspricht nicht.

Mit einem Seufzen lässt er das Kinn zur Brust sinken. »Dad will, dass ich die Stadt verlasse und mich zurück in die Zweigstelle versetzen lasse. Spätestens Ende des Jahres bin ich wieder in Pittsburgh. Für die nächsten zwei Wochen schickt er mich schon einmal auf Dienstreise, um mir einen Überblick über die dortigen Betriebsabläufe zu verschaffen.« Er schnaubt, bevor er bitter fortfährt. »Wir haben uns gestritten. Mal wieder. Er sieht keinen einzigen Grund, aus dem ich hierbleiben sollte. Immerhin besitzt er ja genug Geld, um mich jederzeit einfliegen zu lassen, wenn ich mal wieder ein Auge auf Mom haben soll. Ich bin echt nicht stolz darauf, aber ich habe sogar die ›Ich habe eine Freundin in der Stadt‹ -Karte gezogen, damit er es sich anders überlegt.«

»Und was hat er dazu gesagt?«

»Dass dir schon nichts passieren wird. Und es gibt ja das Internet, Flugzeuge und notfalls genug andere junge Männer in dieser Stadt, um dich zu trösten.« Darren lässt sich der Länge nach auf das Bett fallen, flucht leise und reibt sich erneut den Hinterkopf, als hätte ihm der Flurunfall eine mächtige Beule beschert. Dass Darrens Dad ihn aus der Stadt schaffen will, ist kein gutes Zeichen. Vielleicht könnte ich mir einreden, dass ich mich deswegen so bedrückt fühle. Es klingt zumindest nach einer plausiblen Begründung, immerhin wird das die Suche nach einem Gegenmittel oder Verbündeten erschweren. Aber wenn ich in mich hineinhorche, ist da noch mehr. Die Vorstellung davon, dass er bald nicht mehr hier, sondern weit weg sein wird, fühlt sich komisch an. Auf eine Art und Weise falsch, die ich nicht benennen kann.

»Und ich dachte, mein Tag wäre doof gelaufen«, murmle ich.

»Was war los?« Darren hebt den Kopf, um mich anzusehen.

»Ich wurde von einem hartnäckigen Geist heimgesucht, dessen Hand sich an mir festgeklammert hat, und ich finde einfach keine passende Location für unsere Aufführung. Solche Dinge eben.« Ich lasse mich an der Tür zu Boden gleiten und lege die Arme um die Beine. »Hat dein Dad gesagt, warum er dich aus der Stadt schaffen will?«

»Offiziell? Weil ich alt genug bin, um mehr Verantwortung zu übernehmen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er meinen Anblick einfach nicht erträgt, weil ich ihn ständig an Mom erinnere. Vielleicht hat er auch nur Angst, dass ich meine Nase zu tief in seine Angelegenheiten stecke, wenn ich noch länger hierbleibe.«

»Womit er gar nicht so falschliegt«, werfe ich ein. »Zumindest mit seinen Angelegenheiten. Was dein Aussehen betrifft, würde ich sagen, du bist eine Mischung aus beiden.«

»Fällt mir schwer, das als Kompliment zu sehen«, murrt er, erhebt sich und füttert seine Seepferdchen.

»Wer hat sich eigentlich um die zwei gekümmert, während du bei deiner Mom warst?«

»Beryl hat ein Auge auf sie, wann immer ich verreisen muss.«

»Trotz ihrer sehr entspannten Sicht auf den Übertritt zur anderen Seite?« Ich gebe dem Drang nach aufzustehen, gehe zu Darren hinüber und stelle mich neben ihn. Seite an Seite beobachten wir seine Mitbewohner.

»Ich denke nicht, dass sie mich vermissen«, murmelt er.

»Auch dann nicht, wenn sich niemand so gut um ihre Bedürfnisse kümmern kann wie du?«

»Wir reden noch über die Seepferdchen?«

»Vermutlich.« Was wäre die Alternative? Dass er sich um meine körperlichen Bedürfnisse kümmert? Allein bei der Vorstellung davon, zieht sich alles in mir sehnsüchtig zusammen. Ich sehe zu Darren auf – und er zurück. Dem aufgewühlten Ausdruck in seinen Augen nach, bin ich nicht die Einzige, deren Gedanken nicht mehr bei der Fütterung der Seepferdchen verweilen. »Sei ehrlich: Woran denkst du gerade?«

Er räuspert sich kaum merklich. »Ich bin nicht stolz auf die Antwort.«

»Das habe ich nicht gefragt.«

Darren hebt langsam eine Hand und legt sie an meine Taille, bevor er mich sacht an sich zieht, als würde er seinem Körper die Antwort überlassen. »Es tut mir leid, dass ich eure Séance gestört habe. Das wollte ich nicht. Ich wusste nicht, dass du hier bist.«

»Erinnerst du dich daran, dass ich dir von einem Obdachlosen erzählt habe? Der, dem ich mein Essen geschenkt habe? Sein Name war John und sein Geist hat mich aufgesucht. Anscheinend war er krank und ist gestorben. Er sagt, er sucht Hilfe. Und: Wir sind viele . Aber ich habe keine Ahnung, was das heißen soll.«

Darrens Mundwinkel zucken belustigt. »Und da sollte man meinen, dass du es mittlerweile gewohnt bist, wenn Menschen in Rätseln mit dir reden.«

»Witzig.« Aus witzig wird etwas anderes, als Darren seine Hände langsam an meinem Rücken hinabgleiten lässt. Als sie auf meinem Po angekommen sind, zieht er mich an sich, als wollte er mich spüren lassen, dass ein Teil seiner Gedanken noch immer bei der Bedürfnisbefriedigung hängt. Seine Härte drückt so auffordernd gegen mich, dass mir ein Laut zwischen Keuchen und Stöhnen entfährt.

»Ist dir das zu viel?«, fragt er beinahe schüchtern.

»Nein. Ich glaube, es ist mir zu wenig«, gestehe ich. Ich will es nicht bedauern, ihn nicht küssen zu können. Aber in Momenten wie diesen habe ich das Gefühl, dass es alles zwischen uns erschreckend uneindeutig macht. Ich genieße seine Nähe, doch es wäre leichter, meinen Wunsch nach mehr einordnen zu können, wenn ich ihn einfach gegen seinen Schreibtisch drängen und küssen könnte, bis er meinen Namen stöhnt.

»Darf ich etwas ausprobieren?«, bittet er, als hätte er meine Gedanken gehört.

»Sicher.« Ich weiß nicht, was er vorhat, aber ich vertraue ihm. Also schließe ich die Augen, als er sich mir nähert. Seine Zungenspitze gleitet über meinen Hals, über die Stelle, unter der mein Puls schlägt, bevor er sacht darauf pustet. Es ist ein Hauch, der einen Schauder durch meinen ganzen Körper laufen lässt.

»War das komisch?«, fragt er mit rauem Unterton.

»Nein. Es war interessant. Mir gefällt deine Kreativität«, begrüße ich seine Initiative. Als seine Zunge mein Ohr neckt, vergrabe ich meine Hand in seinen weichen Haaren und bereue es augenblicklich, als er zusammenzuckt. »Entschuldige. Die Beule. Ich wollte das nicht. Du hast vermutlich keinen Angelite hier?« Denn meines Wissens sind es die einzigen Kristalle, die tatsächlich in der Lage dazu sind, körperliche Wunden zu heilen.

»Leider nein«, gesteht er und zieht sich kaum merklich zurück. Offensichtlich hat er noch immer Schmerzen. Heute ist einfach kein guter Tag für gar nichts – außer dafür, seine Seepferdchen zu beobachten. Mit der Wange gegen seine Brust gelehnt, betrachte ich die zwei in dem Aquarium.

Ich genieße den Moment und versuche meine Gefühle zu sortieren – aber scheitere. Als ich Darren das erste Mal im Café gegenüberstand, habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, ihn zu küssen. Irgendwie hatte ich die Vision, dass es umwerfend sein würde. Zu wissen, dass ich es nie ausprobieren kann, wirkt wie Ironie des Schicksals. Ich könnte mir einreden, dass es mich nicht frustriert. Dass wir ohnehin nur Freunde mit einer gemeinsamen Mission sind, die für die Öffentlichkeit eine Fake-Beziehung führen. Aber dann kommen mir seine Mitteilungen von heute Morgen in den Sinn: Du fehlst hier. In meinem Bett.

Auch wenn Darren sich meist zurückhält, gibt sein Körper sehr eindeutige Hinweise darauf, was er sich von einer gemeinsamen Nacht erhoffen würde. Ich erinnere mich an unsere Nachrichten über den Geburtstag des Bürgermeisters. Darüber, dass ich ihm angeboten habe, mein Kleid auszuziehen. Und allein der Gedanke daran, erfüllt mich mit einer kribbeligen Vorfreude. Zumindest bis mir wieder einfällt, dass Darren mir gerade gestanden hat, dass er die Stadt verlassen wird. Wieso fühlt es sich an, als würde ich etwas finden und zugleich verlieren?

Darren legt seine Arme um mich und für einen Augenblick erlaube ich mir trotz aller Verwirrung, mich geborgen und beschützt zu fühlen. Eingehüllt in seine Wärme und seinen Duft wirkt alles andere so unwichtig. Aber es ist eine Illusion. In nicht einmal zwei Monaten wird er wegziehen.

Und dann? Trennen uns etwa vierhundert Meilen – und die Tatsache, dass er frei ist, während ich eventuell dazu gezwungen sein werde, das zu tun, was sein Dad von mir verlangt. Ob er mir mithilfe des S. P. E. L. L.-Zaubers befehlen könnte, Darren zu vergessen?

»Du hast eben gesagt, du brauchst eine Location für eure Aufführung?«, fragt er nach einer Weile, in der wir nichts getan haben, außer einander festzuhalten. »Wie wäre es denn mit der L. I. F. E. Inc.? Sie hat ein weitläufiges Atrium, ein Lautsprechersystem, mehrere Stockwerke mit Balkonen, die zum Atrium hin ausgerichtet sind, eine Kantine. Und wenn wir ehrlich sind, fühlt sie sich bereits beim Betreten wie das Tor zur Hölle an.«

»Witzig«, murmle ich, weil ich seinen Vorschlag nicht ernst nehmen kann.

»Nicht so witzig. Eine turbulente Veranstaltung wäre eine gute Gelegenheit, um sich dort mal ein wenig umzusehen. Gemeinsam finden wir sicher die perfekte Ablenkung.«

»Wie meinst du das?«, frage ich verwirrt und ziehe mich zurück, um Darren besser ansehen zu können.

»Wie ich es sagte: Wir könnten eine Ablenkung kreieren. Ich weiß nicht, wie Dad es anstellt, die Leute in seinen Bann zu ziehen, aber stell dir vor, wir würden einen ähnlichen Zauber wirken. Etwas, was die Leute vollkommen fasziniert. Und dann? Durchforsten wir die L. I. F. E. Inc. und versuchen die Beweise zu finden, die wir brauchen, um Dad das Handwerk zu legen.«

Vielleicht hat Darren recht und ein quirliges Event wäre eine gute Ausgangsvoraussetzung, sich in der L. I. F. E. Inc. umzusehen. Aber die Art von Zauber, die sein Dad anwendet, beherrsche ich nicht. Es wird mich einiges an Kreativität kosten, auch nur etwas in der Richtung zu entwickeln.

»Pass auf. Ich schicke euch ein paar Fotos der L. I. F. E. Inc. zu und du klärst, ob sie als Location überhaupt infrage kommen würde. Ich bin mir sicher, dass Dad einverstanden sein wird, das Gebäude zur Verfügung zu stellen. Ein Spendenevent für eine hiesige Bildungseinrichtung ist immer gut fürs Image. Und uns läuft die Zeit davon. Wir werden so schnell keine weitere Chance für einen Einbruch bekommen.«

»Was wird dein Dad tun, falls er uns dabei erwischt, wie wir beispielsweise in seinem Büro herumschnüffeln?«

»Ich weiß es nicht. Es wäre besser, er täte es nicht.«

»Unbefriedigend. Aber mal angenommen, wir wären in der Lage dazu, all die Menschen abzulenken: Wie sind wir dann besser als dein Dad, wenn wir unsere Begabungen dazu nutzen, um andere zu manipulieren?«

»Wie klingt: Der Zweck heiligt die Mittel.«

»Du meinst, sie für einen Moment abzulenken, um herauszufinden, wie wir sie vor anderweitiger Manipulation schützen können, ist das geringere Übel?«

»Meine ich«, bestätigt er. »Die Frage ist: Was denkst du? Bist du dabei? Ich will dich zu nichts drängen, was sich für dich nicht richtig anfühlt.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust und wende mich wieder seinen Seepferdchen zu, als könnten sie mir die Antwort geben.

Ich verstehe seine Sichtweise. Und mein Problem ist nicht, dass ich mir nicht einreden könnte, dass wir das Richtige tun. Im Gegenteil: Die Welt ist nicht nur schwarz und weiß, aber auch die Nuancen dazwischen sind alles andere als ein langweiliges Grau. Sie entwickeln einen Sog, dem ich mich kaum entziehen kann.

Was ist, wenn mein Zirkel recht hat, und Darren mich in Dinge verwickelt, die mir nicht guttun?

Und wie wichtig ist es überhaupt, gut zu sein, wenn es bedeutet, die Augen vor dem Bösen zu verschließen?

»Bin dabei«, murmle ich schließlich.

»Gut. Ich meine, das freut mich, aber …« Darren verstummt und räuspert sich.

Fragend sehe ich zu ihm auf, als er nicht weiterspricht.

»Ich möchte, dass du diese Dinge nur tust, wenn du es wirklich willst. Es ist okay, wenn du aussteigst. Ich würde dich nicht wieder stehenlassen und gehen.«

Täuscht es oder zeigt sich auf Darrens Wangen ein rosafarbener Schimmer? Ist es ihm unangenehm, dass er damals einfach aus unserer Wohnung verschwunden ist? Oder fällt es ihm schwer, über seine Gefühle zu sprechen? Wenn ich mich daran erinnere, wie sein Dad mit ihm redet, wäre es eigentlich kein Wunder.

»Fürs Protokoll«, sage ich entschieden. »Ich mache generell nur Dinge, die ich wirklich will.«

Und heute will ich den restlichen Abend mit ihm verbringen. Wir tun nicht viel mehr, als Seite an Seite auf seinem Bett zu sitzen und zu reden. Nicht über seinen Dad, das Studium oder Hexerei, sondern Serien, Filme und Bücher, die wir gern mögen. Am Ende schlafe ich an ihn gekuschelt ein, während auf seinem Laptop eine Netflix-Serie läuft. Vielleicht liegt es daran, dass meine letzte Nacht dank John alles andere als erholsam war, vielleicht fühle ich mich in Darrens Nähe einfach geborgen.

Ich werde irgendwann davon geweckt, dass ein Schmerz durch meinen Scheitel zuckt.

»Entschuldige, ich bin kurz weggenickt«, gesteht Darren und setzt sich wieder auf. Offensichtlich hat er mich kurz mit seinen Lippen berührt.

Verfluchter Fluch.

»Schon okay«, murmle ich und rücke ein Stück von ihm ab. »Ich sollte wohl besser rübergehen.«

Sag, dass ich bleiben darf , bettelt eine Stimme in mir, aber Darren zögert, bevor er nickt.

»Pass auf dich auf.«

Noch nie klang seine Bitte so sehr wie ein Rauswurf. Rational betrachtet gibt es keinen Grund dafür, deswegen enttäuscht zu sein. Aber Gefühle interessieren sich selten für Logik.

Als ich kurz darauf ins Nachbarhaus hinübergehe und mir auf der Straße ein eisiger Wind entgegenschlägt, muss ich fast über mich selbst lachen. Habe ich vorhin noch behauptet, dass ich generell nur Dinge tue, die ich will? Ich bin eine verdammte Heuchlerin. Denn wenn es so wäre, würde ich jetzt in Darrens warmem Bett liegen, statt bibbernd den Kragen meines Mantels höher zu ziehen, weil ich erbärmlich friere.