36. KAPITEL

Halloween-Nacht

»Happy Halloween!«, rufe ich in die virtuelle Runde.

Beim Anblick meines kitschigen Haarreifes mit Minikürbis schenkt Dawn mir einen skeptischen Blick, bei dem sie eine Augenbraue so hochhebt, dass sie unter ihrem grauen Pony verschwindet. Sie kratzt sich nachdenklich am Hals, an genau der Stelle, an der sie sich ein Kreuz hat tätowieren lassen. »Seit wann feiern wir das Fest auf diese Weise?«

»Oh, jetzt verdirb ihr doch nicht die Laune«, bittet Melissa mit französischem Akzent und wickelt sich eine ihrer roten Haarsträhnen um die Finger. »Schau, wie fröhlich sie aussieht. Und der orangefarbene Kürbis beißt sich auch fast gar nicht mit ihrer Haarfarbe.«

»Danke. Und ich bin nicht fröhlich, sondern voller Tatendrang«, korrigiere ich. Meistens verbringen wir Halloween in einer virtuellen Runde, um gemeinsam an besonderen Ritualen zu arbeiten, uns gegenseitig die Karten zu legen oder tatsächlich Gruselfilme per Stream zu sehen und uns darüber lustig zu machen. Da wir alle in verschiedenen Zeitzonen leben, loggt sich ein, wer gerade mag und Zeit hat.

»Somiya schläft übrigens längst und lässt euch ganz lieb grüßen. Und Maya ist schon wieder weg, weil sie von ihrem Freund entführt wurde«, berichtet Melissa.

»Ent- oder verführt?«, witzelt Dawn.

»Ich sehe keinen Unterschied«, behauptet Melissa und bringt mich und Dawn gleichermaßen zum Lachen – bis Dawn übertrieben ernst in die Kamera sieht und sich räuspert.

»Also Mädels, wofür wollen wir diese besondere Nacht nutzen? Recherchen? Rituale? Austauschen von Filmtipps?«

»Wo wir schon bei Recherchen und Ritualen sind: Ich könnte tatsächlich eure Hilfe brauchen«, gestehe ich. »Ich suche eine Art … Faszinationszauber. Es geht darum, dass jemand etwas tut – zum Beispiel musizieren –, was dermaßen einnehmend wirken soll, dass die Zuschauenden sich dem nicht entziehen können und alles um sie herum vergessen. Ich habe Runen gesehen, die Zauber verstärken können und in dem Raum, in dem der Zauber gewirkt werden soll, befinden sich außerdem die Runen, die ich euch letztens geschickt habe. Oh, und derjenige, der musiziert, ist der Sohn einer Sirene. Falls uns das irgendwie weiterhilft. Angeblich hat er das Sirenengen nicht geerbt, aber irgendwie schafft er es trotzdem jedes Mal, mich mit seiner Musik zu verzau…«

»Aha!«, unterbricht mich Dawn und hebt triumphierend den Zeigefinger. »DarkDuke ist also der Sohn einer Sirene?«

»Somit ist er mindestens reich oder gut aussehend«, schlussfolgert Melissa. »Oder sogar beides.«

»Wie kommst du darauf?«, frage ich verwirrt und verpasse den Moment, abzustreiten, dass es um Darren geht.

»Es ist doch völlig logisch. Weil Sirenen die Macht dazu haben, jeden Menschen zu bekehren, der sie interessiert. Jeden. Auf der ganzen Welt. Das bedeutet: freie Auswahl. Und wenn sie schon ihr Herz verschenken, dann meist an extrem gutaussehende Menschen oder Menschen, die so viel Geld besitzen, dass man ihnen die Welt zu Füßen legt. Ist doch selbstverständlich. Wer würde es anders machen?« Melissa zuckt mit den Schultern, als wäre es selbsterklärend und greift nach einem Tarot-Deck, das sie mischt. »Ich ziehe dir eine Impuls-Karte für die heutige Nacht.«

»Siehst du Gemmas verwirrten Blick? Irgendwas stört sie an deiner Sirenen-Theorie.«

»Ich frage mich nur gerade, was eine Sirene davon abhält, sich in jemanden zu verlieben, der einfach nur nett ist«, erwidere ich.

»Hast du mir nicht zugehört?« Melissa zieht die Augenbrauen zusammen. »Du hast freie Auswahl, also suchst du so lange weiter, bis du jemanden findest, der nett und gut aussehend ist.«

»Und dann kommt Gemma und schnappt ihn dir vor der Nase weg«, lästert Dawn.

Aber Melissa zuckt lediglich mit einer Schulter. »Wenn ich eine Sirene wäre, könnte ich ihn dank meiner Magie trotzdem jederzeit haben. Aber würde ich es in diesem Fall denn wollen?« Sie klimpert liebreizend mit den Wimpern. »Verrätst du uns irgendetwas über diesen mysteriösen Typen? Auf einer Skala von 1 bis 10: Sieht er gut aus? Und wie macht er sich im Bett?«

»Er ist nett, attraktiv, seine Familie hat Geld und ich weiß nichts über seine Qualitäten im Bett. Er hat zwar bei mir übernachtet, aber es ist nichts passiert, weil er nämlich obendrein anständig ist. So anständig, dass er niemals das Aussehen von Menschen benoten würde, weswegen ich es auch nicht tun werde. Reicht euch das als Information?« Ich bemerke jetzt erst, dass ich die ganze Zeit mit der Hand über meinen Unterarm reibe, als könnte ich Darren durch die Berührung des Mals näher sein. An ihn zu denken, erfüllt mich mit einer Mischung aus Wärme und Sehnsucht, die ich zu unterdrücken versuche. Er hat mich gefragt, ob wir diese Nacht zusammen verbringen wollen, ich war es, die abgelehnt hat.

»Imaginär. Du hast imaginär vergessen. So jemand kann unmöglich existieren«, flachst Dawn.

»Oder sie hat sich ernsthaft in ihn verguckt. Verliebte Menschen behaupten alle solche Sachen«, entgegnet Melissa mit einem Augenrollen. »Sag stopp.« Auf mein Signal hin zieht sie eine Karte und hält sie in die Kamera. »Wie wenig überraschend ist es Die Königin der Stäbe . Also entweder wirst du heute Nacht mit unserer Hilfe einen grandiosen Zauber entwickeln oder hast in eurer Beziehung die Hosen an. Ich war beim Mischen gedanklich ein bisschen abgelenkt. Ich meine: Sie hat DarkDuke gerade anständig genannt. Das zerstört mein Weltbild.«

»Ich mag ihn und würde ihm gern helfen. Wenn ihr dabei seid, bin ich euch dankbar, ihr könnt aber auch einen Gruselfilm laufen lassen und ich schau nebenbei zu.«

»Wir helfen dir«, sagt Dawn entschieden. »Und lassen trotzdem parallel dazu eine Hexenserie laufen. So zur Inspiration.«

Nachdem Melissa und Dawn ausgiebig darüber diskutiert haben, welche Serie ihrer Meinung nach die beste für diesen Anlass ist, recherchieren wir gemeinsam. Die Veranstaltung findet im November statt, der Stein des Monats ist der Turmalin und das Kraut des Monats Basilikum. Das alles sind Zutaten, die wir uns zunutze machen können, um den Ablenkungszauber zu verstärken. Aber wie soll er aussehen?

»Wenn ich es richtig sehe, hast du nicht viele Möglichkeiten«, fasst Dawn zusammen. »Wenn es eine Veranstaltung in einem fremden Gebäude werden soll, kannst du schlecht unbemerkt Runen auf den Fußboden zeichnen. Du könntest versuchen, den Gästen etwas in Getränke oder Snacks zu schmuggeln, aber auch dann kannst du nicht sichergehen, dass alle Anwesenden zugreifen. Immer noch riskant, aber am realistischsten wären meiner Meinung Zaubergläser oder Säckchen, die du an fünf strategischen Punkten im Gebäude verteilst. Oder was meinst du? Erde an Melissa?«

Melissa sieht blinzelnd auf. »Entschuldigt, es ist hier schon spät, und ich fasse immer noch nicht, dass wir dabei sind, DarkDuke zu helfen. Aber ja. Ich bin ganz bei dir. Gibt es irgendetwas, das ihr vor Ort verteilen könnt, was niemandem verdächtig vorkommen wird? Ihr braucht etwas, was zumindest für die Dauer des Zaubers von niemandem entfernt wird.«

Irgendwo habe ich eine E-Mail vom Organisationsteam mit Ideen für die Dekoration der Unterwelt, aber vielleicht ist das schon zu kompliziert gedacht. Oft sind die simpelsten Dinge die wirkungsvollsten.

»Die Firma verteilt Gratis-Wasserflaschen. Hier überall in der Stadt und auch dort in der Kantine. Vielleicht nehmen wir einfach einige von denen und schreiben mit Edding irgendwelche Namen darauf. Es ist ja nicht unwahrscheinlich, dass an einem langen Abend ein paar der Statisten des Theaterstücks ihre Flasche irgendwo am Rand abstellen.«

»Gut. Also wird Darren musizieren. Hast du jemanden, der dir dabei hilft, die Flaschen zu verteilen? Und was genau soll dann passieren?«

»Taro kann mir helfen.« Vielleicht würden auch Beryl und Hazel mich unterstützen, aber ich kann sie nicht fragen. Ich will nicht, dass sie sich als Komplizen eines Einbruchs schuldig machen. Und genau das ist auch der Grund dafür, dass ich Melissa und Dawn eine Antwort schuldig bleibe. Das, was passiert, sobald alle Darren lauschen, ist etwas, das ich nicht einmal meinen besten Freundinnen erzählen kann.

Erst als im Hintergrund von Melissas Livestream die ersten Sonnenstrahlen den neuen Morgen in Paris ankündigen, verabschiedet sie sich ins Bett.

Kaum hat sie sich ausgeloggt, sieht Dawn mich forschend an.

»Du weißt, dass du für diesen Zauber einen Zweig der Magie anzapfen musst, der im besten Fall dunkelgrau ist? Den Geist von Menschen auf diese Weise zu beeinflussen, zählt nicht mehr als harmlos.«

»Weiß ich«, bestätige ich. Immerhin soll der Zauber den eigenen Willen der Anwesenden zumindest für eine kurze Zeit unterwandern.

»Okay. Aber ich mache mir noch immer Sorgen um dich. Es gibt Zirkel dort draußen – mächtige Zirkel ‒, denen es nicht gefallen wird, wenn sich jemand so Talentiertes und selbst bei Laien Bekanntes wie du von der weißen Magie abwendet.«

»Ich habe nicht vor, meinen Plan öffentlich zu kommunizieren«, versichere ich erneut. »Ich bin mir bewusst, dass ich viele junge Followerinnen und eine Vorbildfunktion habe.«

»Und du weißt, dass ein paar von deinen treuen Followerinnen echt unanständige Enemies-to-Lovers-Fanfictions von dir und DarkDuke geschrieben haben?«, wechselt sie grinsend das Thema und schickt mir den Beweis via Chat. Es ist ihre Art, mir zu sagen, dass sie mir trotz allem vertraut.

Neugierig folge ich dem Link und bereue es kurze Zeit später. Ein paar der Geschichten sind wirklich schräg, aber irgendwie so unterhaltsam, dass ich sie mit Darren teilen muss.

Dass er sie gelesen hat, weiß ich, als er mir mitten in der Nacht schreibt.

Darren: Für jedes Mal, dass ich meinen üppigen Zauberstab in deinem samtenen Schmuckkästchen versenke, sollten wir eigentlich Schmerzensgeld bekommen. Ehrlich. Wie soll ich das jemals wieder aus meinem Kopf löschen?

Wenn du in einer Zauberstab-Schmuckkästchen-Situation noch Zeit hast, darüber nachzudenken, läuft etwas falsch, behaupte ich grinsend und meine es genauso.

Manche Menschen haben wirklich unanständige Fantasien, aber ich kann nicht behaupten, dass es mich stört. Oder dass ich einige davon nicht selbst schon gehabt hätte.

Darren: Ich habe übrigens mit Beryl gesprochen. Sie war skeptisch, aber hat eingewilligt, uns ein Wahrheitsserum vorzubereiten.

Das ist gut, denke ich. Auch wenn mein Gewissen noch immer leise Zweifel an unserem Vorhaben anmeldet.