46. KAPITEL

»Ich glaube, ich hab’s«, murmelt Darren, aber wirkt alles andere als enthusiastisch. Mit finsterer Miene nippt er an einem eiskalten Kaffee, den wir aus einem Automaten am Empfang des Motels gezogen haben. Meinen habe ich schon vor zwei Stunden geleert, doch Darren war so in seine Arbeit versunken, dass er ihn glatt vergessen hat. Unter anderen Umständen wäre es vermutlich nett hier. Das omnipräsente Blumenmuster auf Bettwäsche, Lampenschirm und Tapeten wirkt etwas erdrückend, aber alles ist sauber und ordentlich. Darren sitzt auf einem geblümten Ohrensessel und hat die Füße auf dem Doppelbett abgelegt. Er balanciert meinen Laptop und einige vollgekritzelte Zettel mit dem aufgedruckten Logo des Hotels auf seinem Schoß.

Mittlerweile habe ich all die nervigen Teile des elendigen Rehkostüms abgelegt und trage nur noch das Unterkleid. Auch Haarreifen und Blüten habe ich aus meinen Haaren entfernt.

Die letzten vier Stunden kam ich mir ansonsten reichlich untätig vor und wusste nichts so recht mit mir anzufangen. Also habe ich mir zwischendurch seine Jacke geliehen, um nicht nur in Unterwäsche bekleidet zu einem nahegelegenen Diner zu laufen und uns eine Kleinigkeit zu essen zu besorgen. Leider hatten sie um diese Uhrzeit nur noch ein paar trockene Muffins und Donuts als vegetarische Speisen, aber alles ist besser als nichts.

Ich pausiere die Runde, die ich barfuß auf dem weichen Teppich des Zimmers gedreht habe, und sehe ihn fragend an. »Und? Kannst du mir sagen, was in den Unterlagen steht, ohne dich in Lebensgefahr zu bringen?«

»Ich kann bestätigen, dass es ist, wie wir vermutet haben«, formuliert Darren möglichst unverfänglich und sortiert seine Notizen.

»Alle Aktivitäten der L. I. F. E. Inc. hängen zusammen«, murmle ich. Darren blickt mich nur stumm an, doch ich kann die Zustimmung in seinen Augen erkennen.

Ich setze mich auf die Bettkante und mustere sein Gesicht. »Okay. Wie wäre es, wenn ich es zusammenfasse, und du unterbrichst mich, wenn ich falschliege?«

Darren nickt.

»Für den S. P. E. L. L.-Zauber wird das Blut einer Sirene gebraucht. Oder von mehreren. Was nicht so verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass sie angeblich dafür geschaffen sind, Menschen zu manipulieren.«

»Korrekt.«

»Dein Dad nutzt den S. P. E. L. L.-Zauber, damit ihm niemand in die Quere kommt. Aber Sirenen sind selten und sensibel, und um sie am Leben zu erhalten, benötigt man unter Umständen die Medizin, die er für deine Mom entwickelt hat. Um diese herzustellen, braucht man wiederum die Lebensenergie von Menschen«, fahre ich fort. »Zum Beispiel Obdachloser wie John, weil es wahrscheinlich schlicht und ergreifend nichts anderes gibt, was der Magie des Lebens nahekommt.« Darren schweigt. Das fasse ich als weitere Zustimmung auf. »Aber das bedeutet, dass dein Dad tatsächlich Menschen opfert.«

»Ich weiß.« Fluchend reibt sich Darren mit der Hand über die Stirn.

Ich betrachte ihn. Seine angespannte Körperhaltung, die Verzweiflung in seinem Blick. »Wie geht es dir damit?«, frage ich vorsichtig.

»Keine Ahnung. Irgendwie habe ich wohl immer noch gehofft, wir würden uns irren.«

»Verständlich.« Vermutlich wünscht sich niemand, dass der eigene Dad Menschen umbringt. »Ich frage mich nur, was dein Dad mit diesem ganzen Aufwand verfolgt. All die Arbeit, all die Mühe – und alles, was er bezweckt, dient am Ende einzig dafür, deine Mom am Leben zu erhalten? Oder gibt es Aufzeichnungen darüber, dass er noch andere Pläne hat? Dass er vielleicht gedenkt, die Medizin meistbietend zu verkaufen oder etwas in der Art?«

»Dads Liebe zu Mom grenzte schon, so lang ich mich erinnern kann, an Besessenheit«, antwortet er ausweichend, reicht mir den Laptop und starrt schweigend vor sich hin.

»Woran denkst du?«

Mit einem Seufzer lehnt Darren sich im Sessel zurück. »Ein Teil von mir drängt mich dazu, mit Dad über diese Dinge zu reden. Dass ich ihn mit diesen Sachen konfrontieren sollte und seine Seite hören muss, bevor ich ihn verrate.«

»Wieso überrascht mich das nicht?«, murmle ich. Denn das tut es wirklich nicht. Auch DarkDuke hat die Menschen nie einfach nur im Internet vorgeführt. Er hat sie immer in seine vermeintliche Bloßstellung einbezogen, ihnen die Chance dazu gegeben, ihm zu beweisen, dass er falschliegt.

Ich wünschte, ich könnte irgendetwas Kluges sagen, um ihm mit seinen Gewissensbissen zu helfen. Doch mir kommt nichts in den Sinn. »Ich verstehe, dass es nur fair wäre, deinen Dad zur Rede zu stellen. Alles andere ist feige. Aber …«

»Du hast Angst vor ihm.«

Meine Antwort ist kaum mehr als ein Hauchen. »Ja.«

Nicht unbedingt um meinetwillen. Nicht nur. Ich weiß, zu was er in der Lage ist. Dass er mich mit seinen Zaubern zu einer willfährigen Marionette machen kann, denn noch immer habe ich nichts gefunden, was den S. P. E. L. L.-Zauber aufhebt. »Mal angenommen, wir schaffen es, ihn mit den geklauten Daten zu konfrontieren – und ihm irgendwie zu entkommen. Was dann? Er bringt Menschen um. Er versklavt ihren Geist. Was ist, wenn er Taro oder Hazel entführen lässt? Wenn er sie als Druckmittel einsetzt? Oder wenn er den S. P. E. L. L.-Zauber nutzt, um jeden in der Stadt nach uns suchen zu lassen? Wenn wir Bürgermeister Caden die Unterlagen geben, ist unsere einzige Chance, dass er uns glaubt und schnell handelt. Dass er deinem Dad nicht die Möglichkeit lässt, sich herauszureden oder einen Zauber zu wirken.«

»Wir haben auf jeden Fall genug Beweise zusammen«, versichert Darren und rauft sich die Haare. »Wenn er hiervon weiß, kann er unmöglich die Augen vor Dads Machenschaften verschließen.«

»Hoffen wir, dass er uns glaubt«, murmle ich.

»Dir«, korrigiert Darren widerwillig. Demonstrativ deutet er auf meine Hand.

»Mir«, stimme ich zu. Wir erinnern uns daran, was beim letzten Mal geschah, als Darren gegen seinen Fluch angekämpft hat. Wir sind beide nicht gewillt, diese Erfahrung zu wiederholen, also muss ich da allein durch, denn ich bin nicht dazu bereit, andere in diese Sache hineinzuziehen.

»Darren?«, frage ich leise, während ich an all die Menschen denke, deren Schicksal mit unserem verwoben ist. »Was ist mit deiner Mom? Wenn wir das hier durchziehen und die Machenschaften deines Dads beendet werden, wird sie vielleicht sterben.«

»Nicht vielleicht, sondern mit Sicherheit. Und wenn wir es nicht tun, werden stattdessen andere ihr Leben lassen«, antwortet er meinem Blick ausweichend. »Ich weiß, dass sie auf unserer Seite wäre.«

Wahrscheinlich hat er recht, dennoch fällt es mir schwer, mir vorzustellen, wie es ihm mit dieser Last gehen muss.

»Also verbringen wir die Nacht in diesem Zimmer, brechen morgen früh auf und fangen Caden vor seinem Büro ab?«, frage ich vorsichtig, weil ich kurz Angst davor habe, dass es am Ende ausgerechnet sein Gewissen ist, das uns den Plan vereitelt. Dass er doch noch darauf besteht, sich mit seinem Dad zu treffen.

Darren stellt den Laptop auf den Nachttisch und fährt sich erneut mit der Hand durch die Haare. Aber er nickt. »Ich könnte versuchen, Caden anzurufen, doch ich bezweifle, dass er nachts an sein Handy geht. Außerdem kopiere ich gerade den Inhalt der Festplatte auf deinen Laptop und er braucht noch etwa fünf Stunden, bis er damit fertig ist.«

Das sind fünf Stunden, in denen wir vielleicht schlafen sollten, nur bin ich zu unruhig, um die Augen zu schließen. Immer wieder werfe ich einen Blick auf mein Handy oder lausche, ob ich das Geräusch von sich nähernden Sirenen höre. Vielleicht bin ich vollkommen paranoid, aber diese ganze Situation macht mir zu schaffen.

Erschrocken zucke ich zusammen, als eine neue Nachricht auf meinem Handy eintrifft, doch sie ist nur von Hazel. Der Hazel, auf die Mr Hunter ein Auge geworfen hat.

Hazel: Geht es dir gut? Man hat mir erzählt, du hättest dich vorhin mit Darren gestritten und wärst dann verschwunden. Ich dachte, wir trinken zusammen noch etwas, um den Abend ausklingen zu lassen.

Gemma: Entschuldige, dass wir einfach abgehauen sind. Ja, wir haben uns gestritten – aber auch wieder vertragen. Ich verbringe die Nacht bei ihm, falls du verstehst. Sei mir nicht böse, wir holen die Feier nach und stoßen wann anders auf deine grandiose Aufführung an . – Ob ich mir schäbig dabei vorkomme, meine beste Freundin zu belügen? Oh ja, doch ich habe mir geschworen, sie nicht in gefährliche Dinge hineinzuziehen und bin noch immer fest entschlossen, mich an meinen Vorsatz zu halten.

Hazel: Dann bin ich ja beruhigt. Es waren übrigens alle begeistert von Darrens Überraschungsauftritt. Er war so, so gut. Vielleicht sollte er doch mit uns an der Allbright studieren.

Vielleicht sollte er das. Im nächsten Leben.