1. KAPITEL

New York City
Dienstag, 22. April 1902
17 Uhr

Der Tatort bot wahrhaftig ein Bild des Schreckens.

Francesca Cahill fröstelte, während ihr Blick auf der Toten ruhte. Das Opfer war nur in Korsett, Unterhemd und Schlüpfer gekleidet, und es lag in einer Blutlache, die die gleiche dunkelrote Farbe hatte wie ihr Haar. Eine Gänsehaut lief Francesca über den Rücken, die nichts mit den Temperaturen an diesem Tag zu tun hatte, war es draußen doch warm und sonnig – so wie es an einem perfekten Frühlingstag sein sollte.

Dass Frühling war, konnte man diesem Quartier jedoch nicht anmerken. Das Apartment entlang dem Bahndamm, in das Francesca so forsch geeilt war, bestand aus einem einzelnen schmalen, langen Zimmer. An jedem Ende fand sich ein Fenster, durch das Licht in den Raum fiel. Ein Backsteingebäude, das nur ein paar Schritt hinter diesem Haus errichtet worden war, verhinderte aber, dass es in der Wohnung je richtig hell werden konnte. Am gegenüberliegenden Ende des Zimmers befand sich das Bett, auf dem das Opfer lag.

Francesca stand in der Tür, hinter ihr der dunkle, muffige Hausflur. Vieles hier sprach dafür, dass das Opfer sein von Armut geprägtes Leben dennoch genossen hatte. Es gab ein kleines Sofa, dessen bräunlicher Bezug zerschlissen und stellenweise aufgerissen war. Auf dem ausgeblichenen Läufer stand ein Kübel mit Wasser, was vermuten ließ, dass sich das Opfer vor dem Zubettgehen noch die Füße darin gewaschen hatte. Dort, wo der Wohnbereich in so etwas wie das Esszimmer überging, standen ein klappriger quadratischer Tisch und zwei gleichermaßen ramponierte Stühle. Bei einem von ihnen war ein Bein mit einem Stück Schnur notdürftig repariert worden. Im Küchenbereich sah sie eine Arbeitsplatte aus Holz, auf der ein paar Teller und einige Küchenutensilien ihren Platz hatten. Daneben befand sich der Herd, der mit Holz geheizt wurde, außerdem ein Spülbecken, in dem eine Kanne und etwas Geschirr standen.

Als Francesca in die andere Richtung blickte, entdeckte sie einen Absperrbock der Polizei mit einem Schild, das jedem Unbefugten den Zutritt untersagte.

Neben der Toten stand ein stämmiger Mann von mittlerer Größe; sein Tweedanzug war stellenweise abgewetzt. Francesca erkannte den Mann auf Anhieb und räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen, bevor sie einige Schritte nach vorn machte. Ihr marineblauer Rock umwehte dabei ihre Beine; ein paar blonde Haarsträhnen hatten sich unter dem kleinen marineblauen Hut gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Sie trug Handschuhe und hielt eine Handtasche fest an sich gedrückt.

Abrupt drehte der Mann sich um. „Miss Cahill!“, rief er. Sie in diesem Apartment anzutreffen, überraschte ihn sichtlich.

Sie lächelte ihn warmherzig an und war fest entschlossen, sich nicht von der Grausamkeit der Tat abschrecken zu lassen, auch wenn das hier nicht ihr Fall war. Schließlich gab es keinen Klienten, der ihr den Auftrag erteilt hatte, diesen Mord zu untersuchen. „Guten Tag, Inspector Newman.“ Sie warf der Toten erneut einen Blick zu. Aus der Nähe betrachtet schätzte sie diese hübsche Frau etwa auf Anfang zwanzig. Newman hatte ihr die Augen geschlossen.

Er kam ihr einige Schritte entgegen. Ein dünner Film aus Schweißperlen stand auf seinem geröteten Gesicht, als er fragte: „Sind Sie auf den Fall angesetzt, Miss Cahill? Ist der Commissioner auch hier?“

Ihr Herz machte unwillkürlich einen Satz, als sie die Frage hörte. Sie hatte den Police Commissioner seit Wochen nicht mehr gesehen, sah man von den gelegentlichen Begegnungen im Bellevue Hospital ab, in dem sie seine Frau häufiger besucht hatte. „Tut mir leid, aber ich bin allein. Sieht das nach der Handschrift des Schlitzers aus?“, wollte sie wissen, während ihr Blick zum Opfer zurückkehrte, als sei sie eine Motte, die sich unablässig zur Flamme einer brennenden Kerze hingezogen fühlte.

Newman blinzelte sie an. „Es war ein Schnitt in den Hals, Miss Cahill, ähnlich wie bei den ersten beiden Opfern auch. Aber in diesem Fall haben wir es nun mit einer Toten zu tun. Für mich sieht es nach dem gleichen Täter aus, aber sicher können wir uns erst sein, wenn der Gerichtsmediziner den Leichnam untersucht hat.“

Francesca nickte und machte eine ernste Miene, während ihr Blick kurz auf Newman verweilte. Wenn man den Zeitungen glauben durfte – Francesca wusste nur zu gut, dass man genau das nicht immer tun konnte –, liefen die Attacken alle nach dem gleichen Muster ab. Laut der Tribune waren die ersten beiden Opfer jung, hübsch und von irischer Herkunft. Doch sie waren nicht ermordet, sondern lediglich mit einer Klinge am Hals verletzt worden – was für sie trotz allem ein fürchterliches Erlebnis gewesen war. Beim ersten Zwischenfall nahm noch kaum jemand davon Notiz, doch nach der zweiten Tat war die Sache bereits Sensation genug, um in die Schlagzeilen zu kommen. Das dritte Opfer war tot, was bedeuten konnte, dass es keinen Zusammenhang gab. Aber daran glaubte Francesca nicht für einen Augenblick.

Seit sie sich für den Beruf der Kriminalistin entschieden hatte, hatten ihre Instinkte sie kein einziges Mal im Stich gelassen. Und sie waren es jetzt auch, die ihr eines deutlich zu verstehen gaben: Hier war der Schlitzer am Werk gewesen – und diesmal hatte er den Einsatz drastisch erhöht.

Er war zum Mörder geworden.

Diese Tatsache machte den Fall eindeutig zu ihrer Angelegenheit, da nur zwei Häuser weiter Menschen lebten, die ihr sehr viel bedeuteten. „Wissen Sie schon, wie die Tote heißt?“, fragte sie leise und musterte die Position, in der die Frau auf dem Bett lag. Die Arme waren ausgebreitet, der Kopf war zur Seite gewandt. Es hatte ein Handgemenge gegeben. Und Francesca war fast sicher, dass die Tote ebenfalls eine Irin war.

„Ja, sie heißt Margaret Cooper.“ Auch Newman wandte seinen Blick wieder dem Opfer zu.

Irritiert nahm sie den Namen zur Kenntnis, der so wenig nach irischen Vorfahren klang wie ihr eigener. Es überraschte sie, dass sie sich geirrt hatte. Dennoch gab es ein Muster, nach dem der Täter vorging. Mit finsterer Miene näherte sie sich dem Bett, wurde aber von Newman aufgehalten. „Miss Cahill? Dürfen Sie überhaupt hier sein? Ich meine …“, er wurde tiefrot im Gesicht, „… das hier ist eine polizeiliche Untersuchung, und wenn der Commissioner nicht zugegen ist, dann bin ich mir nicht so ganz sicher, ob Sie …“

Francesca zögerte nicht. „Ich arbeite offiziell an diesem Fall, Inspector, und wir wissen doch beide, der Commissioner wird es befürworten.“ Sie lächelte ihn freundlich, aber bestimmt an. Ob Rick Bragg es wirklich immer noch im gleichen Maß befürworten würde wie früher, wusste sie nicht. So viele Dinge hatten sich so rasend schnell verändert.

„Na ja, es sieht so aus, als müsste ich das auch nicht entscheiden!“, gab Newman zurück, als er im Flur Schritte hörte.

Francesca musste sich nicht erst umdrehen, um zu sehen, wer in der Tür stand. Ihr ganzer Körper spannte sich an, als der Police Commissioner um den Absperrbock ging und das Apartment betrat.

Er war ein gut aussehender, charismatischer Mann, und es hatte einmal eine Zeit gegeben, da war er ihr wie der bestaussehende Mann der Welt vorgekommen – bis sie davon erfahren hatte, dass er verheiratet war und es mit seiner Ehe mal bergauf, mal bergab ging. Rick Bragg war etwas über sechs Fuß groß und breitschultrig, und wenn er ging, dann machte er weite, selbstsichere Schritte, sodass sein Mantel ihn förmlich umwallte.

Sein Teint war recht dunkel, umso heller wirkte sein goldblondes Haar. Ein Blick genügte, um zu wissen, dass er eine Autoritätsperson war, die sich von der Menge abhob. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie bei einer Party im Haus ihrer Eltern auf ihn aufmerksam geworden war. In dem Augenblick, da er den Raum betrat, hatte er ihr Interesse geweckt. Doch diese Zeit kam ihr nun so vor, als liege sie eine Ewigkeit zurück. Sie war damals noch eine andere gewesen als heute, daran gab es gar keinen Zweifel.

Ihre Blicke trafen sich und blieben aneinander haften.

Francesca bemerkte auf einmal, dass sie sich auf die Lippe biss und die Hände zu Fäusten ballte. Außerdem ging ihr Puls deutlich schneller. „Hallo“, sagte sie und versuchte, ihre Nervosität zu verbergen, was ihr schwer fiel. Es hatte eine Zeit gegeben, da waren beide ein Liebespaar gewesen. Jetzt dagegen war sie mit seinem ärgsten Rivalen verlobt – seinem Halbbruder, dem wohlhabenden, berüchtigten Calder Hart.

Sollte es ihn überraschen, sie hier anzutreffen, dann ließ er sich das nicht anmerken. „Francesca“, erwiderte er und blieb vor ihr stehen, während sein Blick weiter auf ihr ruhte und nicht ein einziges Mal zum Opfer abschweifte. „Das nenne ich aber eine Überraschung.“

Sie sah in seine bernsteinfarbenen Augen und erkannte auf Anhieb, wie erschöpft er war – geistig genauso wie körperlich. Sie verspürte Sehnsucht nach ihm. Ihr war bekannt, wie sehr ihm der Zustand seiner Frau zu schaffen machte. Mit einem Mal wollte sie mit ihm nicht mehr über Margaret Cooper reden, sondern über ihn, über seine Frau und über die beiden Pflegekinder, die sie hatten. Sie wollte seine Hand nehmen und ihm irgendwie helfen.

Doch stattdessen sagte sie mit einem kühlen Unterton: „Ich bin Isaacson vom Tribune begegnet.“ Dann versuchte sie, ihn anzulächeln, doch es kam ihr eher so vor, als würde sie eine Grimasse schneiden. Er sah sie nur weiter eindringlich an. Die Angst wurde stärker und veranlasste sie, ihre Handtasche noch fester mit beiden Händen zu umklammern. „Er muss im Präsidium gewesen sein, als die Meldung hereinkam. Als er mir sagte, es handele sich vielleicht um den Schlitzer und das Opfer sei in einem Haus an der Ecke zehnte Straße und Avenue A gefunden worden, da musste ich einfach herkommen. Maggie und ihre Kinder wohnen nur zwei Häuser weiter, Bragg“, sagte sie mit ernster Stimme.

„Ja, ich weiß“, entgegnete er, und sein Ausdruck wurde etwas sanfter. „Ich war auch um sie besorgt.“ Er zögerte und sah sie weiter aufmerksam an. Dabei fiel ihm auf, wie verkrampft sie ihre Handtasche festhielt.

Wieder lächelte sie ihn an, doch er erwiderte ihr Lächeln nicht. Ihm gegenüberzustehen, machte sie momentan nur verlegen. Was sollte sie tun oder sagen? Waren sie immer noch Freunde? Oder hasste er sie? Hatte er ihr vergeben, dass sie mit dem Mann verlobt war, den er von ganzem Herzen verachtete? Hatte er sich mit der Tatsache abgefunden, dass sie eines Tages Hart heiraten würde? Ihr selbst zumindest war inzwischen – wenn auch nach langen inneren Kämpfen – klar geworden, dass Bragg an die Seite seiner Frau gehörte.

Am liebsten hätte Francesca ihm in diesem Moment all ihre Fragen gestellt, doch sie wagte es nicht. Es wäre egoistisch von ihr, das zu tun. Aber bei Gott, es gab keinen anderen Menschen, den sie mehr bewunderte, keinen Mann, der großmütiger, entschlossener und ehrbarer war als Rick Bragg. Er war zum neuen Police Commissioner ernannt worden und hatte zugleich den Auftrag erhalten, das berüchtigte Police Department der Stadt neu zu strukturieren, um der dort herrschenden Korruption Herr zu werden. Aber dieser Auftrag kam einem Kampf gegen Windmühlen gleich. Er hatte einige Polizisten gefeuert, neue eingestellt, ganze Einheiten anders zusammengestellt, doch jeder winzige Fortschritt wurde für einen hohen Preis errungen. Die Presse verfolgte jeden seiner Schritte, die Geistlichkeit und die Reformbewegung forderten von ihm, noch mehr zu tun, während die Politiker das genaue Gegenteil anstrebten. Tammany Hall hatte die letzte Wahl verloren, regierte aber nach wie vor den größten Teil der Stadt. Er musste sich gegen Platts politische Organisation behaupten, doch der von den Reformern gewählte Bürgermeister stärkte ihm nicht immer den Rücken, da er fürchtete, im Lager der Arbeiterschaft Stimmen einzubüßen. Eine neue Wahl stand unmittelbar bevor, und Bürgermeister Low wollte sie nicht verlieren.

Für Bragg hieß das, dass er seinen Kampf ganz auf sich gestellt austragen musste.

Francesca wusste, er würde niemals aufgeben.

Und zu alledem kam, dass seine Frau im Krankenhaus lag, seit sie in einen tragischen Unfall mit einer Kutsche verwickelt worden war. „Ich hörte, Leigh Anne soll bald wieder nach Hause kommen“, sagte sie auf einmal und griff ohne nachzudenken nach seiner Hand. Er zuckte zusammen, als sich ihre Finger um seine schlossen. Als ihr bewusst wurde, was sie da tat, ließ sie ihn rasch wieder los.

„Ja, das stimmt. Sie werden sie schon morgen entlassen.“ Er mied ihren Blick.

Francesca kannte ihn so gut – zumindest hatte sie ihn gut gekannt. Jetzt dagegen vermochte sie nicht zu sagen, ob er sich aus Trauer oder aus Schuld von ihr abwandte. „Gott sei Dank, dass sie innerhalb weniger Tage das Bewusstsein wiedererlangt hat“, flüsterte Francesca, der ein leichter Stich durchs Herz ging. Warum konnte sie ihn nicht einfach in die Arme nehmen und ihn an sich drücken? Er musste von jemandem getröstet werden, daran gab es keinen Zweifel. Auch wenn sie mit einem anderen Mann verlobt war, würde sie Rick doch für alle Zeit lieben.

Er blickte finster drein und sprach kein Wort.

„Ist die Prognose unverändert die gleiche?“, wollte sie wissen. Mehrere Male war sie ins Krankenhaus gegangen, doch sie hatte das Krankenzimmer nie betreten, sondern nur die Braggs kommen und gehen sehen. Mit Leigh Anne war sie nie allein gewesen, weil sie sich vor der Ungewissheit fürchtete, wie die Frau auf ihre Anwesenheit reagieren würde, und sie hatte sie nicht aufregen wollen.

„Sie wird nie wieder gehen können.“ Er sprach mit tonloser Stimme und sah an ihr vorbei zu der Toten. „Wenn das das Werk des so genannten ‚Schlitzers‘ ist, dann jagen wir ab sofort einen Serienmörder.“ Er ging hinüber zum Bett.

Francesca folgte ihm, bis sie beide vor der Toten standen. „Aber die beiden ersten Opfer haben überlebt, wenn die Berichte stimmen, die ich gelesen habe.“

Mit finsterer Miene betrachtete er die Frau in dem Bett. Die Laken waren aus billiger, grober Baumwolle, und sie waren noch frisch gewaschen worden, ehe das Blut in sie eingezogen war. Das Haar der Frau war zerzaust, ein paar Strähnen lagen um ihren Hals. „Sie haben überlebt, aber jeder Angriff erfolgte im Abstand von einer Woche jeweils an einem Montag.“

„Oh“, sagte Francesca, die auf unbestimmte Art fasziniert war, auch wenn sie hier Zeuge einer schrecklichen Tragödie wurde. Dieser Punkt war von den Reportern nicht erwähnt worden. „Wurde diese Frau gestern getötet?“

„Man fand sie heute gegen Mittag. Aber ich wage die Vermutung zu äußern, dass sie gestern Abend umgebracht wurde, Francesca.“ Er warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu.

„Rick, ich habe gelesen, die ersten beiden Opfer sollen Irinnen Anfang zwanzig gewesen sein. Stimmt das?“

Er beugte sich über die Tote und strich die langen verschlungenen, dunkelroten Haare nach hinten, die sich um ihren Hals gelegt hatten. Ihre Kehle war brutal aufgeschlitzt worden. Francesca musste würgen, woraufhin sie rasch die Augen schloss und tief durchatmete. Ganz gleich, am wievielten Fall sie auch arbeiten würde, sie war sicher, sich niemals an Gewalt und Tod gewöhnen zu können. Zugegeben, bislang war sie nur in sechs Fällen aktiv geworden. Begonnen hatte ihre Karriere als Kriminalistin, als im vergangenen Januar der Nachbarssohn entführt wurde. Sie hatte nur helfen wollen, und sie hätte sich nicht träumen lassen, dass ihr Leben sich so nachhaltig verändern würde.

Bragg richtete sich wieder auf. „Ja, das stimmt. Beide kamen aus Irland und waren Anfang zwanzig. Beide lebten sie von ihren Ehemännern getrennt. Danach zu urteilen, wie dieser Schnitt aussieht, würde ich sagen, es war wieder das Werk des Schlitzers, diesmal jedoch mit tödlichem Ausgang.“

Francesca starrte vor sich hin, hatte ihren Verlobten vergessen und kämpfte nur noch gegen das Unbehagen an. „Diese Frau ist aber keine Irin. Sie heißt Cooper, ein Name, der amerikanischer nicht sein könnte.“

„Trotzdem ist ein Muster erkennbar. Drei attraktive junge Frauen, jede von ihnen ohne Vermögen, jede an einem Montag überfallen.“

Dem musste Francesca zustimmen. „Hältst du es für möglich, dass ihr Tod ein Versehen war? Oder denkst du, der Schlitzer braucht jetzt den besonderen Kick?“

„Ich kann es dir nicht sagen. Aber wenn sie wirklich gestern umgebracht wurde und wenn der Schlitzer weiter dem eingeschlagenen Kurs folgt, dann wird es in genau sechs Tagen das nächste Opfer geben.“ Er drehte sich zu ihr um. Wieder begegneten sich ihre Blicke.

„Wir werden diesen Mörder finden, Bragg. Das ist mein völliger Ernst.“

Schließlich begann er, sie anzulächeln. „Wenn ihn jemand finden kann, dann du.“

Diese intime Geste begeisterte sie, und sie erwiderte sein Lächeln. „Ich nehme an, es handelt sich um einen Mann, doch wir können eine Frau als Täter nicht ausschließen. Vergiss nicht, bei Lizzie O’Brien hatten wir zuerst auch gedacht, es sei ein Mann“, sagte sie mit Blick zurück auf einen ihrer früheren Fälle.

„Wie könnte ich das vergessen?“, gab er zurück. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich so, als erinnere er sich auf einmal an alles, was sich zwischen ihnen beiden abgespielt hatte. „Die vorangegangenen Opfer“, sagte er, nachdem er sich geräuspert hatte, „waren Kate Sullivan und Francis O’Leary. Keine von ihnen hat den Schlitzer gesehen, da er sie von hinten angriff. Aber die Indizien sprechen eindeutig für einen Mann.“

Sie nickte zustimmend. „Wer hat die Polizei alarmiert?“

„Eine Mrs O’Neil fand sie. Anscheinend wohnt sie gleich nebenan.“

Francesca erstarrte. „Bragg! Doch nicht etwa Gwen O’Neil?“ Vor ihrem geistigen Auge sah sie das Bild der hübschen rothaarigen Frau.

Er zog seine Augenbrauen hoch. „Ja, so heißt sie. Im Moment ist sie im Präsidium. Sie ist völlig außer sich“, fügte er an. „Kennst du sie etwa?“

„Nicht nur ich“, sagte sie und fasste seinen Arm. „Du kennst sie ebenfalls.“

Nachdem sie noch über eine Stunde mit Bragg zusammen am Tatort verbracht hatte, ging Francesca zwei Häuser weiter, um Maggie Kennedy aufzusuchen, die Näherin, mit der sie seit einer Weile gut befreundet war. In Gedanken versunken begab sie sich durch das schmale Treppenhaus hinauf zu der Wohnung, in der Maggie lebte. Ein Mörder lief frei herum. Ein Mann, dessen Opfer einiges gemeinsam hatten: Sie waren jung und hübsch, sie gehörten zur Arbeiterklasse, und sie wohnten alle im Umkreis von zwei Häuserblocks. Die beiden ersten Frauen, Francis O’Leary und Kate Sullivan, lebten zudem allein. Francis’ Ehemann schien vor gut zwei Jahren verschwunden zu sein, und Kate hatte ihren Mann verlassen. Margaret Cooper trug keinen Ehering, und in ihrer Wohnung deutete nichts darauf hin, dass sie mit einem Mann zusammenlebte. Offenbar war auch sie alleinstehend, auch wenn diese Vermutung erst noch bestätigt werden musste. Alle drei Opfer waren an einem Montag überfallen worden, jeweils im Abstand von einer Woche. Es war fast so gut wie sicher, dass es hier im Viertel am kommenden Montag zum nächsten Zwischenfall kommen würde.

Zum Glück lebten Francis O’Leary und Kate Sullivan noch, sodass sie sich mit ihnen unterhalten konnte – vielleicht sogar noch an diesem Nachmittag. Die Polizei hatte beide Frauen zwar befragt, dennoch war Francesca überzeugt davon, dass den Beamten etwas Wichtiges entgangen war. Schließlich hatte sich Bragg zu dem Zeitpunkt noch nicht persönlich um die Fälle gekümmert.

Auf einmal fiel ihr die Dinnerparty ein, die ihre Mutter gab. Sie stieß einen leisen Seufzer aus, da sie wusste, dass sie nicht fehlen durfte. Anderenfalls würde sie es teuer bezahlen, schließlich war Julia Van Wyck Cahill keine Frau, die es auf die leichte Schulter nahm, wenn man nicht tat, was sie geplant hatte. Die Befragungen – vor allem die von Gwen O’Neil – würden warten müssen, da es bereits nach sechs war. Es gefiel Francesca gar nicht, dass Gwen mit ihrer Tochter Bridget die Wohnung direkt neben der des Opfers hatte – so wie es ihr nicht behagte, dass Maggie mit ihren Kindern ebenfalls nur einen Steinwurf vom Tatort entfernt wohnte. Andererseits gab es in der Nachbarschaft noch Dutzende Frauen mehr, die in Armut lebten.

Als sie vor Maggies Wohnungstür stand, musste sie daran denken, wie weit sie und Bragg sich voneinander entfernt hatten. Vielleicht war es naiv von ihr gewesen zu glauben, sie beide könnten befreundet bleiben, sollte er sich wieder mit seiner Frau versöhnen und sie einen anderen Mann heiraten. Aber er liebte seine Frau, und sie ihrerseits schätzte Hart sehr. Seit er vor zwei Wochen in einer geschäftlichen Angelegenheit nach Chicago abgereist war, hatte sie Mühe, nicht immerzu nur an ihn zu denken.

Die Nachricht, dass man Leigh Anne morgen aus dem Krankenhaus entließ und sie nach Hause zurückkehrte, beruhigte Francesca. Sie fragte sich, ob sie wohl den Mut aufbringen würde, Leigh Anne dann endlich einen Besuch abzustatten. Kindergeschrei und lautes Lachen rissen Francesca aus ihren Gedanken, und sie musste unwillkürlich lächeln, als sie anklopfte. Maggie war verwitwet und zog allein vier Kinder groß.

Der elfjährige Joel Kennedy, vor kurzem noch ein Taschendieb und inzwischen Francescas unschätzbar wertvoller Helfershelfer, öffnete prompt die Tür. Der Junge hatte pechschwarzes Haar, die Hemdsärmel trug er bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Er kannte die Stadt wie seine Westentasche, und in der kurzen Zeit, die sie beide sich kannten, hatte er ihr mehr als einmal aus einer gefährlichen Situation geholfen. Sein Gesicht war gerötet, und er machte einen sehr verärgerten Eindruck. Sobald er Francesca erkannte, hellte sich seine Miene prompt auf. „Miss Cahill!“

Sie sah an ihm vorbei in die kleine Wohnung, in der normalerweise Ordnung herrschte. Nun aber trieben aufgewirbelte Gänsefedern durch das Wohnzimmer. Matt und Paddy, Joels jüngere Brüder, kugelten sich vor Lachen auf dem Boden und hielten die leeren Kissenhüllen in der Hand. Gegessen hatten die Kinder offensichtlich schon, da der Küchentisch mit Brotkrumen übersät war.

Joel folgte ihrem Blick und machte wieder eine finstere Miene. „Idioten“, sagte er. „Mum wird das nicht freuen, wenn sie sieht, dass die ganzen Federn hin sind.“

„Gab es heute keine Hausaufgaben?“, wollte Francesca wissen. Sie wusste, Maggie schickte Matt zur Schule, was für eine Familie aus der Arbeiterklasse recht ungewöhnlich war. Die meisten in Armut lebenden Familien waren nämlich auf das Geld angewiesen, das ihre Kinder dazuverdienten. Hinzu kam, dass die öffentlichen Schulen überlaufen waren, aber nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügten, um für einen geregelten Unterricht zu sorgen. Es war einfach eine Schande.

Joel konnte bereits lesen, daher ging er nicht länger zur Schule. „Er soll ein paar Buchstaben lernen“, entgegnete er mit einem Schulterzucken. „Aber er will jetzt keine Hausaufgaben machen, und ich habe keine Lust, mich mit ihm zu streiten. Ich habe was Besseres zu tun.“

Francesca schloss die Tür hinter sich, als Joels drei Jahre alte Schwester aus dem Schlafzimmer kam. Sie war offensichtlich eben erst aufgewacht. „Hallo, Lizzie“, sagte Francesca und strich dem noch schläfrig dreinblickenden Kind durch das seidige Haar, ehe sie sich wieder Joel zuwandte. „Wenn ihr mit dem Essen fertig seid, sollte sich Matt hinsetzen und seine Buchstaben lernen. Du kannst doch lesen, Joel. Willst du denn nicht, dass dein Bruder das auch lernt?“

Joel warf ihr einen wütenden Blick zu. „Sind Sie hier, Miss Cahill, weil es wieder was zu tun gibt? Es ist schon schrecklich lange nichts mehr passiert.“

Sie legte ihre Handtasche aufs Sofa. „Ja, deshalb bin ich hier. Und ich muss dir zustimmen. Es war in letzter Zeit wirklich sehr ruhig. Müsste deine Mutter nicht jeden Augenblick nach Hause kommen?“

„Ja, sie ist bald hier. Was für einen Fall haben wir denn diesmal?“, fragte er mit einem schelmischen Grinsen. Seine dunklen Augen funkelten.

Sie klopfte ihm sanft auf die Schulter. „Du und ich, wir sind vom gleichen Schlag“, erklärte sie stolz, wurde dann aber wieder ernst. „Zwei Häuser weiter wurde eine Frau umgebracht, Joel. Sie war eine Nachbarin von Gwen O’Neil.“

Er wurde blass. „Und Miss O’Neil und Bridget?“

„Den beiden geht es gut“, versicherte sie ihm. „Kannst du in der Nachbarschaft für mich ein paar Fragen stellen? Ich muss wissen, ob jemand Verdächtiges beobachtet wurde, der Margaret Cooper aufgelauert hat. Jemand, der sich vor ihrer Wohnung oder vor dem Haus aufgehalten hat. Hatte sie Angst vor irgendjemandem? Wusste sie, dass ihr Leben in Gefahr war? Mit wem war sie befreundet, wer hat sie in der letzten Zeit besucht? Wir vermuten einen Mann als Mörder, und es könnte sein, dass es sich um den Schlitzer handelt“, fügte sie an.

Joel hatte die Augen weit aufgerissen und nickte aufmerksam. „Ich kann sofort anfangen, wenn Mum zu Hause ist.“

„Womit willst du anfangen?“, fragte Maggie Kennedy, die in diesem Moment die Wohnung betrat. Im Arm hielt sie eine dicke Papiertüte mit ihren Einkäufen. „Francesca!“, rief sie freudig. „Wie schön, dich zu sehen!“

„Es gibt wieder einen Fall“, erklärte Joel hastig, während seine Mutter ihn umarmte. „Ein Mord! Hier in unserem Block!“

„Joel, bitte“, warf Francesca ein. „Lass mich es doch bitte erst erklären.“

Maggie drehte sich zu den beiden jüngeren Söhnen um, ihre Miene verfinsterte sich. „Was ist denn das für ein Durcheinander?“, fragte sie verärgert. „Ihr wisst genau, ich kann keine neuen Daunen bezahlen! Ihr sammelt jetzt sofort jede einzelne Feder ein. Schämt euch, ihr zwei!“, fügte sie mit bebender Stimme an.

Francesca wusste, dass Joel seine Mutter beunruhigt hatte. Sie legte eine Hand an Maggies Rücken und lächelte sie aufmunternd an. „Wollen wir uns nicht setzen?“

„Aber natürlich! Ich vergesse völlig meine Manieren!“ Maggie wurde rot, dann eilte sie zu dem kleinen Esstisch neben dem Herd und dem Waschbecken und zog einen Stuhl zurück. „Ich setze den Kessel auf, damit ich dir einen Tee machen kann.“

Francesca folgte ihr und nahm ihren Arm. „Bitte, Maggie, mach dir meinetwegen keine großen Umstände. Ich möchte sehr gern mit dir über diesen Fall sprechen.“ Sie warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

Maggie nickte langsam, dann nahmen sie beide Platz. Joel nutzte den Moment, um aus der Wohnung zu stürmen. Seiner Mutter gefiel das offensichtlich gar nicht. „Es kommt für mich einem Wunder gleich, dass er von dir Lohn erhält, aber … ich bin so sehr in Sorge.“

Es war Francesca schnell klar geworden, wie wertvoll Joel für ihre Arbeit sein konnte. Deshalb hatte sie ihm auch angeboten, als ihre rechte Hand aktiv zu werden. Natürlich war der Junge davon völlig begeistert gewesen. „Du weißt, ich würde ihn niemals vorsätzlich in Gefahr bringen“, versicherte sie Maggie.

„Ich weiß. Du hast mir das Leben gerettet, und du hast Joel gerettet, indem du ihn vor dieser Welt der Ganoven bewahrst.“ Einen Moment lang vergrub sie das Gesicht in ihren Händen, dann seufzte sie. „Ich bin wirklich sehr froh darüber, dass Joel für dich arbeiten kann.“

Francesca wusste, Maggie war von den vielen Stunden als Näherin in der Moe Levy Factory todmüde. „Wenn du es eines Tages nicht mehr willst, werde ich das sofort respektieren“, sagte sie und berührte sanft die Hand ihrer Freundin.

Nachdrücklich schüttelte diese den Kopf. „Der Junge betet dich an. Außerdem treibt er sich nicht länger auf der Straße herum, um hinter meinem Rücken Geldbörsen zu stehlen. Ich bin heute nur etwas aufgewühlt.“

Das war Francesca bereits aufgefallen, jedoch war ihr der Grund dafür nicht klar. „Gwen O’Neil hat ihre Nachbarin tot aufgefunden“, erklärte sie nach einer kurzen Pause.

Maggie gab einen erstickten Laut von sich, dann fragte sie: „Wie geht es Gwen?“

„Ich weiß nicht. Bragg sagte, sie sei ziemlich durcheinander gewesen. Heute Nachmittag war sie auf dem Revier, aber ich nehme an, sie ist bald wieder zu Hause. Wir vermuten, dass der Schlitzer erneut zugeschlagen hat. Aber im Gegensatz zu den vorangegangenen Opfern hat Margaret Cooper die Begegnung mit ihm nicht überlebt.“

„Ich kenne sie alle! Sie … sie wohnen doch allesamt hier in der Nähe.“

„Hattest du mit den Opfern zu tun gehabt?“, wollte Francesca wissen und beugte sich vor, da sie hellhörig geworden war.

„Ja, auf die eine oder andere Art“, erwiderte Maggie. „Francis und ich scheinen immer zur gleichen Zeit einkaufen zu gehen. Sie ist eine sehr nette Frau. Ich begegne ihr oft im Schmidt’s Grocery Store. Sie war doch immer so fröhlich“, fügte sie im Flüsterton an. „Vor kurzem erst hat sie mir noch erzählt, sie treffe sich mit einem Mann, von dem sie glaube, ersei etwas ganz Besonderes.“

Francesca setzte sich auf. „Ist sie nicht die Frau, deren Mann vor einiger Zeit verschwunden ist?“ Sollte dies der Fall sein, dann war sie immer noch verheiratet.

„Ich weiß, sie war mal verheiratet, aber ich hielt sie für verwitwet“, entgegnete Maggie überrascht.

Bragg war mit ihr zusammen die Akte durchgegangen, daher wusste sie mit Sicherheit, dass Francis O’Leary keine Witwe war. „Weißt du zufällig, wie der Mann heißt, mit dem sie sich trifft?“

„Nein, davon hat sie nichts gesagt. Aber sie wohnt nur zwei Blocks entfernt.“

„Ja, in der zwölften Straße.“ Francesca nahm sich vor, die Frau gleich morgen zu befragen. „Wo arbeitet sie?“

„Sie ist Verkäuferin bei Lord and Taylor“, sagte Maggie. „Aber als ich ihr gestern in der Kirche begegnete, sah sie schrecklich aus. Es könnte sein, dass sie noch nicht wieder arbeiten geht.“

Francesca hörte sich all das gut an. Wenn sie morgen früh genug aufbrach, würde Francis O’Leary sicher noch zu Hause sein. „Und du kanntest auch Kate Sullivan und Margaret Cooper?“

„Nun, Kate kenne ich nicht wirklich, aber sonntags in der Kirche grüßen wir uns immer. Sie scheint sehr nett zu sein, allerdings etwas schüchtern. Mit Gwen bin ich enger befreundet“, schluchzte Maggie.

Das Gesagte veranlasste Francesca, noch einmal die Situation zu durchdenken. Sie alle waren hart arbeitende Frauen, die im gleichen Viertel wohnten und sich immer wieder einmal begegneten. „Sei bitte sehr vorsichtig“, sagte sie schließlich zu ihr.

Maggie horchte auf, wurde blass und sah erschrocken zu ihren Kindern. „Margaret Cooper lebte fast nebenan, die anderen wohnen nicht viel weiter von hier entfernt. Glaubst du, ich bin in Gefahr?“

„Keines der drei Opfer hatte Kinder“, antwortete Francesca wahrheitsgemäß, dennoch hielt sie es für möglich, dass ihre Freundin in Gefahr schwebte. „Halte nur einfach die Augen offen“, riet sie. „Und keine Sorge, ich bin mir sicher, dass die Kinder nicht in Gefahr sind. Und es spricht vieles dafür, dass dir ebenfalls nichts passieren wird. Dennoch sollten wir vorsichtig sein. Nächsten Montag wirst du mit den Kindern bei mir bleiben.“

„Du meinst, bei euch zu Hause?“, fragte sie verdutzt.

Francesca nickte. Es wäre nicht das erste Mal, dass Maggie mit den Kindern im Haus ihres Vaters an der Fifth Avenue übernachtete. „Der Schlitzer scheint immer montags zuzuschlagen, Maggie. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, weiter nichts.“ Sie versuchte ein aufmunterndes Lächeln, doch es wirkte besorgter, als ihr lieb war.

Maggie zögerte. „Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen“, meinte sie schließlich.

„Wir sind Freundinnen“, betonte Francesca. „Es kann gar nicht aufdringlich erscheinen.“

„Ich werde darüber nachdenken“, sagte Maggie ein wenig zurückhaltend. „Vielleicht ist der Schlitzer bis dahin schon gefasst worden.“

„Das will ich doch sehr hoffen, Maggie“, erwiderte Francesca mit Nachdruck.

Ein wenig von dem Optimismus schien nun auf Maggie abzufärben. Ihre Haltung entspannte sich merklich. Ihr Blick wanderte zum Tisch, und ohne aufzusehen fragte sie schließlich leise: „Ist Evan heimgekehrt?“

Francesca antwortete nicht sofort, sondern lehnte sich auf ihrem Stuhl nach hinten und dachte daran zurück, wie sehr sich ihr Bruder um Maggie und die Kinder gekümmert hatte, als die für kurze Zeit ins Haus der Cahills eingezogen waren. Nicht zum ersten Mal überlegte sie, ob sie möglicherweise Zeuge eines romantischen Funkens geworden war, der zwischen den beiden übersprang. Doch die Kombination schien undenkbar – eine Näherin von der Lower East Side und der Sohn eines Millionärs. Man durfte allerdings nicht vergessen, dass ihr Vater Evan erst vor kurzem enterbt hatte. „Nein, er wohnt weiterhin im Fifth Avenue Hotel. Und ich bin stolz darauf, dass er sich so konsequent gegen Vater behauptet.“

„Wie ich hörte, hat er eine Arbeit angenommen“, fuhr Maggie fort, hielt den Blick aber weiterhin gesenkt.

„Ja, als juristischer Angestellter.“ Francesca war nicht entgangen, welches Kopfschütteln dieser Entschluss in der feinen Gesellschaft ausgelöst hatte. Niemand verstand, wie er der Familie und dem Vermögen den Rücken kehren konnte.

Nach einer kurzen Pause sagte Maggie: „Wir haben ihn nicht mehr gesehen, seit er letzten Monat herkam, um mit den Kindern in den Park zu gehen.“

„Seit er ausgezogen ist, sehe ich ihn auch nur noch selten“, gab Francesca zurück. „Es muss belastend für ihn sein, als Angestellter zu arbeiten und in einem Hotel zu leben.“

„Ich vermute, er trifft sich immer noch mit der Countess Benevente“, murmelte Maggie.

Francesca überlegte einige Sekunden lang, was sie darauf antworten sollte, entschied sich dann aber für die Wahrheit. „Ja, die beiden werden oft zusammen gesehen. Evan fühlte sich schon immer zu starken Frauen wie Bartolla Benevente hingezogen.“

Schließlich sah Maggie auf. „Sie ist sehr hübsch, und die beiden sind ein schönes Paar. Wenn er sie heiratet, macht er einen guten Fang, findest du nicht auch?“ Sie lächelte, aber ihre blauen Augen blieben ausdruckslos.

Es gab keinen Zweifel. Maggie Kennedy empfand viel für

Evan, aber die Voraussetzungen für eine ernsthafte Bindung waren denkbar ungünstig. Selbst wenn Evan genauso empfinden sollte, würde es äußerst schwierig werden, die Hürden zu überwinden, die zwischen ihnen existierten. Doch er empfand nicht genauso, das war nicht zu übersehen, da er sich viel zu intensiv der hübschen Countess widmete. „Ja, es wäre standesgemäß“, antwortete sie schließlich. „Aber ich weiß nicht, ob Evan für eine Heirat bereit ist, ganz gleich mit wem, Maggie. Nachdem er die Familie verlassen hat, wird er einige Zeit brauchen, um sein Leben neu zu ordnen.“

Abrupt stand Maggie auf. „Er wird eines Tages heimkehren, da bin ich mir sicher. Ich glaube, ich setze jetzt besser mal das Teewasser auf.“

„Gute Idee“, stimmte Francesca ihr zu, die froh war, nicht weiter über ihren Bruder reden zu müssen.

Die Nacht war angebrochen, von den frühlingshaften Temperaturen des Tages war nichts mehr zu spüren. Francesca fröstelte, als sie das Haus verließ, und sie wünschte sich, sie hätte ihren Mantel zur Hand gehabt. Jetzt, da die meisten Arbeiter Feierabend hatten, herrschte im Viertel reges Treiben. Männer und Frauen waren auf den Straßen unterwegs, eine Gruppe Jugendlicher spielte Stockball und ignorierte dabei einen schwerbeladenen Karren, der vorüberfuhr. In einer Eckkneipe drängten sich die Gäste, viele der Fenster standen offen, im Lokal brannten Kerzen, und das Aroma von gebratenem Fleisch zog hinaus auf die Straße, die von Gaslaternen erhellt wurde.

Francesca war nicht mit der Cahill-Kutsche nach Downtown gefahren, was sie jetzt bedauerte, da in dieser Gegend allem Anschein nach keine Droschken unterwegs waren. Wenn sie vier Blocks zu Fuß ging, konnte sie den Pferdeomnibus nehmen, der quer durch die Stadt fuhr, und am Union Square in eine Droschke umsteigen. Doch es war bereits dunkel, und zahlreiche raue Gesellen bevölkerten nun die Straßen. Als zwei muskulös aussehende Männer an ihr vorübergingen und sich dann nach ihr umdrehten, um sie in ihrem feinen Rock mit Jacke anzustarren, kam ihr der unerfreuliche Gedanke, dass der Schlitzer durchaus einer dieser Passanten sein konnte.

Aber er würde vor dem nächsten Montag nicht wieder zuschlagen – vorausgesetzt, er hielt sich an das Verhaltensmuster, das er bislang an den Tag gelegt hatte.

Sie wünschte, sie wäre jetzt nicht allein gewesen. Zum Glück trug sie in ihrer Handtasche eine kleine Pistole, da die Erfahrung sie gelehrt hatte, sich notfalls verteidigen zu müssen. Sie drückte die schlichte schwarze Tasche an sich, dann machte sie sich auf den Weg. Hart würde außer sich sein, wenn er gewusst hätte, dass sie sich allein in der Dunkelheit hier aufhielt und zu Fuß unterwegs war.

Jemand mit einem Kind an der Hand eilte unversehens auf sie zu und rempelte sie an. Francesca verkrampfte sich und ging weiter, um niemanden zu provozieren, als plötzlich jemand von hinten nach ihr griff. Ihr Herz raste vor Angst wie wild.

„Miss Cahill!“, hörte sie eine Frau mit einem breiten irischen Akzent sagen.

Francesca drehte sich erleichtert darüber um, dass es kein Mann war, der sie ansprach. Sie sah in das Gesicht einer verängstigten, beunruhigten Frau, die sie im nächsten Moment als Gwen O’Neil erkannte. Die kleine Bridget stand daneben und drückte sich an ihre Mutter. „Mrs O’Neil! Was haben Sie mir einen Schrecken eingejagt!“

Gwen ließ los und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Gesicht war kreidebleich. „Nicht zu glauben, dass Sie das sind! Welch eine Wohltat, ein freundliches Gesicht zu erblicken.“

Francesca hatte ihre Fassung wiedererlangt und erkannte, dass Gwens Erleichterung deutlich größer war als ihre eigene. Die Frau sah aus, als würde sie jeden Moment vor Angst davonlaufen wollen. Sie lächelte Bridget an, doch ein Blick genügte, um zu erkennen, dass die Elfjährige über den Mord an ihrer Nachbarin Bescheid wusste. Sie stand wie erstarrt da, ihre Augen wirkten in dem schmalen Gesicht übermäßig groß. „Mrs O’Neil“, setzte sie an und hoffte, die beiden würden sich wieder beruhigen. Auch wenn sie bereits jetzt zu spät dran war, um noch rechtzeitig zur Dinnerparty ihrer Mutter zu kommen, konnte sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Sie würde die beiden nach Hause begleiten, um Gewissheit zu haben, dass sie in Sicherheit waren, und sie würde zumindest kurz mit Gwen reden. Wenn sich die Möglichkeit ergab, war sie auch einem ausführlichen Gespräch nicht abgeneigt.

Aber Gwen trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, sah sich immer wieder um und konnte keinen Hehl daraus machen, wie verängstigt sie war. Francesca fasste sie am Arm. „Mrs O’Neil? Was ist los? Stimmt etwas nicht?“

Die Frau machte den Mund auf, brachte aber keinen Ton heraus. Es war Bridget, die schließlich mit tränenerstickter Stimme antwortete: „Jemand verfolgt uns.“