8. KAPITEL

Mittwoch, 23. April 1902
22 Uhr

Gwen konnte ihren Ehemann einfach nur anstarren, als sie ihn in ihre Wohnung brachten.

Francesca hatte eine andere Reaktion erwartet. Zwar war Gwen immer noch kreidebleich und hatte die Augen weit aufgerissen, doch sie wirkte keineswegs schockiert, allenfalls überrascht, was für Francesca Bände sprach.

Hart schubste Hanrahan, damit der sich auf einen Küchenstuhl setzte. Dann zog er einen zweiten Stuhl zurück und nahm selbst ebenfalls Platz. Er wirkte noch immer aufgebracht, und Francesca hoffte, es hatte mit Hanrahan zu tun, aber nicht mit ihrem gedankenlosen Verhalten vor wenigen Minuten. Doch sie wusste, dass sie darauf nicht wirklich hoffen konnte.

„David?“, flüsterte Gwen verblüfft.

Er nickte und machte eine finstere Miene.

„Du warst das? Du hast da draußen gestanden?“

Wieder ein Kopfnicken. „Ich habe das Recht, hier zu sein! Du bist meine Frau?“, fuhr er sie plötzlich an.

Gwen vergrub das Gesicht in ihren Händen und stieß einen lauten Schluchzer aus.

Auf einmal kam Bridget in ihrem hellen Flanellnachthemd hinter dem Vorhang hervor. Erstaunt betrachtete sie den Besucher. „Daddy?“

Francesca ging rasch zu ihr, während Gwen herumwirbelte und einen spitzen Schrei ausstieß. Sie legte einen Arm um das Mädchen, als Bridget sagte: „Das warst du wirklich. Ich habe dich heute nach der Schule gesehen!“ Sie begann zu zittern. Das Kind war unübersehbar verwundert, den Vater hier in der Wohnung zu erblicken.

Für Francesca war damit aber noch lange nicht klar, ob sich Bridget auch darüber freute, den Vater wiederzusehen.

„Ja, das war ich“, erwiderte David tonlos. „Hallo, mein kleines Püppchen.“

Bridget rührte sich nicht von der Stelle, und im nächsten Moment hatte sich bereits Gwen zwischen die beiden gestellt. „Du hältst dich von ihr fern?“, fauchte sie David an, der mit einem verächtlichen Laut reagierte.

Die Kleine drückte sich fester an Francesca, der es nicht gelang, die komplizierten Verhältnisse in dieser Familie zu entwirren. „Joel, gehst du mit Bridget bitte für einen Augenblick in den Flur?“, bat sie.

Joel wurde zwar rot, als er zu Bridget ging, verhielt sich aber freundlich. „Komm mit. Dein Papa hat noch genug Zeit für dich, wenn Miss Cahill und Mr Hart fertig sind.“

Besorgt sah die Kleine zu Gwen. „Mommy?“

„Geh ruhig, Baby“, flüsterte Gwen so leise, dass sich ihre Lippen kaum bewegten. „Es wird nicht lange dauern, ich hole idch gleich wieder.“

Joel nahm ihre Hand, dann begaben die Kinder sich in den Hausflur. Francesca trat einen Schritt vor. „Sind Sie heute Nachmittag Ihrer Frau gefolgt, als sie von der Arbeit nach Hause fuhr?“, fragte sie Hanrahan geradeheraus.

Er machte eine finstere Miene. „Und wenn ich’s gemacht habe? Es ist mein gutes Recht.“

Hart erhob sich abrupt. Es war eine bedrohliche Geste, und Hart ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, wie ernst es ihm war. „Kein Mann hat das Recht, seiner Frau nachzustellen“, warnte er ihn leise.

David Hanrahan sah ihn boshaft an. „Sie ist meine Frau, und das heißt, sie gehört zu mir. Sie hatte kein Recht, wegzulaufen und nach Amerika zu gehen. Sie hat kein Recht, überhaupt keines!“ Dann fügte er ein klägliches „Sir“ an.

Dem Gesetz nach hatten Frauen tatsächlich kaum die Freiheit zu entscheiden, was sie aus ihrem Leben machen wollte. So weit stimmte Hanrahans Behauptung. Gwen konnte sogar gezwungen werden, mit ihm heimzukehren.

„Du hast mich weggeschickt!“, hielt Gwen dagegen. Ihre Hände zitterten. „Du hast gesagt, du willst mich niemals wieder zu Gesicht bekommen!“

„Ich hab’s mir anders überlegt“, konterte er trotzig. Er zitterte ebenfalls, jedoch vor Wut.

„Wie lange sind Sie Ihrer Frau schon gefolgt?“, wollte Francesca wissen.

Er zuckte mit den Schultern.

„Dann möchten Sie doch lieber zum Polizeipräsidium gebracht werden?“, fragte Hart beiläufig.

David wurde bleich. „Ich bin ihr nicht gefolgt“, beteuerte er, aber Gwen reagierte nur mit einem abfälligen Schnauben.

„Wirklich nicht! Ich war auf der Straße, ich hatte gehofft, mit ihr reden zu können. Aber sie will ja nicht mit mir reden! Sie haben’s doch selbst gesehen! Ich will sie zurückhaben, und sie spricht nicht mal mit mir.“ Er sah zwischen Francesca und Hart hin und her, als erhoffte er sich von ihnen Unterstützung für sein Anliegen.

Gwen ging zur Spüle und stellte sich so, dass sie den Besuchern den Rücken zuwandte. Sie drehte den Wasserhahn nicht auf, hielt aber krampfhaft einen leicht gesprungenen Teller in den Händen.

Was für ein seltsames Verhalten, wunderte sich Francesca. „Gwen? Ich habe das Gefühl, nicht sehr zu überraschen, dass Ihr Mann Ihnen bis nach Amerika gefolgt ist und eine Versöhnung anstrebt“, sagte sie und ging zu der Frau. „Wie lange wissen Sie schon, dass er im Land ist?“

Gwen rührte sich nicht, als sie antwortete: „Seit ein paar Wochen etwa.“

„Wann ist er aus dem Gefängnis gekommen? Stimmt es überhaupt, dass er wegen versuchten Mordes verurteilt worden war, wie Sie sagten?“, fragte Francesca.

„Sie konnten mir gar nichts nachweisen!“, rief David dazwischen.

„Ja“, bestätigte Gwen nach kurzem Zögern.

„Er zog die Anzeige zurück“, knurrte David. „Der Lord gab zu, dass es eine Lüge war. Er gab zu, dass ich nie versucht habe, ihn umzubringen.“

Gwen schluchzte laut, während sich Francesca zu David umdrehte. Sie zweifelte daran, dass er die Wahrheit sprach. Er hasste Lord Randolph, vielleicht sogar so sehr, dass es zu einem Mordversuch reichte. Hatte Randolph tatsächlich die Anzeige zurückgezogen? Oder war Hanrahan in Wahrheit geflohen? „Woher wussten Sie, wo Sie Ihre Frau und Ihre Tochter finden würden?“

„Sie erzählte einer Nachbarin, Mrs Reilly, dass sie über Father Culhane zu erreichen sei. Sie hatte seine Adresse hinterlassen. Der gute Father war sehr hilfsbereit und verriet mir, wo ich meine Familie finden konnte.“ David starrte Gwen an; von Francesca schien er keine Notiz zu nehmen.

„Ich komme nicht mit zurück“, erklärte Gwen mit heiserer Stimme. „Nicht nach Irland und auch nicht zu dir!“

„Du machst einen großen Fehler“, erwiderte er.

Das war unüberhörbar eine Drohung an Gwens Adresse. „Haben Sie beide schon über eine Versöhnung gesprochen?“

„Ich gehe nicht zu ihm zurück“, erklärte sie lautstark.

„Bitte“, sagte Francesca eindringlich. „Ich stelle diese Fragen aus einem guten Grund. Ich brauche Ihre ehrliche Antwort.“

Gwen sah sie mit Tränen in den Augen an und nickte. „Ja, gleich als er in die Stadt kam, fragte er mich, ob ich mit ihm zurückkomme. Ich sagte klar und deutlich, dass ich das nicht will.“

Diese Antwort war das, was Francesca hatte hören wollen. Sie sah zu Hart, ihre Blicke trafen sich. Wenn sie sich nicht irrte, wusste er genau, was sie in diesem Moment dachte. Er nickte knapp, damit sie auf dem eingeschlagenen Weg weitermachte.

„Wo waren Sie am letzten Montag zwischen Mittag und sechzehn Uhr, Mr Hanrahan?“, fragte sie, sicher, dass sie ihren ersten echten Verdächtigen hatten.

Zu dieser späten Stunde ging es im Polizeipräsidium ungewöhnlich ruhig zu. Gut die Hälfte der Dienst habenden Polizisten dösten an ihren Tischen. Hart legte seinen Arm um Francescas Taille, als sie den Empfangsbereich verließen, wo sie David Hanrahan übergeben hatten, damit er über Nacht in Gewahrsam genommen wurde. Francesca drehte sich überrascht zu Hart um, als sie am Kopf der Treppe stehen blieben, die zurück auf die Straße führte. Ihre Blicke trafen sich, und er lächelte sie flüchtig an, während sein Griff ein wenig fester wurde.

Ihre Arbeit war für diesen Abend erledigt. Es war spät, doch jetzt waren sie endlich allein. Francesca war noch immer aufgeregt, weil es ihr endlich gelungen war, einen Verdächtigen dingfest zu machen. Doch Harts Geste weckte in ihr ein ganz anderes, warmes Gefühl, das sich mit der Aufregung mischte. „Ich darf annehmen, dass du nicht länger wütend auf mich bist“, meinte sie lächelnd.

„Um ehrlich zu sein, ich bin entsetzt“, murmelte er. In seinen Augen war ein sanftes Leuchten zu sehen.

„Wir haben einen Verdächtigen, Hart“, jubelte sie.

„Ja, du hast einen Verdächtigen“, stimmte er ihr zu.

Als er sie in die Arme nahm, strich eine sanfte Brise über sie hinweg. „Freut dich das nicht? Hanrahan hat ein Motiv, und er kann kein Alibi vorweisen.“

„Wenn er der Mörder wäre, könnte ich mir vorstellen, ihm müsste etwas Besseres einfallen, als zu behaupten, er sei am Montag durch die Stadt gezogen, um eine Arbeit zu suchen. Und er hätte dann wohl auch ein Alibi für die beiden Montage davor, was er aber nicht hat.“

Ihre freudige Erregung wurde durch seine Worte ein wenig abgeschwächt, als habe man Luft aus einem Ballon gelassen. „Aber er ist nicht besonders klug.“

„Nein, das ist er wirklich nicht.“ In Gedanken verloren strich er über die feinen Nackenhaare. „Sei nicht gleich zu enttäuscht. Immerhin hat er ein Motiv. Vielleicht ist er wirklich der Mör der.“

„Der Schlitzer ist ein intelligenter Mann“, widersprach sie. Dessen war sie sich so gut wie sicher. Der Schlitzer war mit Sicherheit kein gewöhnlicher Gauner.

„Das weißt du nicht.“

„Ich fühle es aber.“

Er legte die Hände auf ihre Schultern. Das Kleid, das sie trug, wies kleine Schulterklappen auf, und obwohl sie darüber noch ihren Schal gelegt hatte, wirkte seine Berührung erregend. Ihr Körper spannte sich an, und sie sah ihm in die Augen. „Ich habe noch nie erlebt, wie jemand sich so leichtsinnig verhalten kann wie du heute Abend“, murmelte er.

Seine Schenkel fühlten sich steinhart an, als sie sich gegen ihn drückte. „Ich wollte nur helfen“, sagte sie leise und legte ihrerseits die Hände auf seine Schultern.

„Ich weiß“, entgegnete er im Flüsterton. „Und genau das macht mir solche Angst.“

Sie stöhnte leise auf, als er seine Hände über ihren Rücken nach unten gleiten ließ. „Hör nicht auf“, sagte sie.

„Ich würde dich gern in diesem Kleid sehen, aber ohne dein Korsett“, erwiderte er und beugte sich vor. Mit einer Hand schob er den Schal zur Seite und küsste die nackte Haut ihrer Schulter.

Funken schienen zu sprühen, die ein Feuer entfachten, das sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete. „Ohne Korsett?“, wiederholte sie atemlos. Wie gewagt das sein würde! Und wie sehr ihr dieser Gedanke gefiel!

„Ja, ohne Korsett“, bestätigte er und gab ihr einen einzigen Kuss auf den Hals. „Kein Korsett, kein Unterhemd, kein Höschen, nur Schuhe, Strümpfe und dieses wundervolle Kleid.“

Sie fühlte, wie sie schwach wurde. Irgendwie gelang es ihr, die Augen zu öffnen, um zu sehen, wie eindringlich Hart sie musterte. „Das ist ja schockierend“, brachte sie heraus und hoffte, angemessen empört zu klingen.

Hart begann zu grinsen. „Du bist nicht schockiert.“ Er gab ihr einen Kuss auf den Mund, der in seiner Zartheit unendlich prickelte.

„Nein …“, hauchte sie und öffnete ihren Mund in der Hoffnung, seine Zunge an ihrer fühlen zu können, doch er hielt sich zurück. Stattdessen küsste er Stück für Stück ihre Lippen. „Wann, Hart?“

Wieder lächelte er. Während sie redeten, hatte er sein Gewicht ein wenig verlagert, sodass sie deutlich spürte, wie erregt er war. Das Verlangen in ihr wurde intensiver.

„Was ‚wann‘, Darling?“ Jedes Wort war wie ein sanfter Lufthauch, bei dem sich sein Atem mit ihrem mischte. „Wann werde ich dich küssen? Oder wann werde ich dich bis in den Himmel entführen?“

Sie griff nach seinen Revers und drückte sich fester an ihn. Ihre Blicke trafen sich, und er wurde ernst. „Wann kann ich das Kleid für dich anziehen?“, flüsterte sie.

So eng waren ihre Körper aneinander gepresst, dass sie merken konnte, wie das Blut durch seine Adern pulsierte. „Ein solches Spiel sollte warten, bis wir verheiratet sind. Und bis wir Zeit hatten, zunächst einmal die traditionelleren Formen der körperlichen Liebe zu erkunden.“

Am liebsten hätte sie ihm in diesem Moment einen kräftigen Schlag auf die Nase verpasst. „Und warum fängst du dann jetzt damit an?“

„Weil mir der Gedanke kam, das ist alles. Aber es war unflätig, gedankenlos und verlockend, nicht wahr? Ich entschuldige mich dafür.“ Sein Grinsen bewies, dass er das Gegenteil davon meinte.

Francesca stand weiter eng an ihn gepresst, unfähig, sich zu bewegen, und nahezu unfähig, Atem zu holen. „Wir müssen uns lieben, Hart.“

„Ja, das müssen wir.“

Seine Antwort verblüffte sie.

Er ließ sie los und sagte: „Diese Zeit des Werbens um dich ist für mich sehr schwierig geworden, Francesca.“

Diese Worte überraschten sie so, dass sie nicht wusste, was sie erwidern sollte.

„Ich bin ein Mann mit grundlegenden Bedürfnissen“, erklärte er schulterzuckend. „Und ich bin es gewöhnt, diese Bedürfnisse mit großer Häufigkeit zu befriedigen.“ Er entfernte sich einige Schritte weit von ihr. Die Hände hatte er in die Hosentaschen geschoben, der Blick war zum Mond gerichtet.

Meinte er das, was sie vermutete? Sie nahm ihren Mut zusammen, dann stellte sie sich zu ihm. „Ich weiß, wie wichtig es für dich ist, dich mir gegenüber ehrbar zu verhalten.“

„Es ist mehr als nur wichtig“, sagte er, ohne sie anzusehen. Sein Blick wanderte zwischen den Sternen umher.

„Warum?“ Sie achtete darauf, ihn nicht anzufassen. Sein Verlangen war so groß, dass es durch eine simple Berührung, ja sogar durch einen einzigen Blick entzündet werden konnte.

Er zuckte mit den Schultern.

„Auch wenn wir miteinander schlafen würden, wäre es immer anders als mit den anderen Frauen“, machte sie deutlich. Seine Vergangenheit war von den unterschiedlichsten Frauen geprägt, die aber alle eines gemeinsam hatten: Erfahrung. Sie waren geschieden, verwitwet oder verheiratet und suchten nach einem Liebhaber. Mit einer unschuldigen Frau hatte Hart noch nie zu tun gehabt.

„Das weiß ich“, gab er zurück.

„Warum also? Ich weiß, du bist erfahren genug, um sicherzustellen, dass ich nicht schwanger werde …“

Er drehte sich plötzlich zu ihr um. „Es geht um mich, nicht um dich.“

„Ich verstehe nicht“, sagte sie irritiert.

„Ich verstehe es ja selbst kaum“, erwiderte er mürrisch.

Vorsichtig zog sie an seinem Ärmel. „Bitte, Calder. Versuch, es mir zu erklären.“

„Da ist dieser Mann … ein anderer Mann … ich kann ihn fühlen … er existiert tatsächlich.“

Was er damit sagen wollte, war für sie nicht nachvollziehbar.

Wieder wanderte sein Blick zum Nachthimmel. „Nach dem Entschluss, dich zu heiraten, hätte Calder Hart dich schon vor Monaten verführt, ohne Rücksicht auf deine Unschuld zu nehmen. Calder Hart war mehr als versucht gewesen, und das mehr als nur einmal, weil er dich so sehr begehrt. Jetzt, da er mit dir verlobt ist, kümmert sich Hart nicht länger um deine Unschuld. Hart hat bereits mit dem Gedanken gespielt, dich noch vor der Hochzeit zu verführen. Er ist der Verwirklichung dieser Absicht sehr nahe gekommen.“

Warum nur redete er von sich in der dritten Person, als meine er einen Fremden?

„Aber jemand anderes hat die Bühne betreten“, fuhr er mit einem verächtlichen Laut fort. „Jemand Besseres. Jemand, der sehen kann, dass auch an einem grauen, regnerischen Tag die Sonne scheint. Jemand, der die Sonne dem Regen vorzieht.“

Sie begann zu verstehen. Ihr Herz stockte, Tränen stiegen ihr in die Augen. „Oh, Calder.“

„Er ist nicht so egoistisch, er will ehrbar sein.“ Endlich sah er wieder zu ihr. „Ich drücke mich wohl nicht sehr verständlich aus, oder?“

„Oh“, flüsterte sie. „Ich verstehe dich ganz genau.“

„Ja“, gab er leise zurück. „Nur du kannst es verstehen.“ Er berührte ihr Gesicht, ließ dann aber die Hand sinken.

Francesca begann zu weinen, doch er drückte sie nicht an sich, sondern steckte die Hände wieder in die Hosentaschen und sah hinaus in die Nacht. Nach einem kurzen Schweigen fuhr er fort: „Dieser andere Mann … das ist der Mann, der ich sein will, seit ich dich kenne.“

Das Geschäft für Damenhüte, in dem Kate Sullivan arbeitete, lag eineinhalb Blocks nördlich des Ehrich Brothers’ Emporium an der Sixth Avenue, nur ein kleines Stück von der Ecke zur 23. Straße entfernt. Obwohl es ein Ladenlokal von bescheidener Größe war, verfügte es über ein beachtliches Schaufenster, in dem schlichte Kappen, elegante Hüte und feine Seidenschals ausgelegt waren. Drinnen gab es eine einzelne Theke und ein Regal mit weiteren Modellen. Francesca suchte das Geschäft am nächsten Morgen auf und stellte sich der Inhaberin vor. Kurz darauf wurde Kate aus dem Lager gerufen.

Das zweite Opfer des Schlitzers war eine hübsche blonde Frau, die an diesem Tag einen dunklen Rock und eine weiße Bluse trug. Als sie auf Francesca zukam, war ihre Blässe nicht zu übersehen.

„Mrs Hathorne erwähnte, Sie seien eine Kriminalistin“, sagte Kate.

„Ja, das ist richtig.“ Francesca reichte ihr eine Visitenkarte, doch Kate schenkte ihr keine Beachtung. Sie wirkte verängstigt und verzweifelt. „Ich ermittle im Fall der Verbrechen, die der Schlitzer begangen hat, und ich würde Ihnen gern einige Fragen stellen.“

Kate schien den Tränen nahe zu sein. „Aber ich habe der Polizei doch bereits alles geschildert.“ Sie ging zu den beiden Stühlen, die in einer Ecke des Geschäfts standen, und setzte sich hin. Dem äußeren Eindruck nach zu urteilen, drohte sie jeden Moment ohnmächtig zu werden.

Francesca folgte ihr. „Kann ich Ihnen vielleicht ein Glas Wasser bringen?“

Sie schüttelte den Kopf und flüsterte: „Ich versuche, das alles zu vergessen. Aber wie soll mir das gelingen? Sobald ich die Augen schließe, sehe und höre ich ihn wieder.“

„Sie haben ihn gesehen?“ Francesca hockte sich neben ihr hin. „Davon stand nichts im Bericht.“

Sofort schüttelte Kate nachdrücklich den Kopf. „Nein, ich sah ihn nie, Miss Cahill. Er packte mich von hinten. Aber ich sehe ihn trotzdem vor mir, diesen großen, eleganten Mann.“

Das ergab keinen Sinn. Francesca setzte sich zu ihr auf den freien Stuhl. „Wie meinen Sie das?“

Kate zuckte mit den Schultern. „Ich meine, ich kann mir vorstellen, wie er aussah. Ich weiß, er war groß, weil ich selbst für eine Frau schon recht groß bin – ich bin fast eins fünfundsiebzig groß. Und er war ein ganzes Stück größer als ich. Ich hatte mich gerade ausgezogen, als …“ Tränen liefen ihr über die Wange.

„Brauchen Sie ein wenig frische Luft?“, fragte Francesca sie mitfühlend.

Kate nickte, und die beiden gingen nach draußen auf die Sixth Avenue. Eine Hochbahn ratterte vorüber und ließ die Gebäude zu beiden Seiten erzittern. Auf der überfüllten Straße wurde immer wieder wüst gehupt, und der Fahrer eines Lastkarrens läutete lautstark seine Glocke. Fußgänger schoben sich in beide Richtungen an den zwei Frauen vorbei.

„Geht es Ihnen jetzt besser?“

Nachdem Kate tief durchgeatmet hatte, schien sie ihre Fassung zurückzugewinnen. „Mir wird jedes Mal übel, wenn ich nur an ihn denken muss.“

„Das kann ich gut verstehen. Dieser Mann muss gefasst werden, Miss Sullivan.“

„Oh ja, unbedingt.“ Sie lächelte schwach. „Ich habe über Sie gelesen, Miss Cahill, über Sie und über Ihre Fälle. Wie es heißt, sind Sie mit dem wohlhabendsten Junggesellen der Stadt verlobt, mit Mr Hart.“ Die Tränen ließen ihre Augen schimmern.

„Diese Arbeit bedeutet mir sehr viel“, erklärte Francesca, die Bemerkung über ihre private Situation bewusst ignorierend. Sie ertappte sich jedoch auch dabei, wie es ihr schmeichelte, dass man sie für interessant genug hielt, um über sie zu schreiben. „Also packte der Schlitzer Sie von hinten, nachdem Sie sich ausgezogen hatten.“

„Ja“, bestätigte Kate. „Ich hatte ihn vorher überhaupt nicht bemerkt, aber ich war auch sehr müde, weil ich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war. Mrs Hathorne hatte mich gebeten, früher ins Geschäft zu kommen, um ihr bei der Inventur zu helfen. Es war ein sehr langer Tag, so lang, dass ich beinahe im Stehen eingeschlafen wäre. In diesem Moment zog ich noch meinen Morgenmantel über, im nächsten hatte er einen Arm um mich gelegt, und in der anderen Hand hielt er das Messer.“

„Und er war groß, wie Sie sagten.“

„Ja. Und elegant.“

„Elegant? Wie kommen Sie darauf?“, fragte Francesca. David Hanrahan war eindeutig kein eleganter Mann, doch Kate konnte sich auch irren. Den Opfern von Gewaltverbrechen unterliefen oft Fehler, wenn es darum ging, den Täter zu beschreiben.

„Seine Kleidung“, antwortete Kate. „Sein Jackett war aus sehr feiner Wolle, wie sie nur ein Gentleman tragen würde.“

„Sind Sie sich da ganz sicher?“

„Ich konnte den Ärmel sehen, Miss Cahill. Er gehörte zu einem sehr gut geschneiderten dunkelgrauen Anzug. Es war ein sehr feiner Ärmel.“

„Und Sie sind sich in diesen Punkten völlig sicher?“

„Ja, das können Sie mir glauben. Ich sah auch die Hand, mit der er mich umfasst hielt und die auf meinem Bauch lag – nicht die Hand, in der er das Messer hielt.“

Francesca verschlug es angesichts solch hervorragender Details fast den Atem. „Und?“

„Seine Hände waren zart und glatt, nicht die schwieligen, geröteten Finger eines Arbeiters. Und dann war da noch ein Ring. Ich kann mich nicht genau an ihn erinnern, aber es war ein goldener Ring – mit einem Stein. Welche Farbe er hatte, weiß ich leider nicht mehr.“ Ihre Augen blitzten auf. „Er war ein Gentleman, daran habe ich nicht den mindesten Zweifel.“

Das Ganze war einfach unglaublich, dachte er sich, während er von seiner Position auf der anderen Seite der Sixth Avenue aus das Schaufenster des Hutgeschäfts beobachtete. Es war unglaublich, dass diese berüchtigte Francesca Cahill mit der Suche nach dem so genannten Schlitzer begonnen hatte, dass sie es wagte, die ersten beiden Weibsbilder aufzusuchen und ihnen Fragen zu stellen, obwohl die Polizei sich bereits darum gekümmert hatte. Und es war unglaublich, dass sie es wagte, ihn entlarven zu wollen.

Dass sie klug war, wusste er. Schließlich hatte er alles über sie gelesen, was geschrieben wurde. Doch er war sich sicher, dass sie nicht mal halb so klug war wie er.

Er beobachtete die beiden, wie sie vor dem Geschäft standen und sich unterhielten. Er hasste sie so sehr, dass er zu zittern begann.

Oh Gott, wie sehr er sie alle hasste, alle diese treulosen Weibsbilder. Ihre Versprechen konnte er noch mitzählen, doch die Lügen waren so zahlreich, dass er längst aufgegeben hatte, sie nachzuhalten. Jetzt war ihm klar, dass er sie hätte töten sollen, anstatt sie nur zu warnen.

Seine Finger zuckten nervös, und er steckte die Hand in die Tasche, in der sich das Messer befand.

Er hatte seine Pläne ändern müssen.

Dieses Weibsbild würde sterben.