17. KAPITEL

Freitag, 25. April 1902
21 Uhr

Francesca war viel zu aufgewühlt, um zu merken, ob ihr zu warm oder zu kalt war. Zitternd stand sie gegen die verputzte Terrassenumrandung gelehnt da und sah nach unten zu den Kutschen und Kutschwagen auf der Madison Avenue. Sie hielt sich schon länger auf der Terrasse auf, doch Hart war nicht gekommen, um nach ihr zu suchen.

Wollte er wirklich die Verlobung auflösen?

Sie war so durcheinander, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte, aber eines war sicher: Irgendetwas stimmte nicht mit Hart. Er benahm sich kühl und abweisend, als wolle er sie wegstoßen. War das nur eine schlechte Laune, die bald wieder verging? Oder hatte er tatsächlich seine Meinung geändert, was sie beide anging?

Der Gedanke, ihn womöglich zu verlieren, schmerzte sie unerträglich.

Während sie sich das Gesicht rieb, dachte sie zurück an den heutigen Morgen. Da war alles noch in bester Ordnung gewesen. Und jetzt, nur wenige Stunden später, war nichts mehr so wie zuvor. Was war nur geschehen?

Allmählich begann sie, klarer zu denken. Irgendetwas hatte sich in der Zwischenzeit zugetragen. Niemand verabschiedete sich noch am Vormittag bestens gelaunt von seiner Verlobten und setzte dann am Abend so mir nichts, dir nichts der Beziehung beinahe ein Ende. Aber war das überhaupt wichtig? Der bloße Gedanke, sie könnte ihn verlieren, brach ihr schon das Herz. Sie hätte auf den Rat ihres Vaters hören sollen, auf Daisys Warnung, ja sogar auf Harts eigene Erklärungen. Stattdessen hatte sie glauben wollen, er sei ein anständiger, ehrbarer Mann, ein Schaf im Wolfspelz. Doch jetzt war es zu spät. Sie hatte sich längst in ihn verliebt und war so verwundbar wie noch nie zuvor.

Das eigentliche Problem bestand allerdings darin, dass ein Teil von ihr auch jetzt noch fest daran glaubte, er sei ein guter und ehrbarer Mann. Ein Teil von ihr wollte einfach nicht aufhören, an ihn zu glauben.

Sie rieb sich die Augen. Irgendwie würde sie um sein Herz kämpfen müssen. Sich einfach zurückzuziehen und aufzugeben, kam nicht infrage, dafür stand zu viel auf dem Spiel. Dafür liebte sie ihn zu sehr.

Der Gedanke allerdings, Calder Hart nachzustellen, hatte etwas Erschreckendes an sich. So viele Frauen hatten das vor ihr schon versucht, und sie alle waren gescheitert.

„Francesca? Sind Sie das?“, hörte sie auf einmal hinter sich eine Männerstimme.

Die Stimme klang vertraut, doch nachdem sie mit dem Handrücken schnell ein paar Tränen weggewischt und sich umgedreht hatte, sah sie ein Stück entfernt einen ihr fremden, schlaksigen Mann stehen.

„Ich bin es, Richard Wiley“, sagte er, während er näher kam. „Was machen Sie denn so allein hier draußen?“

„Ach, Mr Wiley, hallo“, gab sie zurück, erleichtert darüber, dass sie sich bei ihm nicht so sehr zusammenreißen musste. Einmal hatte Julia versucht, sie mit Richard zu verkuppeln, doch das lag eine Ewigkeit zurück. „Ich bin mit einem neuen Fall beschäftigt und versuche die Fakten in meinem Kopf zu sortieren“, log sie.

„Als wir uns das erste Mal begegneten, waren Sie auch so beschäftigt“, sagte er und lächelte sie an. Das braune Haar rahmte ein ovales Gesicht ein, das recht angenehm anzusehen war, aber bei ihr keine Begeisterung auslöste. „In den letzten Monaten habe ich oft über Sie in der Zeitung gelesen.“

„Es scheint so, als hätte ich meine Berufung gefunden“, erwiderte sie. „Die kriminalistische Arbeit macht mir großen Spaß.“

„Und Sie sind sehr gut in dem, was Sie tun. Darf ich Ihnen übrigens zu Ihrer Verlobung mit Mr Hart gratulieren?“

Irgendwie gelang es ihr, bei der Erwähnung seines Namens ein Lächeln aufzusetzen. „Danke.“ Ein weiterer Gast kam auf die Terrasse. Beunruhigt stellte Francesca fest, dass es sich um Countess Benevente handelt. Sie wollte bei Bartolla auf keinen Fall den Eindruck erwecken, zwischen ihr und Hart könnte etwas vorgefallen sein.

„Darf ich Sie nach drinnen begleiten?“, fragte Wiley. „In Ihrem Kleid muss es Ihnen hier draußen doch kalt sein.“

Bartolla kam näher und war ersichtlich darauf aus, mit ihr zu reden. Sie wusste, die Countess ließ sich nicht von etwas abbringen, was sie sich vorgenommen hatte, und hier in der Dunkelheit würde sie ihr nicht so schnell ansehen können, ob ihr Mienenspiel irgendetwas verriet. Schließlich sorgten lediglich zwei weit voneinander entfernte Gaslichter für eine schwache Beleuchtung. „Oh, ich genieße diesen schönen Aprilabend lieber noch ein wenig länger.“

Wiley ging und nickte Bartolla zu, die sich zu Francesca stellte. „Was machst du denn allein hier draußen? Wo ist dieser memmenhafte Mann, den du deinen Verlobten nennst? Du holst dir noch den Tod!“

Francesca zwang sich zu einem Lächeln und atmete tief durch. „Ich ermittle in einem neuen Fall und versuche gerade, die bisherigen Resultate zu ordnen. Ich bin nicht in Partylaune.“

Bartolla legte einen Arm um sie. „Darling, egal in welcher Laune du bist – aber hältst du es für eine gute Idee, Hart völlig unbeaufsichtigt zu lassen?“

Dass diese Frau ihr ein Messer ins Herz jagen würde, war ihr von vornherein klar gewesen. Sie presste einen Moment lang die Augen zu, dann sah sie Bartolla an. „Was meinst du damit?“

Die Frau sah sie an und wurde allmählich ernst. „Du bist sehr aufgebracht“, stellte sie ablenkend fest und berührte Francescas Hand.

„Eine Frau, die sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, wurde gestern ermordet“, gab Francesca zurück und versuchte, wütend zu klingen. „Was mir im Moment vor allem durch den Kopf geht, ist ihr Tod. Und ich frage mich, was getan werden muss, um weitere Morde zu verhindern.“

Wieder musterte Bartolla sie schweigend. „Weißt du, Francesca, du bist die tapferste Frau, die mir je begegnet ist, und wahrscheinlich auch die aufrichtigste.“

„Das möchte ich bezweifeln“, sagte Francesca beunruhigt.

Bartolla rieb sich über die Arme, um die Kälte zu vertreiben, die von einem leichten Wind auf die Terrasse getragen wurde. „Du bist mir gegenüber immer ehrlich und freundlich gewesen. Du versteckst dich doch hier draußen, nicht wahr?“, fragte sie leise.

„Nein, keineswegs, Bartolla“, widersprach Francesca viel zu überhastet.

Wieder ruhte Bartollas kritischer Blick auf ihr, und das sich anschließende Schweigen begann, Francesca nervös zu machen. Als Bartolla endlich wieder etwas sagte, war ihr Tonfall ein anderer. Sie klang etwas sanfter. „Hast du wirklich geglaubt, mit Hart liiert zu sein, könnte so einfach sein?“

Sie biss sich auf die Lippe, da sie wusste, sie durfte mit Bartolla nicht über ihre privaten Angelegenheiten reden. Dieser Frau konnte man nicht über den Weg trauen. Auf der anderen Seite wollte sie unbedingt jemandem ihr Herz ausschütten, und Bartolla kannte Hart gut genug.

„Nur eine sehr dumme Frau würde so etwas glauben“, erwiderte Francesca und versuchte zu lächeln.

„Und eine sehr kluge Frau hätte ihn sofort zum Teufel geschickt, nicht wahr?“, ergänzte Bartolla.

Francesca musste ihr zustimmen, ob sie es wollte oder nicht. „Es ist sehr schwierig, ihm zu widerstehen. Wenn er will, kann er sehr überzeugend sein.“

„Und heute Abend genießt er es, mit einer anderen Frau zu flirten. Habt ihr beide euch gestritten?“

Sofort versteifte Francesca sich. Dann hatte Bartolla es also gemerkt. War womöglich die ganze Welt Zeuge geworden, wie er seine Aufmerksamkeit nicht auf seine Zukünftige richtete, sondern auf eine andere Frau? „Ich habe nichts dagegen, wenn er flirtet“, sagte sie. „Es bedeutet mir nichts – und ihm auch nicht.“

„Als ich heute herkam, war ich noch recht boshaft gestimmt“, meinte Bartolla daraufhin nachdenklich. „Ich dachte, ich könnte mich auf deine Kosten in eine bessere Stimmung versetzen. Als ich auf die Terrasse kam, wollte ich eigentlich nur Salz in deine Wunden streuen. Aber ich mag dich, Francesca. Daher werde ich dir einen Rat geben.“

Francesca rührte sich nicht. Welche Taktik schlug Bartolla nun ein?

„Geh wieder hinein, Darling, und kämpfe für das, was du willst“, erklärte sie. „Aber steh nicht hier draußen herum, um wie ein kleines Kind zu schmollen und Tränen zu vergießen.“

So ungern sie es zugeben wollte, hatte Bartolla doch recht. Sie versteckte sich hier und schmollte – und sie erging sich in Selbstmitleid. Sicher, sie wollte um Hart kämpfen, aber sie hatte Angst, sich dafür mit Darlene Fischer und Frauen von ihrem Schlag messen zu müssen. „Ich weiß nicht, ob ich das kann“, flüsterte sie. „Ich bin nicht halb so schön wie all die Frauen, die er bislang bevorzugt hat.“

Bartolla drückte sie an sich. „Unsinn! Zugegeben, an deiner Garderobe für den Tag könntest du etwas tun, und vor allem solltest du dich endlich von diesen grässlichen blauen Anzügen trennen. Aber du bist genauso verlockend wie die anderen. Es ist alles nur ein Spiel, Francesca, selbst dann, wenn du es wagst, dich wirklich zu verlieben. Das Kleid stimmt, der Hüftschwung ebenfalls, genauso der Blick. Das ist der richtige Augenblick.“

„Ich bin wohl kaum eine Verführerin“, protestierte sie.

„Jede Frau ist eine Verführerin“, widersprach Bartolla sofort. „Du musst einfach nur besser sein als die anderen, und da du weitaus gescheiter bist als wir alle, dürfte das wohl kein Problem für dich sein.“

Auf dem Ölgemälde hatte sie sehr verführerisch ausgesehen, das musste sie selbst sagen. Und mehr als einmal war Harts Reaktion auf sie die gleiche gewesen, wie sie sie bei einer Femme fatale erwartet hätte. „Aber etwas stimmt nicht. Irgendetwas nagt an ihm.“ Sie zögerte. „Und ich bin sicher, dass es sich dabei nicht um ein Verlangen nach Miss Fischer handelt.“

„Er ist ein Mann, und zudem ein ganz besonderes Exemplar seiner Gattung. Männer wie er verlassen gern den gewohnten Pfad. Es wird nicht bei dem bleiben, was er heute Abend macht – eines Tages wird er wirklich in andere Gefilde vorstoßen wollen. Das weißt du so gut wie ich! Aber du kannst ihn auf den rechten Weg zurückholen.“ Sie lächelte Francesca an. „Ich konnte beobachten, wie er dich ansieht. Das ist mehr als nur Lust. Wäre es bloße Lust, würde ich dir raten, die Verlobung zu lösen und einfach nur deinen Spaß zu haben. Doch er bewundert dich, das kann ich seinen Augen ansehen. Es gibt Hoffnung, Darling. Wenn du stark genug bist, wird es dir gelingen, die Höhen und Tiefen einer Beziehung durchzustehen, die zweifellos sehr hoch und sehr tief reichen werden.“

Francesca hasste es, dass Bartolla so wie Daisy daran glaubte, Hart werde früher oder später zwangsläufig untreu. Doch sie fragte sich auch, ob sie tatsächlich so stark war, wie Bartolla behauptete. Plötzlich fasste sie den Entschluss, diesen Kampf wirklich aufzunehmen. Es kam ihr vor, als stehe ihr gesamtes Leben auf dem Spiel, und vielleicht war es auch so. Ein Leben ohne Calder konnte sie sich einfach nicht mehr vorstellen.

„Danke“, sagte sie schließlich. „Danke für deine offenen Worte.“

Bartolla zwinkerte ihr zu. „Aber erzähl niemandem davon, sonst ist mein Ruf ruiniert.“

Francesca lächelte und wollte etwas erwidern, doch dann kam Hart auf die Terrasse. Obwohl er fast nur ein Schatten in der Nacht war, erkannte sie seine Statur sofort, und vor allem spürte sie seine Präsenz. Bedächtig kam er in ihre Richtung.

Als der Mondschein auf sein Gesicht fiel, sah sie seinen wie versteinert wirkenden, entschlossenen Ausdruck. Bartolla warf er einen kurzen, geringschätzigen Blick zu. Er mochte sie nicht, und er machte sich nicht mal die Mühe, sie zu grüßen.

Bartolla störte sich daran jedoch nicht, sondern lächelte Francesca aufmunternd zu und verließ dann die Terrasse.

Francesca stand da wie gelähmt, während Hart sein Jackett auszog und es ihr über die Schultern legte. „Willst du den ganzen Abend hier draußen verbringen?“, fragte er leise.

„Ich hatte bereits mit dem Gedanken gespielt.“ Sie war sich seiner Hände allzu sehr bewusst, als sie von ihnen an den Schultern berührt wurde. Ihr Blick ging zu seinen Augen. Hatte sich seine Stimme gerade eben wieder normal angehört?

„Ich habe mich unmöglich verhalten“, sagte er. „Francesca, es tut mir leid. Was ich vorhin zu dir gesagt habe, lässt sich durch nichts entschuldigen.“

Die Erleichterung, die seine Worte auslösten, ließ ihre Knie weich werden. Ehe sie sich versah, klammerte sie sich an Hart, der seine Hände um ihre Taille legte, um sie zu stützen. „Wieso? Was ist passiert? Was stimmt nicht?“

Er schüttelte den Kopf, zog sie aber gleichzeitig enger an sich. „Ich weiß es nicht“, murmelte er und schloss die Augen. Wiederholt küsste er ihre Wangen und ihren Hals.

Ein Schauder lief ihr über den Rücken, gleichzeitig überkam sie Verlangen, obwohl sie eigentlich noch immer so verwirrt war wie zuvor. Ihr wurde bewusst, dass er zitterte, während er sich mit dem Mund ihren Brüsten näherte. Francesca klammerte sich an ihn, als fürchte sie, er sei ein Geist, der sich jeden Augenblick wieder in Luft auflösen könnte. „Kannst du nicht mit mir darüber reden? Calder, wie soll unsere Ehe denn funktionieren, wenn du mich von den Dingen ausschließt, die dich belasten?“

Er legte seine Hände um ihr Gesicht und sah ihr tief in die Augen. „Ich will nicht reden. Nicht jetzt. Über gar nichts“, erklärte er und küsste sie auf den Mund.

Es wäre so einfach gewesen, seiner ehrlichen Begierde nachzugeben und sich von ihr mitreißen zu lassen. Doch während er sie küsste, überschlugen sich ihre Gedanken. So ließen sich ihre Probleme nicht lösen! Sie schob ihn von sich fort. „Nein.“

„Nein?“, fragte er verblüfft und atemlos. Dann legte sich ein sonderbarer Glanz über seine Augen.

Francesca kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er ihre Weigerung als Herausforderung betrachtete. Sie legte die Hände auf seine Brust. „Du hast mir einen entsetzlichen Schreck eingejagt“, erklärte sie ruhig. „Und ich finde, ich habe jedes Recht, den Grund dafür zu erfahren.“

Er machte einen Schritt nach hinten und fuhr sich durchs Haar. „Ja, du hast jedes Recht“, lenkte er ein. „Aber ich habe auch das Recht, nicht jeden einzelnen Aspekt meines Lebens und jeden einzelnen Gedanken mit dir zu teilen.“ Sein Tonfall wurde sarkastisch. „Außerdem würdest du es gar nicht wissen wollen.“

Ungläubig musterte sie ihn. „Ich will es sehr wohl wissen. Aber es stimmt. Es gibt kein Gesetz, das besagt, ich müsse über jeden deiner Gedanken unterrichtet werden.“

Ein flüchtiges, aber ehrliches Lächeln war darauf seine einzige Reaktion.

Zumindest war diese Krise überwunden, dachte sie erleichtert. „Warum hast du denn gesagt, ich könne die Verlobung auflösen?“

„Ich war in einer sehr schlechten Stimmung“, antwortete er nach kurzem Zögern. „Ich bedauere, was ich gesagt habe. Und es tut mir wirklich sehr leid. Wenn du mich lässt“ – diesmal war sein Lächeln allzu verführerisch –, „werde ich dir zeigen, wie sehr es mir leidtut.“

„Ist das alles?“ Sie konnte es nicht fassen. „Du deutest an, dass du unsere Verlobung auflösen willst? Und du willst, dass ich den Rückzieher mache, damit ich dir diesen Schritt erspare? Und du willst mir nicht einmal eine Erklärung dafür geben?“

„Nein“, antwortete er ernst. „Bedräng mich nicht.“

Diese Warnung war eindeutig. Seine gute Laune und der Calder Hart, den sie kennen und lieben gelernt hatte, drohten sich bereits erneut zu verflüchtigen. Doch sie konnte einfach nicht anders. Wenn er an ihrer gemeinsamen Zukunft zweifelte, dann musste er es ihr sagen.

Sie baute sich vor ihm auf und legte eine Hand in Herzhöhe auf seine Brust. „Willst du unsere Verlobung beenden?“, fragte sie ohne Umschweife.

Weder war er überrascht noch protestierte er oder stritt es ab. Er stand einfach nur da und sah sie mit finsterem Blick an.

Oh mein Gott, er will es wirklich!

Sie ließ ihre Hand sinken und wich vor ihm zurück.

„Lass uns jetzt reingehen“, sagte er mit rauer Stimme und einem Lächeln auf den Lippen. „Ich habe dir einen Champagner versprochen.“

„Nein“, flüsterte sie und rührte sich nicht von der Stelle. „Wir haben uns gleich am ersten Tag versprochen, immer ehrlich zueinander zu sein. Wir waren uns einig, dass es zwischen uns keine Lügen geben sollte. Wenn du jetzt an uns, an mir zweifelst, dann bist du mir diese versprochene Ehrlichkeit schuldig.“

Er benetzte seine Lippen. „Ich wollte dir niemals wehtun, und so wird es auch immer bleiben.“ Dann fügte er an: „Bitte, Francesca, lass diesen Punkt auf sich beruhen.“ Es war eine Bitte, eine flehentliche Bitte – die erste, die er ihres Wissens jemals ausgesprochen hatte.

Doch sie konnte sich das jetzt nicht anhören. Er hatte Zweifel, schwere Zweifel sogar. „Du willst die Verlobung auflösen“, hörte sie sich wieder sagen. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Ihr wurde schwarz vor Augen, und alles begann sich um sie zu drehen.

„Bedräng mich nicht“, gab er schroff zurück. „Nicht jetzt, nicht heute Abend.“

Irgendwie gelang es ihr, sich auf den Beinen zu halten. Sie bemerkte, dass Hart ihren Arm hielt. „Lass uns nach Hause gehen, Francesca. Ich glaube, ein Glas Scotch würde uns beiden guttun.“ Als sei in den letzten Stunden und Minuten nichts geschehen, strich er mit seinem Mund verlangend über ihre Wange.

Sie hatte das Gefühl, mit einem Kopfnicken zu reagieren. Sie musste in Ruhe nachdenken, auch wenn sie im Augenblick so geschockt war, dass sie nicht in der Lage war, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen.

Hart führte sie zurück ins Haus und durch das Empfangszimmer. Vom Personal abgesehen, war es ungewöhnlich leer. Erst dann wurde ihr bewusst, dass die Gäste im Salon inzwischen beim Abendessen sitzen mussten. Harts Arm lag um ihre Taille, und für einen Moment schloss sie die Augen und lehnte sich an ihn. Auch jetzt, da ihr jeder Instinkt ihr sagte, sie müsse vor diesem Mann die Flucht ergreifen, spendete sein kräftiger Körper ihr den Trost, den sie brauchte.

Er hielt inne.

Sie spürte, dass er sich anspannte, wusste aber sofort, es hatte nichts mit ihrer Diskussion zu tun. Sie sah ihn an. „Was ist los?“

Seine Miene wirkte deutlich gelassener, als er fragte: „Bist du heute Abend in der Laune, deinen kriminalistischen Spürsinn arbeiten zu lassen?“

Überrascht folgte sie seinem Blick und entdeckte einen gut aussehenden Gentleman, der soeben das Haus betrat und Spazierstock und Handschuhe abgab. „Wieso? Wer ist das?“

„Das, meine Liebe, ist Lord Randolph.“

Francesca vergaß augenblicklich alles, was sich in den letzten Stunden abgespielt hatte. Randolph war etwas älter als sie, vielleicht siebenundzwanzig oder achtundzwanzig. Er hatte dunkles Haar und helle Haut, und sogar auf die große Entfernung, die noch zwischen ihnen lag, fielen ihr seine Augen auf, die von einem ganz außergewöhnlichen Blau waren. „Ja, in dieser Laune bin ich. Eine solche Gelegenheit könnte ich mir doch unter keinen Umständen entgehen lassen“, gab sie zurück, ohne den Blick von ihrer Beute zu nehmen. Er war ein höchst attraktiver Mann von der Sorte, der sogar eine so anständige Frau wie Gwen verfallen konnte.

Was für ein eigentümlicher Zufall, dass Gwens ehemaliger Liebhaber und Arbeitgeber sich ausgerechnet jetzt in der Stadt aufhielt, da der Schlitzer sein Unwesen trieb.

Hatte Maggie nicht auch von einem Gentleman mit auffallend blauen Augen gesprochen, dem sie am Abend, als Kateermordet wurde, an einer Straßenecke begegnet war?

Wie sehr Francesca sich doch wünschte, Randolph möge der Schlitzer sein!

Hart lächelte sie an. „Wie ich sehe, wurde der Fehdehandschuh geworfen. Dann sollte ich ihn dir besser vorstellen.“

„Warte. Du hattest etwas über seinen Ruf gesagt.“

„Ach ja. Ihm eilt der wenig beneidenswerte Ruf voraus, absolut mürrisch zu sein.“

„Mürrisch?“, wiederholte sie.

„Es heißt, er verlor bei einem Feuer Frau und Kinder“, erwiderte Hart ernst. „Das liegt zwar schon einige Jahre zurück, aber er lächelt nur selten, und jeder kennt ihn als eigenbrötlerisch und verschlossen. Er meidet gesellschaftliche Anlässe, geht weiblicher Begleitung jeglicher Art aus dem Weg und scheint nicht die Absicht zu haben, je wieder zu heiraten. Ich vermute, diese Tatsache war Auslöser für die Gerüchte über ihn. Er ist wohlhabend, und die Damen der Gesellschaft sind entsetzlich wütend auf ihn, weil keine von ihnen eine Tochter mit ihm verheiraten kann.“

„Vielleicht kann man ihm gar keine Schuld geben, wenn er eine solche Tragödie hinter sich hat“, sagte Francesca. Sie begann zu glauben, dass er nicht der Lebemann sein konnte, der Gwen verführt hatte. „Schnell, Hart, bevor er zum Essen geht.“

Hart eilte ihm entgegen, dicht gefolgt von Francesca. Es war eine angenehme Abwechslung, wieder ihrer Arbeit nachgehen zu können. „Randolph, guten Abend“, rief Hart freundlich, kurz bevor sie ihn erreicht hatten.

Randolph stutzte, dann erkannte er Hart wieder. „Hart, mein Gott, bist du das wirklich?“ Er lächelte, während er ihm die Hand gab. „Welch unglaublicher Zufall!“

„Darf ich dir meine Verlobte vorstellen, Miss Francesca Cahill?“

„Du bist verlobt?“ Die Tatsache schien Randolph sehr zu überraschen. „Miss Cahill? Harry de Warenne, zu Ihren Diensten. Und natürlich möchte ich auch noch meinen Glückwunsch aussprechen.“ Er machte vor ihr einen Diener.

„Danke sehr. Sagen Sie, kennen Sie meine Schwester oder meinen Schwager? Sie sind heute Abend die Gastgeber.“ Ihr fiel auf, dass er gleich mehrere Ringe trug, jedoch nur einen davon – einen goldenen – an der linken Hand. Der Stein war ein Onyx, der Gravuren erkennen ließ.

„Ja, ich kenne Montrose sogar recht gut. Er hat ein Haus in London, das von meinem nicht allzu weit entfernt liegt“, antwortete Randolph.

„Ach, dann kommen Sie aus England“, tat Francesca ein wenig überrascht. „Ich hätte nämlich gedacht, Sie haben einen irischen Akzent.“

Er sah zu Hart. „Deine Verlobte ist sehr aufmerksam. Ich stamme tatsächlich aus Irland, auch wenn der größte Teil meiner Familie englischer Herkunft ist. Wir irischen de Warennes sind sozusagen die schwarzen Schafe.“

„Ich bin mir sicher, Sie sind kein schwarzes Schaf“, meinte Francesca amüsiert. „Dann leben Sie also lieber in London? Ich selbst bevorzuge die grünen irischen Landschaften.“ In Wahrheit liebte sie London und war auch schon einige Male dort gewesen, während sie noch nie einen Fuß auf irischen Boden gesetzt hatte.

„Es erstaunt mich, dich hier zu sehen“, sagte Hart beiläufig. „Normalerweise hast du deine Leute, die deine Geschäfte für dich regeln.“

Randolph zuckte mit den Schultern. „Diesmal gab es Dinge zu tun, die ich persönlich in die Hand nehmen musste.“

Francesca setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Wissen Sie, ich bin mit einer sehr hübschen Frau befreundet, die – wenn ich mich nicht irre – aus der Nähe von Limerick kommt. Ich sollte sie zu unserer Dinnerparty einladen, möglicherweise kennen Sie sie ja. Die Welt ist schließlich klein. Sie lebt jetzt hier in der Stadt.“

„Möglicherweise, auch wenn ich eher daran zweifle. Wie heißt sie denn?“, fragte Harry de Warenne.

„Mrs Hanrahan, Mrs David Hanrahan. Allerdings stehen wir uns so nahe, dass ich sie Gwen nennen darf“, erklärte Francesca, die unablässig weiterlächelte und ihren Blick nicht von seinem Gesicht abwandte.

Seine höfliche Miene ließ keine Regung erkennen, als er antwortete: „Tut mir leid, aber ich kenne keine Frau dieses Namens.“