„Hallo!“ Francesca begrüßte ihre Schwester mit einem Lächeln, auch wenn ihr in Wahrheit nicht danach war.
Connie sah in reizenden rosé- und elfenbeinfarben gestreiften Kleid blendend aus, als sie einen Schritt nach vorn in den Salon machte. Nur ihre Augen verrieten, wie sehr der unerwartete Besuch sie überraschte. „Fran! Ist alles in Ordnung?“, fragte sie, während sie sie umarmte.
Früher, als die Arbeit als Kriminalistin nicht annähernd so viel Zeit beansprucht hatte, war Francesca häufig, wenn nicht gar täglich bei ihrer Schwester zu Besuch gewesen. Sie liebte nicht nur ihre Schwester sehr, sondern auch ihre beiden Nichten. In letzter Zeit hatte Francesca ihre Besuche notgedrungen auf zwei Tage in der Woche beschränken müssen, da sonst nicht genug Zeit blieb, um alles zu erledigen, was sie sich vorgenommen hatte und was zu ihrer Arbeit gehörte.
Francesca sah Connie unvermittelt an. Die halbe Nacht hatte sie damit verbracht, sich von einer Seite auf die andere zu wälzen, während sie versuchte, jedes Wort und jede von Harts Gesten zu deuten. Als sie dann irgendwann vor Müdigkeit eingeschlafen war, hatte sie noch immer nicht gewusst, wie sie sein Verhalten bewerten sollte. „Ich glaube nicht“, antwortete sie. „Aber um ehrlich zu sein, ich bin mir nicht sicher.“
Sofort drehte sich Connie um und zog die beiden Salontüren zu, um für die nötige Privatsphäre zu sorgen. Dann wandte sie sich wieder Francesca zu, nahm sie an beiden Händen und führte sie zu einem Paar burgunderfarbener Sessel. Während sie Platz nahmen, fragte sie leise: „Ich nehme an, es geht um Calder?“
Francesca nickte ängstlich. „Wie konnte das nur passieren?“, wunderte sie sich. „Wie konnte ich mich nur in solch einen Mann verlieben? Mein Leben lang habe ich geglaubt, mein Ehemann würde einmal ein Mann wie unser Vater sein. Stattdessen verliebe ich mich Hals über Kopf in den berüchtigtsten Frauenheld der ganzen Stadt.“
Connie holte tief Luft und sah Francesca mit ihren blauen Augen an. „Glaubst du denn, er hat etwas mit einer anderen Frau angefangen?“
„Nein.“ Sie biss sich auf die Lippe. „Ich weiß, du hast ihn gestern Abend ja auch gesehen. Er verbrachte kaum Zeit an meiner Seite, und er ließ es zu, dass Darlene Fischer unentwegt mit ihm flirtete. Aber ich glaube nicht, dass er mir schon untreu werden will. Dennoch macht ihm etwas zu schaffen, und er sagt mir nicht, was es ist.“
„Dann lässt du es vielleicht auch besser auf sich beruhen, bis er sich dir anvertrauen möchte.“ Als Francesca widersprechen wollte, hob Connie eine Hand. „Ich weiß, das wird für dich unerträglich schwer sein. Ich kann mir nichts vorstellen, was mehr Disziplin zu wahren verlangt, wenn es um Calder Hart geht. Aber glaub mir, Fran. Es gibt Zeiten, da musst du hartnäckig nachbohren, und es gibt Zeiten, da musst du einfach abwarten.“
Francesca verstand durchaus, was ihre Schwester ihr sagte, doch wie konnte sie über diesen Zwischenfall hinweggehen? „Als ich seinen Heiratsantrag schließlich annahm, da wusste ich instinktiv, dass er die Macht hat, mich völlig zu zerstören. Was soll ich tun? Ich weiß einfach nicht, wie ich mich verhalten soll“, klagte sie ihr Leid.
Connie schwieg einen Moment lang nachdenklich. „Du weißt, ich werde dir gegenüber immer offen und ehrlich sein. Einem Mann wie Calder das Herz zu schenken, ist tatsächlich nicht ungefährlich. Ich dachte ebenfalls, du würdest die wahre Liebe bei einem Mann finden, der unserem Vater ähnlich ist – einem Mann wie Rick Bragg.“
Francesca seufzte. „Er wäre so ungefährlich gewesen.“
„Ja, das wäre er. Warum erzählst du mir nicht, was gestern Abend wirklich geschah?“, schlug ihre Schwester vor.
Ihr Herz raste, als sie sich den vergangenen Abend erneut ins Gedächtnis rief. „Gestern Morgen war noch alles in Ordnung. Hart war aufmerksam, liebevoll und charmant. Als ich dann am Abend herkam, merkte ich bereits, dass etwas nicht stimmte. Ich konnte förmlich die düsteren Wolken sehen, die sich über ihm zusammengebraut hatten.“
„Hast du ihn gefragt, was mit ihm los war?“
„Ja, aber er weigerte sich, mit mir darüber zu reden. Ich bedrängte ihn so lange, bis er wütend wurde. Con, er sagte mir, ich habe von seinem Ruf gewusst, als ich ihm das Jawort gab. Und nun meint er, ich könne die Verlobung auch wieder lösen, wenn ich das wollte.“
Connie riss ungläubig den Mund auf. „Er will, dass du die Verlobung beendest?“
„Später hat er es dann geleugnet. Aber bleibt da nicht nur eine einzige Schlussfolgerung? Er zweifelt an uns, und ich glaube, es hätte ihn nicht gestört, wenn ich mich von ihm getrennt hätte.“
„Fran“, sagte sie und nahm die Hand ihrer Schwester. „Ich werde gar nicht erst versuchen, einen Mann wie Calder Hart verstehen zu wollen. Ich dachte auch, mein Leben mit Neil sei perfekt – und dann sieh dir an, was geschehen ist.“
Francesca musterte sie aufmerksam. Bei einem der vorangegangenen Fälle waren sie dahintergekommen, dass Neil eine Affäre mit einer anderen Frau hatte. Bis heute konnte Francesca nicht verstehen, wie es dazu hatte kommen können, wenn er doch ihre Schwester so sehr liebte, wie er beteuerte.
Er hatte sich natürlich geweigert, etwas zu erklären, und sie selbst ging es letztlich auch nichts an. Die Ehe ihrer Schwester wäre danach um ein Haar gescheitert, doch jetzt schien alles wieder in bester Ordnung zu sein. Ihr kam es sogar so vor, als seien die beiden jetzt glücklicher als je zuvor.
„Aber es gibt keinen Zweifel daran, dass Calder Hart Bedenken vor einer so gravierenden Entscheidung hat, die eine Heirat nun einmal ist“, fuhr Connie fort.
„Ich bin ganz deiner Meinung“, sagte Francesca mit finsterer Miene.
Connie drückte wieder ihre Hand. „Ist das denn wirklich so seltsam? Er ist sechsundzwanzig, und vor dir hat er noch nie einer Frau den Hof gemacht. Er war ein schamloser und zügelloser Lebemann. Jetzt will er sich offenbar ändern. Vielleicht wäre es erst recht seltsam, wenn er keinerlei Bedenken hätte.“
„Soll mich das etwa trösten?“, fragte Francesca. „Und was soll ich tun? Am Ende hat er sich bei mir für sein Verhalten entschuldigt, aber eine Erklärung wollte er mir dennoch nicht liefern. Und es tat mir weh, Con, sehen zu müssen, wie eine andere Frau so unverhohlen mit ihm flirtet. Ich war krank vor Eifersucht, als ich ihn mit Darlene Fischer sah.“
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, damit du dich wieder besser fühlst“, seufzte Connie. „Aber ich kann dir einen Rat geben, wenn du ihn hören möchtest.“
Francesca beugte sich vor, um zu hören, was ihre Schwester zu sagen hatte. Immerhin war sie eine Frau mit Erfahrung. „Ich höre.“
„Erst musst du mir eine Frage beantworten: Hast du Zweifel an eurer gemeinsamen Zukunft?“
Ohne zu zögern antwortete sie: „Nein. Anfangs war ich unsicher, da ich noch in Rick verliebt war. Aber inzwischen sind wir gute Freunde, und dadurch habe ich erkennen können, wie sehr ich Calder liebe.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie an: „Ich zweifle nicht an meinen Gefühlen, aber ich zweifle an seiner Fähigkeit, mir treu zu bleiben.“
„Fran, du musst das Leben Schritt für Schritt angehen. Denk gar nicht erst an eine ferne Zukunft, in der er vielleicht sein Wort brechen wird.“ Sie errötete ein wenig, und Francesca wusste sofort, dass sie an Neil denken musste. „Auch in der besten Ehe mit dem ehrbarsten Mann wird es schwierige Momente geben.“
„Ich glaube, dem kann ich zustimmen. Ich soll also um ihn kämpfen? Um sein Herz kämpfen?“, fragte sie und dachte unwillkürlich an das, was Bartolla gesagt hatte.
„Nein“, wehrte Connie ab.
„Nein?“
Ihre Schwester schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Lauf ihm nicht nach. Das wäre das Schlimmste, was du machen kannst. Wenn er merkt, dass du ihm hinterherläufst, wird er ganz sicher das Interesse an dir verlieren.“
Francesca war vor Verwirrung und Angst starr. „Und was soll ich dann machen?“ Einen Mittelweg schien es plötzlich nicht zu geben.
„Bleib einfach deinem Herzen treu und sei du selbst.“ Sie lächelte sie an. „Du bist so exzentrisch, Fran, und das ist die Frau, die Calder den Kopf verdreht hat. Nicht irgendeine verlegene Debütantin wie Darlene, sondern eine schöne, mutige und kluge Kriminalistin. Eine Frau, die sich der Gerechtigkeit und den Reformen verschrieben hat, eine Frau, die völlig selbstlos handelt. Du bist einzigartig – bleib so. Und komm gar nicht erst auf die Idee, mit Frauen wie Darlene wetteifern zu wollen. Dann bist du nicht besser als sie.“
„Das heißt, ich soll die Hände in den Schoß legen?“
„So ungefähr. Konzentriere dich voll und ganz auf deine momentanen Ermittlungen. Oder läuft euer Mörder nicht mehr frei herum?“
Francesca begann sich zu entspannen. „Doch, das macht er, und wir müssen ihn so schnell wie möglich finden.“
„Such den Schlitzer, Francesca. Sei ganz du selbst. Wenn Hart flirten will, dann lass ihn. Denn wenn es sein soll – und wenn es jemals funktionieren soll –, dann wird er seine Zweifel überwinden, und die Heirat wird wie geplant stattfinden. Aber er muss derjenige sein, der dir nachläuft. Es darf niemals umgekehrt sein.“
Sie umarmte ihre Schwester. „Du hast ja so Recht! Jetzt fühle ich mich wieder sicher. So besorgt ich auch bin, ich muss tapfer sein und einen weiteren Mord verhindern. Entweder steht Calder weiter zu seinem Wort, oder es ist vorbei. Auf jeden Fall ist mir klar, dass ich beim Wetteifern mit Darlene und den anderen immer den Kürzeren ziehen würde, weil das nicht zu meinen Stärken zählt.“
„Zu deinen Stärken zählt aber, die Frau zu sein, die du wirklich bist“, machte Connie ihr klar.
Dankbar atmete Francesca auf. „Du warst mir eine große Hilfe.“
„Dafür hat man schließlich eine Schwester“, gab Connie grinsend zurück. „Und wohin gehst du jetzt?“
„Ich muss einen Mörder fassen“, sagte Francesca. „Aber bevor ich mit John Sullivans anderem Mitbewohner rede, werde ich zunächst bei Leigh Anne vorbeischauen. Ich habe es Rick versprochen.“
„Wie geht es ihr eigentlich?“
Francesca wurde ernst. „Ich glaube, es geht ihr nicht gut.“
Maggie empfand es als sonderbar und angenehm zugleich, welche Wärme ihr Herz erfüllte, als sie zwei ihrer Söhne auf dem Sofa sitzen sah. Mathew versuchte, Paddy das Alphabet beizubringen, und das ging er sehr ernsthaft an. Paddy seinerseits war bemüht, genauso ernsthaft etwas von ihm zu lernen, doch er konnte noch nicht begreifen, was der Buchstabe A überhaupt bedeuten sollte. Beide Jungs waren frisch gebadet, und sie trugen ihre beste Sonntagskleidung. Auf dem riesigen goldfarbenen Samtsofa wirkten sie so klein, dass sie förmlich zu verschwinden schienen. Dahinter an der Wand hing ein unglaublich schönes Gemälde, das zwei Frauen und ein Kind aus einer längst vergangenen Ära zeigte. Die Decke hoch über ihnen war gleichfalls rot gestrichen und mit einem flammenden Stern in Gold- und Cremetönen in der Mitte verziert. Ihre Söhne wirkten in dieser Umgebung wie zwei kleine Prinzen.
Fast zumindest.
Auf einmal erfüllte Traurigkeit ihr Herz, denn die beiden würden niemals Prinzen sein. Das Beste, was aus ihnen werden konnte, waren ehrliche, hart arbeitende und gottesfürchtige Männer. Früher einmal war ihr das als ein Ziel erschienen, das zu erreichen genügte. Doch jetzt war das nicht mehr der Fall, jetzt strebte sie für ihre Kinder nach etwas Höherem.
Sie sah sich in dem riesigen und pompös eingerichteten Zimmer um, das eigentlich gar nicht so groß war, wenn man es mit den übrigen Räumlichkeiten im Haus verglich. Calder Hart war so freundlich gewesen, ihr zu sagen, sie könne sich hier so frei bewegen, als sei es ihr eigenes Heim, aber natürlich hätte sie das niemals gemacht. Vor allem hatte sie ihre Kinder gewarnt, ja nichts anzufassen, da sie fürchtete, irgendetwas unbezahlbar Teures könnte zu Bruch gehen. Sein Butler Alfred hatte sie in einen Flügel geführt, den sie und die Kinder nach Belieben nutzen durften. Er hatte sogar jedem der Kinder ein eigenes Zimmer geben wollen! Es waren Anweisungen, die von Mr Hart kamen, der offenkundig nicht viel über Kinder wusste. Denn bis auf Joel waren am gestrigen Abend all ihre Kinder zu ihr in das ausladende Himmelbett gekrochen, da das große, dunkle Haus ihnen Angst machte.
Hätte sie doch nur einen Weg gefunden, um ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Nicht nur die wenigen Jahre Schule, die Joel bekommen hatte, sondern eine richtige Ausbildung, die es ihnen später einmal ermöglichen würde, die Art von Beschäftigung zu finden, die ihnen ein Leben als Gentlemen ermöglichte. Maggie musste in diesem Moment an Evan Cahill denken. So elegant und kultiviert würden ihre Söhne natürlich niemals sein.
„Mama!“, kreischte Lizzie, als sie ins Zimmer gerannt kam. Joel folgte ihr deutlicher gemäßigter.
Ihr Gesicht war mit etwas Rotem beschmiert, woraufhin Maggie sofort zu ihr lief, da sie eine solche Unachtsamkeit nicht duldete. „Joel, was hat sie gegessen? Warum hast du ihr nicht den Mund abgewischt? Was ist, wenn sie jemand sieht, während sie wie das Kind eines Bauern durchs Haus läuft?“ Sie nahm Lizzie hoch und wischte ihr mit einem Taschentuch das Gesicht sauber.
„Ich muss weg. Ich muss Miss Cahill treffen. Der Koch hat ihr diese eigenartigen Kekse gegeben“, erklärte Joel grinsend. „Ma, ich habe noch nie was so Gutes gegessen! Noch nicht mal bei Miss Cahill!“
„Gewöhn dich lieber nicht daran“, gab Maggie etwas zu schroff zurück, während sie Lizzie auf dem Boden absetzte. Das Kind lief ein wenig wacklig auf den Beinen zu seinen Brüdern und versuchte dann vergeblich, auf das Sofa zu klettern.
Joel war ihr gefolgt und hob sie hoch, um sie neben Paddy zu setzen. Er sah zu Maggie und verschränkte die Arme vor seiner schmächtigen Brust. „Ich weiß, wo wir wohnen“, sagte er und zeigte so, dass er ihre Befürchtungen genau kannte. Allerdings kam er auch sehr nach seinem Vater, nicht nur im Aussehen. Er war klug und nahm seine Umwelt auf eine so bewusste Weise wahr, dass es sie manchmal erschrak.
Fast hätte sie ihm das auch gesagt, doch stattdessen erklärte sie: „Ich weiß, dass du das weißt. Aber sieh dir deine Brüder an. In ein paar Tagen werden sie sich nicht mehr an unser Zuhause erinnern. Sie werden glauben, das hier ist ihr Zuhause. Und wenn wir dann zurückkehren müssen – was wird dann sein?“
Joel zuckte mit den Schultern. „Dann gewöhnen sie sich eben wieder an unser altes Zuhause.“
Maggie ließ sich in einen Sessel sinken. Das war nicht fair. Ihre Kinder erwartete eine herbe Enttäuschung, und dabei gab sie alles, um die Kleinen glücklich zu machen. Und dann tauchte Evan Cahills Bild so plötzlich vor geistigen Auge auf, dass ein Stich durch ihr Herz ging.
Sei kein Dummkopf, Maggie.
Sie hielt inne, da sie soeben die Stimme ihres Ehemanns so klar und deutlich gehört hatte, als sei er noch unter den Lebenden.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Früher hatte sie sich oft mit ihm unterhalten, als würde er noch leben. Er war ihr bester Freund gewesen, ihre Jugendliebe, und als er starb, dachte sie, er würde ihr für alle Zeit fehlen. Er war schon seit einigen Jahren tot, doch sie konnte sich noch lange mit ihm unterhalten, als wäre er da. Irgendwann aber hörte diese Zwiesprache auf, und jetzt, auf einmal, konnte sie seine Stimme so deutlich zu hören, als stehe er gleich neben ihr. Maggies Herz schlug schneller.
Wäre er doch nur hier! Sein Ratschlag war das, was sie am dringendsten nötig hatte.
Maggie, ich bin hier. Ich werde immer hier sein. Und tief in deinem Herzen weißt du das.
Evan Cahills Bild war jetzt in ihr Gedächtnis eingebrannt. Diesmal raste ihr Herz aus einem anderen Grund, und sie schloss verzweifelt die Ohren. So oft hatte sie in letzter Zeit an ihn denken müssen. Seit Monaten war er konstant Gegenstand ihrer Träume, und am Tag verfolgte er sie wie ein unerwünschter Schatten.
Wie kannst du dein Herz nur in diese Richtung lenken? Maggie, ich sagte dir doch, er ist nicht für dich bestimmt!
„Ich weiß“, flüsterte sie und fühlte sich elend.
„Ma? Sei nicht traurig“, redete Joel auf sie ein. „Es ist doch nur für ein paar Tage. Und wenn wir wieder zu Hause sind, dann passe ich schon auf, dass sie so gut essen wie hier.“
Maggie hob verblüfft den Kopf und sah Joels beunruhigten Blick. Sie legte die Hände auf seine Schultern und dachte daran, dass er für einen Jungen in seinem Alter schon viel zu viel Verantwortung trug. „Was würde ich nur ohne dich machen?“, flüsterte sie. „Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass du genau bist wie dein Vater?“
Er lächelte, allerdings mit einem besorgten Zug. „Höchstens hundertmal.“
Sie fuhr durch sein dichtes schwarzes Haar, bis ihr plötzlich bewusst wurde, dass jemand in der Tür stand. Erschrocken drehte sie sich um und erkannte ihren Gastgeber. „Mr Hart, Sir!“, rief sie aus und sah ihn freundlich an. „Kommen Sie doch herein“, sagte sie und bekam dann einen roten Kopf. „Ich meinte … oh, es ist doch Ihr Zuhause.“
Hart schlenderte in das Zimmer und legte eine Hand auf Joels Rücken. Der Junge strahlte ihn an. „Ich wollte nicht stören“, erklärte er und schaute zu den drei Kindern auf seinem Sofa.
Maggie betete, dass niemand noch einen Rest Marmelade im Mundwinkel und erst recht nicht an den Händen hatte. „Kinder, steht vom Sofa auf, wir gehen jetzt in unser Zimmer“, forderte sie die drei energisch auf.
„Mrs Kennedy, bitte. Sie müssen sie nicht meinetwegen aus dem Zimmer schicken“, warf Hart ein.
Sie fand, dass er sehr mürrisch und sehr müde wirkte. Erblickte äußerst ernst drein, und selbst in seinen Augen war kein Funke von Freude zu erkennen. „Alfred sagte, wir könnten ein Zimmer benutzen, und ich fand dieses hier angemessen, da es nicht so groß ist wie die anderen. Aber …“
„Bitte, Mrs Kennedy. Benutzen Sie jeden Salon, der Ihnen zusagt. Ich bin auf dem Weg nach draußen und wollte nur wissen, ob es Ihnen an irgendetwas fehlt.“
Sie schüttelte den Kopf und konnte kaum fassen, wie freundlich dieser Mann war – und wie freundlich alle anderen waren. Es gab noch andere Gäste im Haus, Grace und Rathe Bragg, ein Bruder, ein Neffe. Alle verhielten sich ihr und den Kindern gegenüber aufmerksam und freundlich, als sei sie selbst eine echte Lady.
Maggie! Mach dir doch nichts vor! Du bist nicht in vornehmen Kreisen aufgewachsen, und du wirst auch nie dazugehören!
„Es ist alles in Ordnung. Und vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft. Ich muss mich auch noch einmal bei Francesca bedanken“, sagte sie.
Seine Miene verhärtete sich, und er wandte sich an Joel. „Weißt du, wo Miss Cahill heute ist?“, fragte er. „Ich ließ ihr nämlich eine Nachricht zukommen, aber sie hatte das Haus bereits verlassen.“
Joel lächelte ihn freudig an. „Ja, Sir! Wir haben für heute Pläne. Sie muss erst zu ihrer Schwester, weil sie etwas besprechen will. Dann müssen wir Mrs Bragg besuchen, weil sie das versprochen hat. Danach will sie mit dem Mitbewohner von Sullivan reden, den sie noch nicht gesprochen hat. Und wenn dann noch Zeit ist, will sie irgendeinen Lord besuchen, der im Holland House übernachtet.“
Hart zog die Augenbrauen hoch und machte im Ansatz einen amüsierten Eindruck. „Und das will sie alles an einem Tag erledigen?“
„Ja, Sir, das hat sie vor. Miss Cahill ist sehr entschlossen, nicht?“ Er grinste Hart stolz an.
Der fuhr dem Jungen durchs Haar. „Kannst du ihr von mir etwas ausrichten?“
Joel nickte eifrig.
„Sag ihr bitte, ich würde gern mit ihr zu Abend essen.“
„Ja, Sir!“, erwiderte der Kleine.
Alfred sah zur Tür herein. „Mrs Kennedy? Sie haben Besuch bekommen.“
Maggie erschrak. Wer sollte sie hier besuchen kommen? Dann sah sie Evan Cahill eintreten.
Wieder schlug ihr Herz schneller, und sie merkte, wie sie rot wurde. Evan verbeugte sich vor ihr. Er war makellos in einen teuren dunklen Anzug gekleidet, und doch wirkte er irgendwie zerzaust. „Mrs Kennedy, ich wünsche einen guten Tag.“
Murmelnd erwiderte sie eine Begrüßung, ohne den Blick von diesem Mann abwenden zu können. Er war der atemberaubendste Gentleman, den sie jemals zu Gesicht bekommen hatte, und sie wusste aus Erfahrung, dass er auch der netteste war.
„Ich werde mich dann zurückziehen“, meinte Hart und klang ein wenig amüsiert. Er und Evan wechselten noch ein paar freundliche Worte, dann ging er aus dem Zimmer.
Maggie ahnte, wie rot ihre Wangen inzwischen sein mussten. Wieso war es nur mit einem Mal so warm in diesem Zimmer? Sie zog am Kragen ihrer Bluse, doch sie fand keine Abkühlung.
Evan bekam davon nichts mit, da er soeben die beiden Jungs und Lizzie umarmte und die Kleine darauf bestand, von ihm hochgenommen zu werden. Mathew berichtete, er bringe Paddy jetzt das Alphabet bei, während der ihm unbedingt erzählen wollte, dass er Eier und Würstchen und Pfannkuchen zum Frühstück hatte – und zwar alles zusammen, mit echtem Sirup und mit Milch! „Was denn, mehr nicht?“, neckte Evan ihn, während er weiter Lizzie auf dem Arm hatte, die an seinen dunklen Locken zog. Ihn schien das nicht zu stören. „Und tut dir jetzt dein Bauch weh?“
„Nee.“ Paddy grinste ihn an und rieb sich den Bauch. „Es tut gut.“
„Kekse“, rief Lizzie fröhlich. „Kekse!“
Er sah die Kleine an und sagte: „Oh, das tut mir leid, aber ich bin heute mit leeren Händen hergekommen – fast jedenfalls.“ Dann endlich schaute er wieder zu Maggie, deren Herz prompt einen Satz machte. „Joel“, sagte er, ohne den Blick von ihr zu nehmen. „Im Flur steht eine Einkaufstasche. Ich glaube, da sind ein paar Sachen drin, die für die Kinder interessant sein könnten.“ Den Blick unverändert auf Maggie gerichtet, aber mit ernster Miene, setzte er Lizzie ab.
Joel nahm Lizzie an die Hand, und einen Augenblick später hatten die Kinder das Zimmer verlassen, in dem schlagartig Stille einkehrte.
Maggie war nicht in der Lage, nach Luft zu schnappen. Sie hätte sie sich am liebsten zugefächelt, doch sie wagte es nicht. Warum sah er sie so eindringlich an? Und warum war sein Gesicht so ernst? „Mr Cahill?“, flüsterte sie nervös.
„Evan. Ich dachte, wir hätten uns bei unserem Abendessen auf Evan geeinigt … Maggie.“
Sie biss sich auf die Lippe. Maggie, tu’s nicht! „Ja“, brachte sie heraus, ohne zu begreifen, wie ihr das gelungen war.
Plötzlich stieß er einen wehleidigen Seufzer aus, drehte sich zum Fenster um und starrte hinaus.
Oh weh, irgendetwas stimmte nicht. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, denn im nächsten Moment fand sie sich hinter Evan wieder und berührte sanft seine Hand.
Er wirbelte erschrocken herum, dann standen sie sich gegenüber, nur wenige Handbreit voneinander entfernt.
Maggie wusste, dass sie eigentlich hätte zurückweichen müssen, doch ihre Füße verweigerten ihr den Gehorsam. Ihr Herz schlug wie wild, während sie den verrückten Wunsch verspürte, einen kleinen Schritt nach vorn zu machen und sich von ihm in die Arme nehmen zu lassen, nur dieses eine Mal. „Was ist los?“, wisperte sie. „Warum machen Sie eine so … so traurige Miene?“
Er hob langsam seine Hand, und in Maggie keimte Unglauben auf und noch etwas anderes … Hoffnung!
„Sie sind so reizend“, sagte er mit rauer Stimme und legte eine Hand auf ihre Wange.
Die Berührung hatte eine stärkere Wirkung als jede Liebkosung, auf die sie auch schon seit Jahren verzichten musste. Am liebsten hätte sie sich in seine Arme fallen lassen und ihre Lippen auf seinen Mund gepresst, um sich dann nie wieder von ihm zu lösen. Doch irgendetwas stimmte nicht. Er hatte ihr so oft geholfen – für ihre Kinder war er gar ein Geschenk des Himmels gewesen –, dass es nun an ihr war, ihm ebenfalls zu helfen. Sie löste sich von ihm und fragte: „Was ist passiert? Was kann ich tun?“
Mit niedergeschlagener Miene wandte er sich zur Seite. „Evan, was ist denn geschehen?“ Sie war auf das Äußerste besorgt.
Da er sich nicht wieder zu ihr umdrehte, ging sie kurzerhand um ihn herum, bis sie vor ihm stand und nach seiner Hand greifen konnte. „Ist jemand krank? Oder ist jemand gestorben?“, fragte sie ängstlich.
„Nein.“ Seine Lippen bewegten sich kaum, als er antwortete. Dann auf einmal fuhr er fort: „Die Countess ist schwanger.“
Maggie stockte der Atem. Als seine Worte sich einen Weg durch den Schock gebahnt hatten, unter dem sie zu stehen schien, ging ihr ein Stich durchs Herz. „Oh.“
„Ja, ‚oh‘“, wiederholte er unheilvoll.
Wieder begannen ihre Wangen zu glühen. Sie ließ seine Hand los. Ich habe es dir doch gesagt, Maggie. Ich sagte dir, er ist nichts für dich. Aber du wolltest ja nicht auf mich hören!
Nein, sie hatte nicht hören wollen, nicht auf das, was ihr eigenes Gewissen sagte, und nicht auf das, was ihr der gesunde Menschenverstand riet. „Aber Sie lieben sie doch“, hörte sie sich antworten. „Und es ist Ihr Kind.“ Es war natürlich als Frage gemeint, auch wenn sie den Satz nicht so betonte.
Evan sah ihr in die Augen. „Ja, es ist mein Kind.“
Sie wollte am liebsten ihren Tränen freien Lauf lassen. „Das ist doch wunderbar. Das ist ein Grund zum Fei…“
„Ich liebe sie nicht.“
Sie hielt mitten im Satz inne, nahm seinen gequälten Blick wahr und schaute ihm nach, als er sich abwandte und durch das Zimmer ging.
Ihr Atem ging nur schwer. Die hübsche Countess, die so perfekt zu ihm passte, bekam von ihm ein Kind … und er liebte sie gar nicht. Nicht, dass das irgendetwas ausgemacht hätte.
Plötzlich lief sie ihm nach. „Aber sicher empfinden Sie doch etwas für sie! Es muss so sein, sie ist doch so schön, so elegant. Sie ist doch eine Lady!“ Ungläubig sah er sie an, doch sie konnte sich nicht bremsen. „Sie sind so gut zu meinen Kindern. Ich sehe doch, wie viel sie Ihnen bedeuten. Sie werden ein wunderbarer Vater sein!“
„Ich liebe sie nicht“, wiederholte er eindringlich.
Sie konnte ihn nur anstarren, während ihr Tränen kamen. Er sagt aber auch nicht, dass er dich liebt, Maggie. Sei kein Dummkopf! Du bist die Tochter eines irischen Bauern, und er ist ein Gentleman.
Es kostete sie all ihre Kraft, das zu sagen, was richtig war, nicht das, was sie eigentlich sagen wollte: „Es ist Ihr Kind. Ein neues Leben wird das Licht der Welt erblicken – ein Leben, für das Sie verantwortlich sind.“
„Ja, natürlich. Das weiß ich“, gab er zurück, sah sie dabei aber so direkt und so offen und ehrlich an, dass ihr die Knie weich wurden.
„Eines Tages“, fuhr sie fort, ohne zu verstehen, wie sie die Worte herausbrachte, „werden Sie sagen, es ist das Beste, was Ihnen jemals widerfahren konnte.“
Er verzog das Gesicht. „Ja, ich weiß. Eines Tages. Eines Tages werde ich das denken.“ Nach wie vor war sein Blick auf sie gerichtet.
Sie wollte ihn halten, ihn trösten, seine Stirn streicheln, sein Haar. Doch die Realität hielt so brutal Einzug in diesen Augenblick, dass sie Maggies Seele unter sich begrub. Er würde die Countess heiraten, mit der er ein Kind haben würde. Wieso tat ihr das so weh? Weil du zugelassen hast, dich in ihn zu verlieben, Maggie.
Tränen wollten ihr über die Wangen laufen, doch sie wischte sie rasch fort. Er musste nicht sehen, wie sehr es sie berührte. „Wie kann ich helfen?“, fragte sie abermals.
„Ich weiß nicht.“ Er zögerte, dann legte er wieder seine Hand an ihre Wange. „Ich habe es niemandem gesagt, nur Ihnen.“
Er musste die Countess heiraten, das war ihnen beiden klar. Als sich ihr Körper auf eine Weise regte, wie es schon seit langer Zeit nicht mehr vorgekommen war, schloss sie die Augen. Einen Moment lang gestattete sie sich, das Gefühl seiner starken Hand auf ihrer Haut zu genießen. Oh Gott, wenn doch nur …
Dann spürte sie auf einmal, dass Evan sich leicht vorgebeugt hatte. Als sie in seine strahlend blauen Augen sah, da wusste sie, er würde sie küssen. Sie hatte es immer gewusst, dass er sie irgendwann küssen würde. Sie rührte sich nicht, als er „Maggi?“, flüsterte und sich schließlich ihre Lippen berührten.
Als sie seinen Mund auf fühlte, da war ihr klar, sie liebte ihn auf die Weise, von der sie geglaubt hatte, so nie wieder lieben zu können.
Und dann war es vorüber.
Er wich ein kleines Stück zurück, der Kuss war vorüber. Maggie merkte, wie allmählich wieder ihr Verstand einsetzte.
Sie öffnete die Augen und erkannte, dass er noch immer gefährlich nah war. Plötzlich wurden seine Wangen rot, und er nahm die Hände von ihren Schultern.
Während er einen Schritt nach hinten machte, versuchte sie, Luft zu schnappen. „Sie werden sie heiraten“, brachte sie schließlich heraus.
„Ja“, erwiderte er und straffte die Schultern. „So bald wie möglich.“