23. KAPITEL

Sonntag, 27. April 1902
14 Uhr

Francesca sah den Mann nun lange ungläubig an. „Kate war Ihre Schwester?“

Hart und Bragg kamen zu ihr, während der Gentleman antwortete: „Ja, das ist richtig.“

Einen Moment lang konnte sie nichts anderes machen, als dazustehen und ihn anzustarren. Wie konnte Kate Sullivan aus der Arbeiterschicht einen Bruder haben, der ganz offensichtlich in besseren Kreisen zu Hause war?

„Ich bin Rick Bragg, Police Commissioner“, nutzte Bragg das vorübergehende Schweigen. „Es tut mir leid, was Ihrer Schwester zugestoßen ist.“

„Danke“, erklärte der Mann nun. „Ich bin übrigens Frank Pierson.“

„Könnten Sie uns erklären, wieso Kate als Verkäuferin gearbeitet hat und mit John Sullivan verheiratet war?“

Pierson presste die Lippen zusammen. „Lieber nicht. Dies ist ein trauriger Tag, Sir.“

Ehe er sich abwenden und gehen konnte, packte Bragg ihn am Arm. „Sir“, sagte er leise. „Ich fürchte, ich habe mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Sie haben keine Wahl, ob Sie antworten möchten oder nicht. Erklären Sie mir bitte, wieso eine Frau von solch vornehmer Abstammung einen Mann wie Sullivan heiratete und in denkbar schlechten finanziellen Verhältnissen lebte.“

„Es tut mir leid“, erwiderte Pierson lächelnd. „Ich bin ein wenig aufgewühlt. Sie müssen wissen, ich hatte Kate seit Jahren nicht mehr gesehen.“

„Seit wie vielen Jahren?“, hakte Bragg nach.

„Vor fünf Jahren brannte sie mit einem Schurken durch. Er stammte zwar aus gutem Haus, aber wegen seines höchst unmoralischen Lebenswandels wurde er enterbt. Als meine Schwester uns verließ, wurde sie von meiner Familie enterbt“, erklärte er mit Nachdruck. „Sie brach uns allen das Herz“, fügte er an.

„Und was ist mit diesem Schurken geschehen?“, wollte Francesca wissen. „Es war doch sicherlich nicht Sullivan?“

„Selbstverständlich nicht“, entgegnete Pierson und lächelte flüchtig. „Sein Name war Bradley Hunter. Er verließ sie nur kurze Zeit später. Heute lebt er in Paris, soweit ich weiß. Sie war mit den Nerven und finanziell am Ende, und da blieb ihr vermutlich nichts anderes übrig, als Sullivan zu heiraten.“

„Vermutlich?“, wiederholte Francesca, die Mitleid für Kate empfand. „Sprachen Sie nicht mit ihr, als Hunter sie verließ? Sie werden doch bestimmt versucht haben, sie nach Hause zurückzuholen.“

„Keineswegs“, antwortete er kühl. Seine Augen waren mit einem Mal völlig abweisend. „Zwar wurde sie heute beigesetzt, Miss Cahill, aber für meine Familie ist sie bereits vor fünf Jahren gestorben, und zwar am 14. Februar, als sie mit Hunter durchbrannte. An jenem Morgen sah ich sie das letzte Mal, als wir beim Frühstück zusammensaßen und uns unterhielten.“ Mit regloser Miene nickte er Bragg zu. „Beantwortet das Ihre Frage umfassend genug?“

„Beinahe“, gab der zurück. „Wo waren Sie am Donnerstagabend, Mr Pierson?“

Bragg ging in sein Büro und wartete dort auf Francesca. Sie folgte ihm zwar relativ rasch, war jedoch so in Gedanken, dass sie von ihrer Umgebung kaum etwas bewusst wahrnahm. Sie analysierte jeden Moment, den sie mit Frank Pierson zugebracht hatten. Als auch Hart eingetreten war, schloss Bragg die Tür.

Francesca sah die beiden Männer an. „Sein Alibi ist hieb- und stich fest.“

„Ja, hieb- und stichfest ist es tatsächlich“, stimmte Bragg zu.

„Und so praktisch“, steuerte Hart bei, „dass er an dem Tag, an dem seine Schwester ermordet wurde, bei seiner liebenswürdigen alten Mutter zu Abend gegessen hat.“

„Das gesamte Personal hat ihn dabei gesehen“, erklärte Francesca. „Der Koch, die Haushälterin, der Butler und ein Kammerdiener.“

„Und nicht zu vergessen die beiden Dienstmädchen“, ergänzte Hart ironisch.

„Er hat ein Alibi für jeden Abend, an dem der Schlitzer zuschlug“, überlegte Francesca. „Montags geht er immer in den Lions Club.“

Bragg ging zu seinem Schreibtisch, setzte sich aber nicht hin. „Newman überprüft jedes Alibi. Allerdings habe ich das Gefühl, dass niemand das Gegenteil behaupten wird, wenn Pierson sagt, er sei dort gewesen.“

„Das ist einfach zu perfekt“, sagte sie. „Er ist unser erster Verdächtiger, der für jede Tatzeit ein hieb- und stichfestes Alibi vorweisen kann, aber genau deshalb kann ich es ihm einfach nicht glauben.“

„Das sehe ich genau so“, pflichtete Bragg ihr ruhig bei.

Sie erwiderte sein Lächeln, da ihr jeder Instinkt zu sagen schien, dass sie ihren Mann gefunden hatten. „Kate Sullivan hatte sich von einem Schurken blenden lassen und brannte mit ihm durch. Offenbar hat der Bruder ihr das nie verzeihen können. Nicht zu fassen, dass sie nicht nach Hause zurückkehren durfte, nachdem Bradley Hunter sie so schnell sitzen ließ, wie er sie verführt hatte. Pierson zufolge war der Vater nur sechs Monate später an gebrochenem Herzen gestorben, offenbar hatte er nach dieser Enttäuschung seinen Lebenswillen verloren. Einige Monate vor Kates Sündenfall hatte er schon einmal eine Herzattacke erlitten, sich in der Folgezeit aber wieder erholt. Bis zum heutigen Tag leidet Kates Mutter unter schweren Depressionen. Glaubt man dem Bruder, dann ist Kate an allem schuld.“

Hart stellte sich zu Francesca und sagte: „Ich nehme an, er ließ sich nur kurz in seinem Club blicken, und ich bezweifle, dass irgendjemand sagen kann, wann genau er eingetroffen und wann er wieder gegangen war. Und die Hausangestellten werden aus Angst ohnehin nicht gegen ihn aussagen. Seine Alibis sind äußerst praktisch für ihn.“

Sie lächelte ihm kurz zu, dann wandte sie sich an Bragg: „Wie sollen wir nun vorgehen?“

„Ich werde ihn von einem meiner Männer in zivil beschatten lassen. Es gibt nur ein Problem“, erwiderte er.

„Ein Problem?“

„Wenn er der Schlitzer ist, warum kommt er zur Beerdigung und gibt sich damit zu erkennen?“

Einen Moment lang sahen sie sich an, als auf einmal Braggs Telefon klingelte. Als er den Hörer abnahm, wandte sich Francesca Hart zu. „Er hat einen Fehler gemacht. Sie alle machen irgendwann einen Fehler – zumindest alle die, die am Ende gefasst wer den.“

Als sie bemerkte, wie warmherzig sein Blick wurde, griff sie nach seiner Hand. „Ich möchte mit dir reden“, sagte Hart so leise, dass Bragg ihn nicht hören konnte. „Wenn wir wieder zu Hause sind.“

Ihre Augen wurden daraufhin groß, und ihr Herz machte einen Satz. Gleichzeitig umfasste sie Harts Hand fester. „Muss ich mich davor fürchten?“

„Ich möchte nicht, dass du dich jemals vor mir fürchtest“, gab er zurück, „aber deine Frage beantworten kann ich dennoch nicht.“ Er zögerte kurz und fügte dann an: „Ich möchte mit dir über Daisy reden.“

„Oh, Hart …“

Er sah zu Bragg und wurde schlagartig ernst. „Was ist passiert?“, wollte er wissen.

Bragg kam zu ihnen und sah sehr besorgt aus. „Das war Sarah Channing“, sagte er.

„Ist ihr etwas passiert?“, fragte Francesca erschrocken. Sie konnte sich keinen Grund vorstellen, warum sie Bragg anrufen sollte, erst recht nicht hier im Präsidium.

„Sie war ziemlich aufgeregt“, antwortete er und schaute sie ernst an. „Wie es scheint, fehlt ein Gemälde, das dein Porträt zeigt.“

„Es fehlt?“, wiederholte sie verständnislos. „Es wurde gestohlen.“

Sarah erwartete sie bereits dringend. Sie war kreidebleich, als sie sie ins Haus ließ. Bragg eilte sofort zu ihr, während Francesca zurückblieb, da sie immer noch das Gefühl hatte, unter Schock zu stehen. Sie hatten das Präsidium so hastig verlassen, als gelte es, ein Kapitalverbrechen zu verhindern. An die Fahrt zu Sarahs Haus konnte sich Francesca kaum erinnern. „Calder, das ist unmöglich“, flüsterte sie heiser.

Seine Miene war auf das Äußerste angespannt. Er war genauso außer sich wie sie selbst, und das war kein gutes Zeichen. „Offenbar ist es nicht unmöglich.“

„Calder, jemand außer dir, mir und Sarah hat das Porträt gesehen!“ Angst überkam sie. Wie eitel und dumm es doch von ihr gewesen war, für dieses Bild nackt zu posieren! Sie wusste, ihre Wangen glühten. Wer mochte sich bloß in diesem Augenblick ihr Bild ansehen? Wer hatte es gestohlen? Und warum?

„Francesca, es könnte noch viel schlimmer kommen“, gab er zu rück.

„Was in Gottes Namen meinst du denn damit?“, rief sie erschrocken.

„Ich will sagen, das Gemälde könnte durchaus irgendwo öffentlich ausgestellt werden. Kunstwerke werden üblicherweise nicht gestohlen, um sie dann wegzuschließen.“

Sie stieß einen spitzen Schrei aus, dann musste sie sich an Hart klammern, damit er ihr Halt gab. „Dazu werden wir es nicht kommen lassen“, versicherte er ihr.

Ihr Entsetzen kannte keine Grenzen. Sie war starr vor Schreck. Nackt für Hart zu posieren, war eine Sache, doch dass womöglich die halbe Welt sie so zu sehen bekommen sollte … Die Gesellschaft würde über nichts anderes mehr reden, denn wenn ein solches Geheimnis öffentlich wurde, ließ sich kaum noch verhindern, dass es sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Oh Gott! Sie musste an ihre Familie denken. Julia würde entsetzt sein, Andrew vor Scham im Erdboden versinken. Sie alle würden die Konsequenzen tragen müssen, nur weil sie sich auf eine solche Dummheit eingelassen hatte. Im Augenblick war es aber vor allem Verlegenheit, gegen die sie ankämpfen musste. Wie sollte sie sich je wieder in der Öffentlichkeit zeigen können, wenn das Gemälde erst einmal aufgetaucht war?

Bragg und Sarah kamen zu ihr. „Es tut mir so leid“, platzte es aus Sarah heraus. „Ich hätte mein Studio abschließen müssen. Francesca, verzeih mir bitte.“

Sie nickte nur, weil sie Mühe hatte, auch nur ein Wort herauszubringen. Schließlich benetzte sie ihre Lippen und flüsterte: „Es ist nicht deine Schuld.“

Sarah begann zu weinen.

„Nun“, mischte sich Bragg ein. „Es ist offensichtlich, dass ich nicht umfassend informiert wurde, denn diese Krise lässt sich beim besten Willen nicht damit rechtfertigen, dass ein Porträt gestohlen wurde. Was genau ist hier los? Wieso sehen die beiden so aus, als sei jemand gestorben?“, fragte er an Hart gewandt. „Und warum machst du eine Miene, als wolltest du jemanden ermorden?“

Francesca wandte sich ab und ließ sich von Hart in die Arme nehmen. Sie eng umfassend erwiderte er: „Es handelt sich um ein sehr eindeutiges Gemälde.“

Sie kniff die Augen fest zu.

„Sehr eindeutig?“, wiederholte Bragg.

Sarah zog an seinem Ärmel. „Es ist ein wundervolles Porträt, und es zeigt unverkennbar Francesca …“ Sie stockte und ließ den Satz unvollendet.

„Es ist ein Aktbild“, erklärte Hart daraufhin.

Sekundenlang herrschte Schweigen.

Francesca beschloss, sich von ihrer tapferen Seite zu zeigen, und drehte sich zu Bragg um.

„Ich verstehe“, sagte der schließlich, während seine Wangen rot wurden. Dann sah er wütend zu Hart. „Du musst wirklich alles beschmutzen, was du anfasst!“

Hart versteifte sich. Er war weiß vor Zorn. „Ja, ich bin ein Taugenichts. Das wolltest du doch sagen, oder?“

„Aber es ist doch nicht dein Fehler!“, protestierte Francesca.

Er reagierte mit einem spöttischen Laut.

„Und ob es das ist!“, polterte Bragg los. „Er hat sich noch nie für etwas anderes interessiert als für sich selbst. Sogar jetzt, da er mit dir verlobt ist, zählen für ihn nur seine abscheulichen Gelüste. Was hast du dir nur dabei gedacht, Francesca dermaßen bloßzustellen?“

Hart unternahm keinen Versuch, sich gegen die Vorwürfe zur Wehr zu setzen.

„Das ist nicht fair!“ Francesca stellte sich zwischen die beiden Männer und sah Bragg an. „Ich musste nicht dazu verleitet werden. Ich wollte dieses Bild, und zwar genau so! Hart wollte das Porträt in seinem Haus aufhängen … nach unserer Heirat.“

Bragg musterte sie ungläubig. „Selbst wenn das Gemälde nicht gestohlen worden wäre – ist dir nie in den Sinn gekommen, wie sehr ein solches Bild deinem Ruf schaden könnte?“

Sie schüttelte betreten den Kopf. Wie dumm sie doch gewesen war. „Nein.“

„Lass sie in Ruhe“, forderte Hart von Bragg und packte ihn, doch der schüttelte die Hand seines Halbbruders sofort von sich. „Ich schlage vor, du konzentrierst dich ganz auf die Arbeit, für die du bezahlt wirst. Dieser Diebstahl ist ein Verbrechen, und es muss aufgeklärt werden, ehe Schaden angerichtet werden kann!“

„Ich bezweifle, dass sich der Schaden verhindern lassen wird, den das Bild anrichten dürfte. Es ist so gut wie unmöglich, die Ermittlungen im Geheimen vorzunehmen!“, herrschte Bragg ihn an.

„Von wegen! Ich finde sogar, die Polizei sollte sich überhaupt nicht an den Ermittlungen beteiligen“, erklärte Hart überzeugt. „Ich werde selbst einige Detektive auf den Fall ansetzen. Ich werde das Gemälde wiederbeschaffen.“

Francesca sah ihn an. Vielleicht hatte er ja Recht. Wenn sie ein kleines, unabhängiges Team zusammenstellten, ließ sich das Porträt vielleicht finden, ehe jemand ein Wort darüber verlieren konnte – und erst recht, bevor jemand in der Lage war, es zur Schau zu stellen. Sie wandte sich wieder Bragg zu und biss sich auf die Lippe. „Er hat recht, wir sollten die Polizei aus dem Spiel lassen.“

„Du willst meine Hilfe nicht?“, fragte er knapp und warf ihr einen besorgten Blick zu.

„Natürlich will ich deine Hilfe, aber inoffiziell“, beteuerte sie. „Je weniger davon wissen, umso besser.“

Er machte eine verbissene Miene, nickte dann aber. Voller Verachtung sah er Hart an und erklärte: „Ich bete, dass sie eines Tages doch noch zur Besinnung kommt. Du wirst niemals gut genug für sie sein.“

Bragg hielt inne, als er die Diele seines Hauses betrat. Ein beklemmendes Gefühl lastete auf seinen Schultern wie ein unerträglich schweres Joch. Von oben hörte er Katie leise und bedächtig reden, während Dot abwechselnd kicherte und kreischte. Ihm wurde warm ums Herz, obwohl er wusste, dass seine Frau ebenfalls irgendwo im Haus war und er sich davor fürchtete, sie zu sehen. In welcher Laune sie sein würde, ließ sich unmöglich vorhersagen. Nur eine Sache war sicher: Mit jedem Tag wurde es etwas schlimmer, denn mit jedem Tag wurde sie trauriger und ging noch stärker zu ihm auf Distanz.

Er schloss die Tür und ging nach oben, wo Leigh Anne ihn bereits erwartete. Sie saß im Schlafzimmer in ihrem Rollstuhl und wirkte bedrückt und nachdenklich zugleich. Ein Stück den Flur entlang sah er Mrs Flowers, die die Mädchen in deren Zimmer beaufsichtigte.

„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Ich dachte, ich könnte nach der Beerdigung sofort heimkommen, aber es hat sich eine neue und womöglich sehr wichtige Spur ergeben, die uns zum Schlitzer führen könnte“, erklärte er, während er die Krawatte abnahm.

Sie versuchte, ihn anzulächeln, doch es wollte ihr nicht gelingen. „Ich weiß, deine Arbeit kommt an erster Stelle. Du musst dich dafür nicht entschuldigen“, erwiderte sie.

Sein Herz verkrampfte sich unwillkürlich. Sie war noch immer die schönste Frau, die er je gesehen hatte – auch jetzt, da sie in einem Rollstuhl saß und das Leuchten aus ihren smaragdgrünen Augen gewichen war. Hätte sie vor vier Jahren nicht genauso verständnisvoll sein können? Er wandte sich ab und eilte nach nebenan ins Umkleidezimmer. Der Schmerz in seiner Brust wurde noch stärker. Als sie heirateten, hatte sie für seine Arbeit keinerlei Verständnis aufbringen können. Sie hatte sich schlichtweg geweigert zu akzeptieren, wie wichtig seine Arbeit war und welche Prioritäten er setzen musste – so wie er nicht ihre Bedürfnisse hatte anerkennen wollen und es als völlig selbstverständlich ansah, dass sie seine Frau war.

Nicht zum ersten Mal verspürte er den absurden Wunsch, die Zeit zurückzudrehen und dann alles richtig zu machen, was anfangs falsch gelaufen war.

Er legte sein Jackett und die Krawatte auf einen Stuhl. Als er die Manschettenknöpfe öffnete, betrachtete er sein Spiegelbild. Es gab kein Zurück, für ihn existierten nur die Gegenwart und die Zukunft. Vor einem Monat hatte er noch die Scheidung gewollt, heute dagegen schien alles offen für ihn. Seine Gefühle waren nie chaotischer gewesen als in diesem Moment. Er wollte, dass die beiden Mädchen glücklich waren und nie aus seinem Leben gingen. Und er wollte Leigh Anne jeden Schmerz und jede Qual ersparen. Wenn es ihm bloß gelingen würde, sie zu trösten. Doch ein Blick genügte, und er wusste, wie unglücklich sie war. Wie sollte er es schaffen, dass sie wieder glücklich war, wenn sie ihm nicht einmal die Chance gab, es zu versuchen?

Wenn er es gekonnt hätte, dann hätte er alles zum Guten gewendet, ihre Ehe eingeschlossen. Doch er wusste ja nicht einmal, wo er anfangen sollte!

Im Geiste sah er Leigh Anne im Ballkleid, sah, wie sie tanzten und sie dabei in seinen Armen lag. Leigh Anne auf dem Bett der Mädchen, wie sie ihnen ein Märchen vorlas, zu jeder Seite eines der Kinder. Leigh Anne in seinem Bett, wie sie vor Lust stöhnte und ihn sehnsüchtig in sich aufnahm.

Er warf sein Hemd zur Seite und merkte, dass die schönen Erinnerungen ihn nur unnötig erregt hatten. Seit dem tragischen Unfall hatte sich nichts geändert. Sie schien jegliches Interesse an körperlicher Liebe verloren zu haben, während die bis dahin das Einzige gewesen war, was sie beide verbunden hatte. Er klammerte sich am Rand des Frisiertischs fest und fragte sich, ob er es überhaupt noch wagen würde, sie zu lieben. Er wusste, er konnte ihr solche Lust bereiten, und es kam ihm so vor, als sei das sogar die einzige Möglichkeit, um überhaupt noch zu ihr durchzudringen.

Doch er war ein Feigling, der keine verführerische Geste zu machen wagte.

„Rick, ich weiß, du hattest einen anstrengenden Tag, aber … oh, entschuldige“, sagte Leigh Anne und wurde rot. Sie war ihm ins Umkleidezimmer nachgekommen und hatte jetzt den Blick verschämt auf ihren Schoß gerichtet.

Er wandte sich vom Spiegel ab und sah sie an. Ihre Reaktion auf seinen nackten Oberkörper irritierte ihn. „Was gibt es?“

Den Blick weiter gesenkt, schüttelte sie den Kopf, als könne sie nicht reden. Gleichzeitig versuchte sie, den Rollstuhl zu wenden, um aus dem kleinen Umkleidezimmer zu fahren. „Es ist nichts“, fügte sie an und fuhr im nächsten Moment mit dem Stuhl gegen die Wand.

Rick packte die Handgriffe. „Lass mich dir helfen“, sagte er und sah sie weiter an.

Ihm fiel auf, dass sie die Augen geschlossen hielt und ihre Wangen immer noch gerötet waren.

Ohne nachzudenken legte er eine Hand auf ihre Schulter, woraufhin Leigh Anne zusammenzuckte, als habe er sie verbrüht. „Lass mich dir einfach nur helfen“, wiederholte er, sich durchaus darüber im Klaren, dass es seine Nacktheit war, die sie aus irgendeinem Grund verstörte. Mit finsterer Miene schob er sie zurück ins Schlafzimmer.

„Danke“, erwiderte sie kaum hörbar.

Er ging um sie herum, um sie anzusehen, und atmete tief durch in der Hoffnung, sich zumindest ein wenig sammeln zu können. „Gibt es etwas, das du mit mir besprechen möchtest?“, fragte er leise, während er sich ihr gegenüber auf die Bettkante setzte.

Sie schaute auf und richtete den Blick starr auf sein Gesicht. „Könntest du dich anziehen?“

Ihre Bitte überraschte ihn. „Du hast mich hunderte Male ohne mein Hemd gesehen.“

„Alles hat sich aber verändert“, flüsterte sie und sah an ihm vorbei.

Bragg machte keine Anstalten, sich etwas überzustreifen. Ihre Wangen waren gerötet, und wenn er sich nicht irrte, dann ging ihr Atem etwas schneller als sonst. So viele Bilder von fleischlichen Gelüsten rasten durch seinen Kopf, während die Begierde sich so heftig zu Wort meldete, dass er kaum noch Luft holen konnte. Wenn es eine Größe gab, auf die er sich stets hatte verlassen können, dann war es das gegenseitige unersättliche Verlangen. Vielleicht war ihr Desinteresse nur eine Fassade, eine Lüge.

Was, wenn er auf diesem Weg zu ihr vordringen konnte?

Für einen Moment sah sie auf, und ihre Blicke trafen sich. Sie musste gespürt haben, was in seinem Kopf vor sich ging. „Was hast du vor?“, fragte sie zögerlich.

Er rutschte von der Bettkante und kniete neben ihr nieder. „Das, was ich tun wollte, seit dem Tag, an dem du aus dem Bellevue zurückkamst“, sagte er außer Atem und hob ihr Kinn an.

Entsetzt riss sie die Augen auf. „Nein, Rick“, setzte sie an, doch er unterbrach sie, indem er sie auf den Mund küsste.

Zuerst legte er nur eine Hand an ihr Gesicht, während die andere auf ihrem Arm ruhte. Als er wieder ihre Lippen berührte, fühlte er sich wie ein Sterbender, dem ein neuer Lebenshauch geschenkt worden war. Sein Herz schlug wie wild in seiner Brust, und er wurde von einer völlig widersinnigen Ausgelassenheit erfasst. Er wunderte sich, warum er sie nicht schon längst geküsst hatte, denn ihr wunderbarer Geschmack war alles, was er brauchte. Da er spürte, dass ihr Mund dem Druck seiner Lippen nachgab, küsste er sie umso intensiver. Die Erleichterung, das Richtige zu tun, wich schnell einer Begeisterung, die keinen vernünftigen Gedanken mehr zuließ. Sein ganzer Körper bebte, das Verlangen überwältigte ihn so sehr, dass er nichts anderes wollte, als Leigh Anne auf das Bett zu werfen und sie zu lieben. Doch er wusste auch, er musste sehr sanft und vorsichtig sein. Also hob er sie behutsam hoch und lächelte sie an.

Sie drückte die Hände gegen seine Schultern, die Augen waren weit aufgerissen. „Nein! Hör auf!“

Ihre Worte drangen kaum zu ihm durch, als er sie aufs Bett legte. „Ich möchte dich lieben“, flüsterte er. Triumph erfüllte ihn, als er in ihren Augen den Schleier der Leidenschaft wiedererkannte. Er lächelte und küsste zärtlich ihren Hals, dann ihre feste Brustspitze.

„Ich habe Nein gesagt?“, schrie sie ihn an und schlug mit den Fäusten gegen seinen Oberkörper.

Er wich ruckartig zurück.

Sie begann zu weinen, und Bragg wurde klar, dass sie sich vor ihm zurückgezogen hätte, wenn es ihr möglich gewesen wäre. Doch ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“, fuhr sie ihn an.

Bragg richtete sich schwer atmend auf, die Luft brannte in seinen Lungen. Nein, das war es nicht, sondern es war sein Herz, das so schmerzte. Er rieb sich die Brust. „Ich wollte dich lieben.“

„Mich?“, gab sie ungläubig zurück. „Warum, Rick? Etwa aus Mit leid?“

Er musste schlucken. Sein Herz schlug vor Verlangen nach ihr noch immer rasend schnell. „Nein, das hat nichts mit Mitleid zu tun, ich …“ Er zögerte. Die Lust hatte ihn im Griff, doch da war noch mehr, viel mehr. Allerdings fürchtete er sich davor, es beim Namen zu nennen. „Ich begehre dich noch immer, Leigh Anne.“

„Begehre eine andere Frau?“, brüllte sie ihn an, während ihr Tränen über die Wangen liefen. „Nimm dir eine Geliebte?“, schluchzte sie und hielt sich die Hände vors Gesicht.

„Was?“, fragte er, da er sich sicher war, sie falsch verstanden zu haben. Er merkte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, doch es erschien ihm so, als würde in Wahrheit das Leben aus ihm weichen.

Mit Tränen in den Augen sah sie ihn zitternd an. „Oder willst du eine Scheidung? Ich werde mich nicht dagegen wehren, Rick, aber wir müssen uns irgendwie um die Mädchen kümmern.“

Was redete sie da? „Ich will keine Scheidung“, hörte er sich sagen.

„Ich weiß, das ist dir gegenüber nicht fair“, fuhr sie fort, als er zu begreifen begann.

Er schnitt ihr sofort das Wort ab: „Ich entscheide selbst, was mir gegenüber fair ist und was nicht. Willst du dich denn etwa trennen?“

Wieder trafen sich ihre Blicke, und nach einer langen Pause antwortete sie mit heiserer Stimme: „Ich will die Mädchen. Ich liebe sie zu sehr, und ich weiß, du liebst sie auch. Wir haben ihnen ein gutes Zuhause gegeben, das sie auch verdient haben. Ich könnte es nicht ertragen, sie wieder fortzuschicken. Mein Gott, sie würden es nicht verstehen!“

Jetzt wurde ihm klar, was sie wirklich meinte. Ohne Katie und Dot in ihrem Leben hätte sie ihn längst verlassen. Sosehr er sich auch neben ihr hinknien und ihre Hände halten wollte, konnte er nicht anders, als die Arme vor der Brust zu verschränken. Ihm war speiübel. „Ich will keine Scheidung“, sagte er mit belegter Stimme und fügte nach kurzem Zögern an: „Und ich nehme mir auch keine Geliebte.“ Er begann zu zittern, da er nun das volle Ausmaß dessen begriff, was sie ihm gesagt hatte.

Sie trocknete ihre Tränen, dann sah sie ihm in die Augen. „Ich kann mich nicht mehr um deine Bedürfnisse kümmern“, flüsterte sie. „Ich werde darüber hinwegsehen … bitte.“

„Keine Sorge, Leigh Anne“, erwiderte er in kühlem Tonfall. „Du hast dich sehr klar ausgedrückt. Ich werde dich nicht wieder belästigen.“ Wutentbrannt stürmte er aus dem Zimmer.

Leigh Anne sah ihm schweigend nach.