Francesca konnte es nicht fassen. Hart war die letzte Person, die sie hier erwartet hätte. Was machte er überhaupt in der Stadt?
Dann bemerkte sie unter der offenen Jacke seines Anzugs die dunklen Flecken auf dem weißen Hemd. „Calder?“, fragte sie ängstlich.
Auch ihm war die Überraschung anzusehen. „Francesca!“, rief er, und Ärger mischte sich in seine Miene. „Warum wundert es mich nicht, dich hier zu finden?“
„Bist du verletzt?“, wollte sie wissen, gleichzeitig stieg ein furchtbarer Verdacht in ihr hoch. Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass das Blut auf seinem Hemd von Daisy stammte. Vollkommen erstarrt blickte sie in sein dunkles, markantes Gesicht.
„Nein, ich bin nicht verletzt.“ Er ergriff ihren Arm, als ob er sie stützen wollte. „Daisy ist tot, Francesca.“
Während sie versuchte, ihrer Verwirrung Herr zu werden, bemerkte sie seinen forschenden Blick. „Ich weiß.“
„Das Blut ist von ihr, nicht von mir. Ich habe sie im Arbeitszimmer gefunden. Erstochen.“
Ihre Blicke trafen sich. Urplötzlich war Francesca wieder völlig klar im Kopf. Er sollte in Boston sein. Wann war er nach New York zurückgekehrt, und warum hatte er sie nicht angerufen? Was tat er hier in Daisys Haus – in der Küche und den Räumen des Personals? Nach dem Blut auf seinem Hemd zu urteilen, hatte er Daisy genauso festgehalten wie Rose. Etwas Stechendes und Widerwärtiges stieg in ihr hoch: Furcht. „Calder, Rose sagt, dass sie Daisy gefunden hat. Tatsächlich hat sie mir eine Nachricht geschickt und mich gebeten, hierherzukommen.“
„Als ich hier ankam, war Rose nicht hier.“ Ohne Furcht hielt sein Blick dem ihren stand. „Ich habe Daisy auf dem Boden des Arbeitszimmers gefunden. Sie war allein.“ Erst jetzt sah er zur Seite. Normalerweise besaß er eine stoische Gelassenheit, doch sie bemerkte, dass er um Fassung rang. „Und bereits tot.“
„Hast du ihren Puls gefühlt?“, fragte Francesca und fühlte sich äußerst unbehaglich. Fast, als würde sie einen Verdächtigen befragen. Doch das war selbstverständlich nicht der Fall.
Wieder traf sie sein Blick. „Ja.“
„Wann bist du hier eingetroffen, Calder?“
Jetzt sah er sie scharf an. „Ich bin gegen elf von zu Hause fortgefahren“, erklärte er. Dann fügte er unvermittelt und sanft hinzu: „Ich möchte nicht, dass du hier mit hineingezogen wirst, Francesca.“
Was ihre Anspannung nur noch verstärkte. Denn sie war bereits beteiligt, weil Daisy früher Harts Geliebte und Francescas Freundin und seit kurzem ihre Konkurrentin gewesen war.
„Francesca“, sagte er plötzlich schroff und ergriff ihr Handgelenk.
Eindringlich sah sie ihm in die Augen. „Daisy ist tot, Calder. Sie wurde ermordet. Ich denke, wir sind beide beteiligt.“
Prompt wandte er sich ab, doch nicht schnell genug, um den Schmerz in seinen Augen zu verbergen. Francesca war bestürzt. Bildete sie es sich ein, oder empfand ihr Verlobter auch nach all dieser Zeit noch etwas für Daisy?
Langsam wandte er sich ihr wieder zu. „Warum siehst du mich so an?“ Nun klang seine Stimme weicher, und seine Hand streichelte die ihre. „Auch ich stehe unter Schock. Wir sollten die Polizei benachrichtigen.“
Schmerzhaft und stark schlug das Herz in ihrer Brust. Falls sie gerade noch Trauer in seinen Augen gesehen hatte, so war sie nun verschwunden.
„Calder, was tust du hier?“, fragte Francesca – unsicher, ob sie die Antwort überhaupt hören wollte.
Er zögerte, und seine Miene verschloss sich. „Ich konnte meine Geschäfte in Boston schneller als erwartet erledigen und bin heute Abend um Viertel vor sieben am Bahnhof angekommen.“ Er blickte sie direkt an. „Nachdem ich Daisy gefunden hatte, wollte ich nach Spuren suchen. Aber kaum fing ich damit an, kam plötzlich Rose ins Haus. Sie trug keinen Mantel oder Umhang – offensichtlich war sie nur kurz hinausgegangen. Ich versteckte mich. Sie ging auf direktem Weg ins Arbeitszimmer, zu Daisy. Ich folgte ihr. Beim Anblick von Daisys Leiche zeigte sie nicht die Spur einer Überraschung.“
Francescas Gedanken überschlugen sich. Denn Calder hatte ihre Frage nicht beantwortet. Hatte ihr nicht gesagt, warum er zuerst zu Daisy gefahren war. Zwischen ihm und Daisy gab es nur noch finanzielle Dinge zu klären. So etwas konnte warten. Schließlich war es inzwischen weit nach Mitternacht.
Wenn er sein Haus um elf verlassen hatte, war er ungefähr vor einer Stunde bei Daisy eingetroffen. Was hatte er die ganze Zeit im Haus getan? Ihr Herz raste vor Angst. Man musste kein Polizist sein, um zu wissen, dass Hart wahrscheinlich mit dem Gesetz in Konflikt kommen würde. „Und dann passierte was, Cal der?“
„Ich ging los, um das Haus zu durchsuchen.“ Er ließ ihre Hand los und hob ihr Kinn an. „Verständlicherweise bist du sehr aufgewühlt. Genau wie ich. Aber hab keine Angst, wir stehen das gemeinsam durch.“
Obwohl sie tapfer versuchte, ihn anzulächeln, war sie ziemlich sicher, dass das Ergebnis kläglich war. „Natürlich werden wir das. Aber Daisy ist tot, Calder. So gemein sie auch zu mir war, zu uns war – sie hat es nicht verdient zu sterben, und mit Sicherheit nicht auf diese Weise.“
Seine Miene verdüsterte sich, und etwas Dunkles flackerte in seinen Augen. „Nein. So viel Ärger sie uns in letzter Zeit auch gemacht hat, den Tod hat sie gewiss nicht verdient.“
Plötzlich erinnerte Francesca sich wieder an jenen Tag vor einem Monat, als sie mit Daisy vor der Kirche gestanden hatte. Nachdem ihre Rivalin sie verspottet hatte, stolzierte sie hoch erhobenen Hauptes davon. Anschließend hatte Calder wütend und sehr bestimmt gesagt, dass Francesca sich keine Sorgen machen brauche.
Ich werde mich um Daisy kümmern. Das war der exakte Wortlaut. Voller Angst überlegte Francesca, ob irgendjemand diesen Satz mitgehört hatte. Natürlich hatte Calder damit nicht gemeint, dass er Daisy umbringen würde. Doch Daisy war bis vor wenigen Monaten seine Geliebte gewesen, und finanziell unterstützte er sie immer noch. Francesca hatte genügend Verbrechen aus Leidenschaft aufgeklärt, um zu wissen, dass sie Hart aus diesem Fall raushalten sollte. „Calder, du solltest sofort gehen. Ich beauftrage einen Boten und alarmiere Bragg. Hat dich irgendjemand gesehen? Hat Rose dich gesehen?“
Befremdet sah er sie an, bevor er sanft fragte: „Versuchst du, mich zu beschützen, Francesca?“
Um sich gegen ihn zu wappnen, straffte sie die Schultern, doch sein Blick brachte ihr Herz zum Schmelzen. „Schon gut, ich gestehe. Ja, ich möchte dich beschützen. Du solltest von diesem Haus und dem Tatort so weit wie möglich entfernt sein.“ Zu ihrer Beunruhigung erwachte in diesem Moment in ihrem immer noch leicht benommenen Kopf der Gedanke, dass sie die Polizei belügen musste, wenn niemand wissen durfte, dass Calder bei Daisy gewesen war. Ob sie in der Lage wäre, Rick Bragg eine solche Lüge aufzutischen, wusste sie beim besten Willen nicht.
„Ich habe bereits mit Homer, dem Butler, und mit der Magd gesprochen. Beide wissen also, dass ich hier bin. Und ich glaube nicht, dass Rose mich gesehen hat. Aber ich habe Daisy hier ermordet aufgefunden, Francesca – ich habe sie nicht selbst ermordet.“
Sie spürte, wie wütend er war. Schnell griff sie nach seiner Hand, doch er schüttelte sie ab. „Calder! Ich weiß, dass du sie nicht getötet hast!“ Daran hatte sie tatsächlich keinen Zweifel. „Aber du warst am Abend ihres Todes hier und könntest darin verwickelt werden.“ Insgeheim hoffte sie, dass der Gerichtsmediziner feststellen würde, dass Daisy vor Viertel vor sieben getötet wurde.
„Du brauchst mich nicht zu beschützen, Francesca“, erwiderte er. „Außerdem weiß die halbe Stadt, dass ich sie ausgehalten habe. Ich kann unsere Beziehung nicht verleugnen. Aber denk bitte daran, dass Rose vermutlich vor mir hier war.“
„Dein Wort steht gegen ihres.“ Leider sah alles danach aus, als bräuchte er in dieser Sache viel Glück. Wenn sie nicht rasch einen anderen Verdächtigen fand, würde die Polizei Hart unweigerlich zu ihrem Hauptverdächtigen machen. Als sie aufsah, bemerkte sie, dass er sie unverwandt mit einem viel zu entschlossenen Blick betrachtete.
Plötzlich wurden seine Züge weich. Er streichelte ihre Wange. „Warum streiten wir? Du brauchst mich nicht zu beschützen, Francesca, denn ich habe nichts Falsches getan. Und seit ich als kleiner Junge auf der Straße Essen gestohlen habe, bin ich für mich selbst eingetreten. Und ich habe dich vermisst“, fügte er unwiderstehlich sanft hinzu.
„Ich habe dich auch vermisst“, flüsterte sie bebend und glitt in seine geöffneten Arme. Noch immer bestürzt, doch auch erleichtert, presste sie sich an seinen kräftigen, starken Körper. Das hatte sie sich am meisten gewünscht. Gleichzeitig ahnte sie, dass dieser Fall zu etwas Furchtbarem führen würde. Sie hatte Angst um ihn, um sich, um sie beide. Doch so angsterfüllt sie auch war, nie hatte sie ihn mehr geliebt.
Lange hielt er sie einfach nur fest, und sie spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Auch ihr eigener Puls wurde schneller, wenn sie in seinen Armen lag. Francesca hob den Kopf.
Er küsste sie vorsichtig, einmal, zweimal, dreimal.
Unter den zärtlichen Liebkosungen spürte Francesca sein drängendes Verlangen. Wie immer reagierte ihr Körper, indem das Blut heiß in ihren Adern pochte. Ganz unerwartet machte Hart auf einmal einen Schritt zurück. „Wir sollten die Tote respektieren“, sagte er ernst.
„Ja, da hast du recht.“ Francesca kreuzte die Arme vor der Brust und versuchte, sich wieder aufs Wesentliche zu besinnen. „Rose ist bei … Daisy.“
„Rose“, wiederholte er. „Könnte sie die Frau, die sie geliebt hat, getötet haben? Wann hat sie dir diese Nachricht geschickt?“
Auch wenn Francesca sich nicht vorstellen konnte, dass Rose ihre beste Freundin getötet hatte, würde sie die Möglichkeit keinesfalls außer Acht lassen. „Die Nachricht wurde um kurz vor Mitternacht bei uns zu Hause abgegeben. Lass uns von zehn vor zwölf ausgehen. Rose hat den Brief gegen elf oder ein wenig später geschickt. Sehr wahrscheinlich, dass sie die Nachricht dem Droschken-Fahrer übergeben hat, als du angekommen bist.“ Natürlich könnte man den Verdacht auch auf Rose lenken. „Sie hat die Leiche vor dir gefunden. Sie war zuerst am Tatort.“
Einen Moment sah er sie an. „Ich habe Rose nie getraut. Warum hat sie von allen Menschen ausgerechnet dich um Hilfe gebeten? Wo es doch keinerlei Sympathien mehr zwischen euch gibt.“
Francesca zögerte.
„Lass mich raten“, meinte er sarkastisch. „Sie hat dich mit der Suche nach dem Mörder beauftragt?“
Nervös biss sich Francesca auf die Lippen. „Calder“, begann sie, um ihn von dem Thema abzulenken. Denn auch wenn er ihre Ermittlungen immer unterstützte und stolz auf ihren Erfolg war, wusste sie nur zu gut, warum er nicht wollte, dass sie diesen Fall übernahm. Der Grund war Daisy. „Hier geht es um ein Verbrechen aus Leidenschaft. Ich glaube nicht, dass der Mörder schwer zu finden sein wird. Nach allem, was ich gesehen habe“, fügte sie hinzu, mit dem Bild von Daisys zerfetzter Brust vor Augen, „hat jemand in einem Anfall von Wut mehrfach auf sie eingestochen.“
„Aber du kannst die Art des Verbrechens noch nicht beurteilen!“, rief Hart. „Versteh mich jetzt bitte nicht falsch, Francesca, aber dies ist ein Fall, bei dem ich dich nicht beteiligt sehen will.“
„Aber ich bin beteiligt. Sie war deine Exgeliebte, und ich bin deine Verlobte.“ Francesca versuchte, freundlich und bestimmt zugleich zu sein.
Mit einem verärgerten Brummen ergriff er ihren Arm. „Francesca, ich bitte dich, nur dieses eine Mal nicht in einem Fall zu ermitteln.“
Wieder stieg ein schreckliches Gefühl der Bedrohung in ihr auf. Francesca warf einen verstohlenen Blick in Harts wütendes Gesicht, und ihr Mut sank. Offensichtlich war dies nicht der richtige Moment, um ihm zu sagen, dass nichts und niemand – nicht einmal er – sie davon abhalten konnte, Daisys Mörder zu suchen. Aber warum wollte er sie unbedingt von dem Fall fernhalten?
„Dies ist für uns beide zu persönlich“, betonte Hart mit ruhigerer Stimme, als ob das seinen Standpunkt erklären würde; doch es erklärte überhaupt nichts.
„Ja, es ist für uns beide persönlich“, stimmte sie zu. Sie war sich seines verärgerten Blickes bewusst, doch im Moment dachte sie an Rose. Und daran, dass sie sie fragen musste, wann genau sie Daisy gefunden hatte. Ihrer großen Trauer nach zu schließen, war es durchaus möglich, dass sie einige Zeit neben ihrer toten Freundin gesessen hatte, bevor sie die Nachricht für Francesca aufgesetzt hatte. Eines war gewiss: Daisy war vor elf oder halb zwölf ermordet worden, denn zu dem Zeitpunkt hatte Rose die Nachricht an sie abgeschickt.
Zusammen gingen sie ins Arbeitszimmer, wo noch immer die Kerze flackerte. Je näher sie kamen, desto langsamer wurden ihre Schritte. Der Griff um ihre Hand verstärkte sich. Francesca blickte Calder an, und er versuchte zu lächeln, doch sein nach oben gezogener Mund konnte nicht von der Traurigkeit in den nachtblauen Augen ablenken. Er war weitaus betroffener, als er sich anmerken ließ, dachte sie bestürzt. Mein Gott, wenn er nun tatsächlich noch Gefühle für Daisy hatte? Konnte sie das verkraften, wo sie doch Daisy schon immer als eine Bedrohung für ihre Beziehung empfunden hatte?
Zusammengekauert wie ein Kind, die Knie an die Brust gezogen, saß Rose auf dem Sofa. Ihr dunkelgrünes Abendkleid war über und über mit Blut besudelt. Als sie Schritte hörte, sah Rose auf.
Sofort sprang sie auf die Füße und deutete mit zitterndem Finger auf Hart. „Du! Ich hätte es wissen müssen! Du verdammter Bastard! Du hast sie getötet!“
Police Commissioner wird Pflichtversäumnis vorgeworfen
Commissioner lässt Reformer im Stich Führende Bürger entrüstet über Polizeimethoden
Angewidert schleuderte Rick Bragg die drei Zeitungen von seinem Schreibtisch und vergrub den Kopf in seinen Händen. Er hatte Kopfschmerzen und war unglaublich müde. Nie hatte er sich erschöpfter gefühlt, und das hatte nichts damit zu tun, dass die alte Standuhr in der Halle gerade einmal geschlagen hatte, zum Zeichen, dass es ein Uhr in der Früh war. In diesem Moment bedauerte er fast schon seine Ernennung durch den Bürgermeister, eine Ernennung, die ursprünglich mit Freude und Hoffnung verbunden war. Er war der erste Police Commissioner seit Teddy Roosevelt, der sich an die große Aufgabe machte, den korrupten Polizeiapparat zu reformieren. Doch die Schlagzeile des Tages warf ihm Untätigkeit vor – eine Untätigkeit, mit der er nie gerechnet hätte, aber der Bürgermeister hatte ihm die Hände gebunden und ließ ihn seine Arbeit nicht so tun, wie er sie gern getan hätte.
Seufzend griff Bragg nach dem Bourbon. Bürgermeister Low fürchtete um die Stimmen der großen deutschen Gemeinde und hatte darum gebeten, dass die Sonntagsgesetze, die die Schließung sämtlicher Lokale am Sabbat vorsahen, von der Polizei nicht weiter durchgesetzt wurden. Obwohl jede Gruppe von Reformern in der Stadt die Schließungen bejahte. Doch nach mehreren Razzien hatte Tammany Hall es sich zur Aufgabe gemacht, Bragg und seinen Kräften so viele Steine wie möglich bei der Einführung der Gesetze in den Weg zu legen. Die deutschen Arbeiter der Stadt waren aufgebracht und forderten per Demonstration und Eingaben ihre Rechte. Aus Furcht, seine Wiederwahl zu gefährden, hatte Low Bragg um Rückzug gebeten.
Low war gut für die Stadt. Er hatte sich den sozialen und politischen Reformen verschrieben, und er war mutig genug, um Hall entgegenzutreten. Außerdem war er Braggs Chef. Daher gab es für Rick keine Möglichkeit, seine Anweisungen zu ignorieren, selbst wenn er damit seinen Schwur, das Recht zu vertreten und ihm zu dienen, gefährdete.
Nun konnte er von niemandem mehr Unterstützung erwarten. Die Reformer, die vom Klerus und den progressiven Eliten der Stadt angeführt wurden, forderten ebenso massiv seinen Rücktritt wie der halbe Polizeiapparat. In den letzten fünf Monaten hatte er intern für Aufregung gesorgt, indem er überall Inspektoren degradierte, um den Ring von Bestechung und Erpressung aufzubrechen, der die Stadt im Würgegriff von Korruption und Lüge hielt. Einzig Low machte deutlich, dass er Rick weiter im Amt sehen wollte. In Anbetracht der Umstände war er als Bürgermeister recht zufrieden mit der internen Säuberung des Polizeiapparats. Und auch wenn Rick einen Rücktritt noch nicht wirklich erwogen hatte, kam er ihm an endlosen Tagen wie diesem schon mal in den Sinn.
Er war nie zu Hause, dabei hatte seine Familie ihn nie mehr gebraucht als jetzt.
Mit einem Schluck trank er das Glas Bourbon aus und schenkte sich nach. Seine Familie. Das Bild seiner schönen Frau und der zwei kleinen Töchter, die sie adoptieren würden, tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Wem machte er etwas vor? Vor ein oder zwei Stunden hatte er den dringendsten Papierkram erledigt und dann beschlossen, sich den verdammten Zeitungen und ihren Anschuldigungen zu widmen, weil er Angst hatte, nach oben zu gehen.
Angst, das Schlafzimmer zu betreten, das er mit seiner Frau teilte. Angst, ins Bett zu gehen.
Er stützte das Kinn in die Hände und schloss die Augen. Denn er war so müde, dass er am Schreibtisch hätte einschlafen können. Und das lag nicht an seiner Position, nicht an der Korruption und nicht an der Politik – es lag an dem persönlichen und privaten Dilemma, in dem er sich befand. Wie lange konnte er noch so weitermachen?
Er war ein Fremder geworden für seine Familie, ein Fremder für die kleinen Mädchen, die ihn brauchten – und ein Fremder für seine Frau.
Weil sie es so wollte.
Innerlich hin- und hergerissen hielt es ihn nicht länger auf dem Stuhl. Ein Teil von ihm war fest entschlossen, diese Treppe hinaufzugehen, ins Bett zu steigen und sie einfach festzuhalten, auch wenn sie ganz steif wäre vor Anspannung und sich schlafend stellte. Er wusste, dass sie sich abwand, wenn er die Arme nach ihr ausstreckte, weil sie ihm keine Gelegenheit bieten wollte, sie zu trösten oder ihr näher zu kommen. Und er konnte es ihr nicht verdenken.
Mochte Leigh Anne ihm noch so oft versichern, dass sie ihm keine Schuld an dem Unfall gab, der ihre Beine gelähmt hatte, so machte er sich doch selbst Vorwürfe. Und in seinem tiefsten Inneren wusste er, dass sie ihm ebenfalls welche machte.
Schon einmal hatte er geglaubt, dass ihre Ehe vorbei sei. Das war Jahre vor dem Unfall gewesen, kurz nach ihrer Hochzeit. Damals hatte sie ihn verlassen, um durch Europa zu reisen, und er hatte sie dafür leidenschaftlich gehasst. Aber er liebte sie noch immer und hatte es von Anfang an getan. Aber leider war auf schmerzvolle Weise offenkundig geworden, dass sie ihn nicht länger liebte. Natürlich sollte er ihr die Freiheit geben, nach der es sie verlangte, doch wie konnte er das tun? Wer würde sich dann um sie kümmern? Und was war mit den Mädchen? Wenn er Leigh Anne verließ, bedeutete das, dass er seine ganze Familie verlor.
Allein bei dem Gedanken zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen.
Trübsinnig starrte er in den dunklen, leeren Kamin. Die Vergangenheit erstand vor seinem geistigen Auge – der Moment, als er Leigh Anne zum ersten Mal gesehen hatte und sich sofort in sie verliebte. Ihre Hochzeit und ihr Glück. Seine plötzliche und unerwartete Entscheidung, die lukrative Karriere an den Nagel zu hängen, um als Vertreter des Rechts den Armen und Unglücklichen beizustehen. Ihr Entsetzen, weil er sich gegen ein beträchtliches Einkommen entschied und stattdessen achtzig Stunden die Woche arbeitete. Dann ihr Verrat. Sie verließ ihn einfach, beendete die Ehe. Zu spät wünschte er sich, dass er den verdammten Job niemals angenommen oder sie angefleht hätte, zurückzukehren.
Doch beides hatte er nicht getan. Vier Jahre der Trennung verstrichen bis zu jenem Abend, an dem Francesca Cahill in sein Leben trat.
Obwohl seine Traurigkeit zunahm, lächelte er. Was wäre wohl geschehen, wenn Leigh Anne nie zu ihm zurückgekehrt wäre? Nach wie vor empfand er tiefe Gefühle für Francesca, und das würde immer so bleiben. Beinahe hätten sie sich tatsächlich ineinander verliebt, doch das schien eine Ewigkeit her zu sein. Nun war er mit seiner Frau und den Kindern verbunden – und Francesca mit seinem Halbbruder. Bei dem Gedanken erlosch sein Lächeln. Hart würde ihr das Herz brechen. Das wusste er ebenso gut, wie er wusste, dass Leigh Anne die Trennung wollte. Doch wenn Hart Francesca verletzte, würde er ihn verletzen.
Ein energisches Pochen an der Haustür unterbrach seine Gedanken.
Bragg war erleichtert, denn er dachte nur ungern an Francesca und Hart. Da es bereits sehr spät war, konnte es sich nur um Berufliches handeln – einen Notfall. Bragg griff nach dem Jackett, das über seinem Stuhl hing, und eilte den schmalen Flur des viktorianischen Mietshauses entlang.
Vor ihm stand ein junger Uniformierter mit ernstem Gesichtsausdruck und einer Laterne in der Hand.
„Worum geht es hier?“, fragte Bragg, der den jungen Polizisten nicht kannte.
„Sir, ein Mord. Inspektor Newman meinte, Sie möchten wahrscheinlich sofort zum Hauptquartier kommen.“
Dankbar für die Ablenkung, nickte Bragg kurz. Er trat hinaus und schloss die Eingangstür hinter sich. Die Nachtluft war kühl, aber nicht unangenehm. „Wer ist das Opfer?“, fragte er.
„Eine Frau. Sie heißt Miss Daisy Jones, Sir.“
Erst nach einem Moment begriff er die bestürzende Nachricht – Harts ehemalige Geliebte war ermordet worden. „Newman ist im Hauptquartier? Nicht am Tatort?“, hakte er überrascht nach.
„Nein, Sir. Natürlich sind einige Beamten am Tatort, doch er muss mit mehreren Zeugen sprechen, Sir. Er bat mich, Ihnen auszurichten, dass er in diesem Moment Calder Hart und Miss Cahill befragt.“
Bragg stolperte, konnte es nicht fassen. Hart war im Hauptquartier – mit Francesca. Augenblicklich war ihm klar, dass dieser Fall eine Katastrophe werden würde.
Francesca saß neben Hart an dem langen, zerkratzten Tisch im Konferenzraum des Polizeihauptquartiers. Der Raum lag im zweiten Stock des Gebäudes, nur eine Tür von Braggs Büro entfernt. Den beiden gegenüber saß Inspektor Newman, ein korpulenter und umgänglicher Mann mit ergrauendem Haar, mit dem Francesca bereits mehrmals zusammengearbeitet hatte. In diesem Moment hielt er einen Notizblock in der Hand und trug seine professionellste Miene zur Schau. Francesca ahnte, dass sie dafür verantwortlich war. Newman wusste von ihrem guten Verhältnis zu Bragg.
Bereits während der kurzen Fahrt von Daisys Haus zur Mulberry Street hatte sich Francesca Harts Geschichte erzählen lassen. Trotzdem beobachtete sie ihn nun ein weiteres Mal aufmerksam und lauschte jedem seiner Worte. Sie konnte nicht anders, schließlich hatte sie bei ihren Ermittlungen gelernt, jedes Detail zu prüfen und noch einmal zu prüfen. Oft brachten Zeugen Fakten und Geschehnisse durcheinander; genauso oft führten Verbrecher die Polizei absichtlich in die Irre. Selbstverständlich verdächtigte sie Hart nicht, und sie erwartete eine klare Schilderung der Fakten von ihm. Doch obwohl sein Gesicht ausdruckslos und seine Stimme ruhig schienen, war sie inzwischen sicher, dass die Ereignisse des Abends ihn sehr mitgenommen hatten.
„Ich habe den Bahnhof wenige Minuten vor sieben verlassen. Da ich nicht erwartet wurde, nahm ich eine Droschke nach Hause. Wegen des dichten Verkehrs brauchte ich eine gute Stunde, bis ich dort eintraf. Eine Stunde später fand ich eine Nachricht von Daisy auf meinem Schreibtisch.“
Was bedeutete, dass er sie gegen neun Uhr gefunden hatte, rechnete Francesca nach.
„Und was stand darin?“, fragte Newman.
„Sie wollte mich direkt nach meiner Ankunft sprechen, es sei sehr dringend.“ Immer noch verriet Harts unbewegtes Gesicht keinerlei Regung, doch Francesca spürte seine Anspannung. Spontan berührte sie seine Hand. Er reagierte mit einem leichten Lächeln, das jedoch nicht bis zu seinen Augen vordrang.
„Und haben Sie irgendeine Ahnung, was so dringend sein konnte?“, fragte Newman.
„Ich war mir sicher, dass es um eine finanzielle Angelegenheit ging“, antwortete Hart ohne zu zögern.
Prompt warf Newman Francesca einen Blick zu und fühlte sich offensichtlich äußerst unwohl.
Francesca wollte ihn erlösen. „Ich bin mir der Tatsache bewusst, Inspektor, dass Daisy Calders Geliebte war.“
Mit einem leichten Erröten sah er zu ihr. „Es tut mir leid, Miss Cahill, eine solch delikate Angelegenheit ansprechen zu müssen. Es hört sich so an, als sei die Affäre beendet.“
„Sie ist seit jenem Tag beendet, an dem Francesca eingewilligt hat, meine Frau zu werden“, schaltete sich Hart ein. „Seit dem Morgen des 24. Februar.“
Überrascht sah Francesca ihn an. Er kannte das genaue Datum seines Antrags? In diesem Moment betrat Rick Bragg den Raum.
Erleichtert, ihn zu sehen, sprang Francesca auf. Obwohl die beiden Männer kaum Ähnlichkeit miteinander hatten, war Calders Halbbruder ebenfalls ein gut aussehender Mann.
Wie alle Männer der Bragg-Familie hatte Bragg goldblondes Haar, wohingegen Harts Haare dunkel wie die Nacht waren. Während er sich mit ernster Miene näherte, blickte Bragg von Francesca zu Hart. Augenblicklich verwandelte sich Calders Gesicht in eine undurchdringliche, ausdruckslose Maske.
Francesca spürte die Spannung zwischen den Männern, als sie Ricks ausgestreckte Hände ergriff. „Ich bin so froh, dich hier zu sehen, Rick! Calder macht gerade seine Aussage. Natürlich weißt du schon, dass Daisy tot ist.“
„Ja, das hat man mir gesagt“, erwiderte er und küsste sie auf die Wange. „Ist alles in Ordnung mit dir?“
Sie nickte. „Mir geht es ganz gut. Doch Rose ist am Boden zerstört.“ Erst nach einem kurzen Zögern wagte sie hinzuzufügen: „Und Calder ist ebenfalls sehr aufgewühlt.“
Was Rick ganz offensichtlich nicht glaubte. „Aber was tust du hier, Francesca? Bist du Zeugin des Mordes?“
„Nicht wirklich“, erwiderte Francesca rasch. Sie bemerkte, dass Bragg ihre Hände nicht losließ und Hart sie wie ein Habicht beobachtete. Sanft löste sie sich von Bragg. „Rose hat die Leiche entdeckt und nach mir geschickt, um ihr zu helfen. Offenbar hat Rose Daisy zuerst entdeckt, und Calder fand die Leiche, während Rose die Nachricht für mich aufgab. Als ich zum Haus kam, war Rose bei Daisy, und Calder suchte nach dem Mörder. Er hatte gerade mit einigen Bediensteten gesprochen.“
An dieser Stelle wandte sich Bragg an Hart. „Ich möchte deine Aussage nicht unterbrechen.“
Aber Hart zuckte nur mit den Schultern, als kümmerte ihn das nicht das Geringste.
Bragg sah Newman über die Schulter und las dessen Notizen.
„Er hat eine Nachricht von Miss Jones mit der Bitte um ein Treffen erhalten, Sir. Das muss so gegen neun gewesen sein“, erklärte Newman eifrig.
Bragg nickte und richtete sich auf. Sein Blick traf Harts. „Also bist du losgefahren – zu deiner Geliebten?“
Als Antwort erhielt er ein kühles, feindseliges Lächeln. „Du weißt verdammt gut, dass ich die Affäre beendet habe, als ich mich mit Francesca verlobt habe.“
Newman wirkte bestürzt. „Sie hat in Mr Harts Haus gelebt, Sir“, steuerte er hilflos bei.
„Dessen bin ich mir bewusst. Also bist du zu ihr gefahren, ganz wie sie es verlangt hat?“, wiederholte Bragg.
Voller Bestürzung, dass Bragg seinen Halbbruder dermaßen angriff, stellte sich Francesca schützend neben Hart. Der saß weiterhin gelassen da und zeigte keinerlei Zeichen von Unruhe. „Nein, ich bin nicht gleich losgefahren. Es war ein langer Tag, daher habe ich erst einmal einen Drink genommen, vielleicht auch zwei. Kurz darauf entschied ich, Daisy zu fragen, was für eine Angelegenheit ihr zu schaffen machte.“
Brack gab einen spöttischen Laut von sich. „Und was war das für eine Angelegenheit?“
„Ich nahm an, dass es sich um etwas Finanzielles handelte“, entgegnete Hart und erhob sich langsam von seinem Stuhl, „da dies die einzige Verbindung war, die noch zwischen Daisy und mir bestand. Ich habe sie weiterhin ausgehalten – wir hatten eine mündliche Abmachung, die erst Mitte Juli ausläuft. Aber das weißt du doch alles, Rick, oder?“
Stumm starrte Bragg ihn an, und Hart starrte zurück. Dann blickte Bragg zu Francesca. „Ich finde es höchst unwahrscheinlich, dass du gerade erst wieder in der Stadt angekommen bist und gleich zu Daisy fährst, um über ein paar Rechnungen zu sprechen.“
„Es ist mir egal, was du denkst“, erwiderte Hart, nun doch verärgert. „Das war es mir schon immer und wird es mir auch immer sein.“
Mit einem verkniffenen Lächeln erwiderte sein Halbbruder: „In Anbetracht der Tatsache, dass deine Geliebte ermordet wurde, sollte es dir besser nicht egal sein, was ich denke.“
Hart lächelte genauso verkniffen wie Bragg, und einen Moment glaubte Francesca, er würde ihm einen Faustschlag ins Gesicht versetzen.
Sie hasste die Feindseligkeit zwischen den beiden Brüdern. Entschieden nahm sie Harts Arm. „Ein schrecklicher Mord ist geschehen“, sagte sie knapp. „Und es hilft niemandem, wenn ihr euch an die Kehle geht. Wir müssen Daisys Mörder finden. Das schulden wir ihr.“
Daraufhin warf Bragg ihr einen rätselhaften Blick zu, wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Auch Hart sah sie an, und seine grimmige Miene wurde weicher. „Du musst hier nicht dabei sein“, sagte er.
„Natürlich muss ich das!“, rief sie, konnte ihm aber nicht sagen, erst recht nicht vor Newman und Bragg, wie sehr sie seine offensichtliche Verstrickung in den Fall beunruhigte. „Wenn wir nach Hause gehen, gehen wir zusammen“, flüsterte sie ihm schnell zu.
Bevor Hart etwas einwenden konnte, wandte sich Bragg ihm wieder zu, der seine Fassung offensichtlich wiedergefunden hatte. „Lassen wir mal den Grund beiseite, warum du sofort zu Daisy gefahren bist. Erzähl mir, was dort passiert ist.“
Auch Harts Anspannung ließ ein wenig nach. „Ich habe das Haus gegen halb zwölf verlassen, schätze ich. Als ich bei Daisy ankam, war im Erdgeschoss alles dunkel. Auf mein Klopfen meldete sich niemand, und das war seltsam. Mich beschlich ein ungutes Gefühl. Also probierte ich den Türknauf, die Tür war unverschlossen, und ich trat ein.“
Hier stockte Francesca der Atem, ihr Herz raste. Klar und deutlich leuchtete die Notiz, die sie sich vorhin innerlich gemacht hatte, vor ihrem inneren Auge auf. Hart hatte ihr gesagt, dass er gegen elf zu Hause aufgebrochen war, nicht um halb zwölf. Machte er gegenüber Bragg und der Polizei absichtlich falsche Angaben, oder hatte er sich wie die meisten Zeugen einfach nur geirrt? Und wieder fragte sie sich, ob er wirklich um elf das Haus verlassen und was er fast eine Stunde lang in Daisys Haus getan hatte. Lag darin der Grund für seine falschen Angaben?
Als könnte Bragg ihre Gedanken lesen, wandte er sich ihr zu. „Und wann bist du dort eingetroffen?“
Instinktiv zögerte sie. Natürlich wollte sie nicht lügen, gleichzeitig hatte sie den verzweifelten Wunsch, Hart zu beschützen.
„Francesca?“
Sie befeuchtete die Lippen. „Vor Mitternacht“, log sie. „Ich schätze, wenige Minuten nach Hart.“ Dabei konnte sie selbst kaum glauben, dass sie einen Mann anlog, in den sie einst verliebt gewesen war und der ihr noch immer viel bedeutete.
Bragg rieb sein Kinn. „Calder?“
„Ich habe Daisy gefunden, kurz nachdem ich hineingegangen bin“, antwortete der, ohne Francesca anzusehen. „Offenbar hat man sie durch mehrere Stiche in die Brust getötet.
Auch wenn niemand so etwas überleben kann, habe ich sicherheitshalber nach ihrem Puls gesucht.“
Seine Stimme war so ruhig, als ob sie sich über das morgige Wetter unterhielten, doch seine Hände umklammerten die Lehne des Stuhls, auf dem er saß, und die Knöchel waren weiß.
Weil er nach unten schaute, konnte Francesca sein Gesicht nicht sehen, doch sie wollte sich nicht länger etwas vormachen. Offensichtlich war Calder verzweifelt und zutiefst getroffen. Mit Sicherheit empfand er noch etwas für Daisy. Francesca war verletzt und eifersüchtig.
Doch gleichzeitig wollte sie ihn trösten und rückte daher näher zu ihm. Sofort sah er sie an. Sie spürte, dass er sie beruhigen wollte und jede Trauer, die er empfinden mochte, hinter einer Maske versteckte. Dann sah er Bragg an.
„Ich habe dort einen Augenblick mit ihr gesessen“, sagte er ruhig. „Ich stand unter Schock. Ich konnte es einfach nicht glauben.“
Bragg nickte. „Du hast Blut auf deinem Hemd“, sagte er.
Während seiner Aussage hatte Hart sein dunkelgraues Jackett zur Seite gelegt. Getrocknetes Blut befleckte den feinen Baumwollstoff seines Hemdes.
„Hast du sie in den Armen gehalten?“, fragte Bragg.
Francesca erstarrte.
Ein endloser Augenblick verging, und Francesca stellte sich vor, wie Hart sich den Moment in Erinnerung rief, als er Daisy tot auf dem Boden des Arbeitszimmers gefunden hatte. Sie berührte seinen Arm, doch er schien es nicht zu bemerken. „Ich sah sie, sobald ich ins Arbeitszimmer kam. Die Tür war halb offen. Überall war so viel Blut. Ich wusste sofort, dass man sie ermordet hatte.“ Hart blickte seinen Halbbruder an. „Trotzdem habe ich mich vergewissert, dass sie nicht mehr atmet.“ Er klang, als hielte er einen Vortrag. Dann hielt er inne und sah nach unten. „Ja, ich habe sie in den Armen gehalten.“
Gequält wandte sich Francesca ab.
„Erzähl weiter“, forderte Bragg ihn auf, als hätte er nicht gerade Harts Gefühle enthüllt.
„Ich habe mich sofort gefragt, ob der Mörder noch im Haus ist. Als ich gerade mit der Suche beginnen wollte, sah ich, wie Rose das Haus betrat, ohne einen Umhang oder Ähnliches. Offensichtlich war sie nur kurz draußen gewesen. Argwöhnisch geworden, versteckte ich mich vor ihr. Sie ging auf direktem Weg ins Arbeitszimmer und schien nicht überrascht, Daisy dort tot zu sehen, doch sie war sehr verzweifelt.“
„Sie hat dich nicht gesehen?“, fragte Bragg.
Hart schüttelte den Kopf. „Wir wissen alle, dass Rose Daisy sehr gemocht hat. Auch wenn mir ihr Verhalten merkwürdig vorkam, habe ich nicht weiter darüber nachgedacht, sondern das Haus durchsucht. Ich hatte gerade mit dem Butler und der Magd gesprochen, als ich Francesca traf.“
„Und das war gegen Mitternacht“, hakte Bragg nach.
„Das nehme ich an“, erwiderte Hart, der plötzlich müde klang. „Sind wir fertig?“
Normalerweise wäre Francesca wegen ihres Betrugs beschämt und verlegen gewesen, doch es gab zu viel, was sie beunruhigte und verletzte. Sie konnte nicht darüber hinwegkommen, dass Hart zugegeben hatte, Daisy in den Armen gehalten und offenbar um sie getrauert zu haben. Obwohl er natürlich jedes Recht dazu hatte. Schließlich empfand sie auch noch etwas für Bragg. Sollte ihm etwas geschehen, würde sie bis zum letzten Tag ihres Lebens trauern. Warum konnte sie dann nicht akzeptieren, dass auch Hart noch etwas für Daisy empfand?
Weil sie immer eifersüchtig darauf gewesen war, dass Hart Daisy so sehr begehrt hatte, dass er sie zu seiner Geliebten machte.
Auf keinen Fall wollte sie daran denken, wie unsicher sie sich in Daisys Anwesenheit immer gefühlt hatte. Sie atmete tief ein und stürzte sich ins Gefecht. „Rick, ich war erst wenige Minuten da, als ich auf Hart stieß. Als ich ankam, stand die Eingangstür halb offen. Ich entdeckte die weinende Rose mit Daisy in ihren Armen. Es gab keine Spur der Tatwaffe. Ich deckte die Leiche zu und dachte ebenfalls daran, nach dem Mörder zu suchen, als ich ein Geräusch in der Eingangshalle hörte. Auf dem Weg dorthin bin ich dann in Calder hineingerannt.“
„Und du bist aus welchem Grund zu Daisy gefahren?“
Stumm griff Francesca in ihre mit Perlen bestickte samtene Abendtasche und reichte ihm den Brief. Er las ihn und gab ihn an Newman weiter. „Nehmen Sie ihn zu den Unterlagen“, wies er ihn an. Dann blickte er Hart an. „Und die Nachricht, die Daisy dir geschickt hat?“
In Gedanken versunken strich Hart sich über das Kinn. „Die ist vermutlich auf meinem Schreibtisch, wo ich sie liegen gelassen habe.“
„Ich fürchte, ich brauche sie, Calder.“
„Ich lasse sie dir zukommen“, versprach Hart noch immer leicht abwesend. Francesca beobachtete ihn und bemerkte, wie Bragg sie dabei ansah. In diesem Mordfall würde sie nicht gerade mit Freuden ermitteln. Dann fiel ihr etwas ein. „Rose hat angegeben, dass sie Daisy tot aufgefunden hat, Rick. Ich denke, wir müssen sie als Verdächtige in Betracht ziehen, so unangenehm das auch ist.“
Doch Bragg ging nicht auf Francesca ein, sondern sprach weiter mit Hart. „Du hast vermutlich ein ganzes Haus voller Zeugen, die bestätigen, dass du von deinem Eintreffen gegen acht Uhr bis zu deiner Abfahrt um halb zwölf zu Hause warst?“
„Alfred hat mich hereingelassen, als ich vom Bahnhof kam. Ich bin sicher, dass er mich auch hat abfahren sehen.“
Bragg notierte sich etwas. „Und dein Kutscher kann sicherlich bestätigen, dass er dich um halb zwölf zu Daisy gefahren hat, oder?“
Harts Miene blieb unbewegt. „Nein, ich habe eine Droschke genommen.“
„Rick! Calder war mindestens drei Stunden zu Hause! Ich bin sicher, dass mehrere Leute vom Personal das bestätigen können“, warf Francesca ein.
Woraufhin Bragg sie nur wortlos anschaute, wie sie voller Panik bemerkte. Ganz eindeutig glaubte Rick nicht alles, was sein Halbbruder angegeben hatte.
„Rick, ich möchte mit dir allein sprechen“, sagte Hart plötzlich.
Sofort geriet Francesca in Alarmstimmung. „Calder!“, rief sie.
„Nein.“ Wie Stahl blitzten seine Augen sie an. „Ich möchte mit meinem Bruder etwas Privates besprechen.“
Francescas Sorgen wuchsen. Daher zögerte sie, bis Rick sagte: „Ich möchte ihn ebenfalls allein sprechen. Francesca, es ist spät. Ich werde das hier mit Hart zu Ende führen, und dann kann er dich nach Hause fahren, solange du mir versprichst, dass du morgen als Erstes hierherkommst, um deine Aussage zu Protokoll zu geben.“ Er lächelte ihr zu.
Aber sie erwiderte das Lächeln nicht. Wenn die beiden allein miteinander sprechen wollten, würden sie über sie reden – oder über etwas, das sie nicht hören sollte. Wenn sie sich zusammentaten, hatte sie keine Chance. Sie musterte Rick, der sie viel zu wohlwollend anlächelte, und dann Hart, der nicht den Anflug eines Lächelns zeigte. Er schien fest entschlossen – doch wozu?
„Ich bringe dich in ein paar Minuten nach Hause“, versprach er.
Was sie auch tat, sie konnte diese private Unterredung nicht verhindern. Seufzend sah sie Rick an. „Natürlich komme ich morgen als Erstes vorbei. Was ist mit Rose?“
„Ich werde sie gleich befragen, sofern sie dazu in der Lage ist. Falls nicht, lasse ich sie nach Hause bringen und spreche ebenfalls morgen mit ihr.“
Sollte Rose sich als Mörderin erweisen, würde das Francesca sehr überraschen. Ihr tat die Frau leid. „Rick, sie ist in Trauer.“
„Das weiß ich.“ Er legte ihr eine Hand auf den Rücken und führte sie quer durch den Raum zur Tür. „Newman? Warum bringen Sie Miss Cahill nicht schon mal nach unten und befragen dann Rose.“
„Wie Sie wünschen, Sir“, erwiderte Newman.
Stumm beobachtete Calder, wie Francesca den Raum verließ. Doch ein Teil von ihm hätte sie beinahe zurückgerufen. Bevor sich die Tür hinter ihr schloss, warf sie ihm einen beruhigenden Blick zu. Er kannte sie so gut, daher wusste er auch, dass sie ihn trösten und beschützen wollte. Das war wundervoll, und später würde er dankbar dafür sein. Doch heute Nacht hatte er keine Verwendung für irgendwelche Gefühle, nicht einmal für die seiner Verlobten. Heute Nacht verweigerte er jedes Gefühl.
Wieder und wieder stiegen Bilder von Daisy vor seinem inneren Auge auf, ihr Zorn, ihre Tränen und zuletzt ihre blutüberströmte Leiche.
Entschlossen wandte er sich an Rick und sagte: „Ich möchte nicht, dass Francesca in diese Ermittlungen verstrickt wird, auf keine Weise. Sie glaubt, mich beschützen zu müssen, doch das ist unnötig.“
Braggs blonde Brauen hoben sich. „Einiger könnten wir uns nicht sein. Wie selbstlos von dir.“
Innerlich schäumte Hart vor Wut. „Wir wissen beide, dass ich nicht selbstlos bin, Rick, also fang gar nicht erst so an. Doch selbst ich bin nicht so verdorben, dass ich Francesca in die unangenehme Situation bringe, mich im Fall des Mordes an meiner Exgeliebten zu verteidigen.“ Er wollte Francesca nicht immer wieder mit seiner Vergangenheit mit Daisy – oder anderen Frauen – konfrontiert sehen. Tatsächlich bedauerte er seinen losen Lebenswandel, seit er sie kannte. Und wenn er die Vergangenheit schon nicht ändern konnte, hoffte er doch, sie zumindest von Francesca fernhalten zu können. Heute Nacht aber war das ganz und gar nicht gelungen.
„Man könnte fast glauben, dass Francesca bei dir an erster Stelle steht“, spottete Rick. „Allerdings wissen wir beide, dass es nicht so ist.“
Wie sehr er die selbstgerechte, verurteilende Art seines Bruders verabscheute! „Lass uns damit aufhören, Rick“, lenkte Hart dennoch ein, weil er fühlte, wie die Wut in ihm wuchs.
Doch Rick konnte offenbar nicht aufhören. „Du willst nicht, dass Francesca erfährt, warum du heute Abend zu deiner Geliebten gefahren bist, nicht wahr?“ Dabei bebte seine Stimme vor Zorn. „Wir wissen beide, dass du nicht hingefahren bist, um über Ausgaben und Konten zu sprechen.“
„Ach, fahr doch zur Hölle. Ich bin nicht zu Daisy gefahren, um mit ihr zu schlafen.“
Unverwandt sah Rick ihm tief in die Augen. Schließlich sagte er: „Warum dann? Denn nur eine sehr dringende Angelegenheit kann dich so spät noch aus dem Haus geführt haben.“
Wieder dachte Hart an Daisys Schluchzen, ein Bild, das er hasste. „Ich habe dir schon gesagt, dass es sich um eine finanzielle Angelegenheit handelte. Ich bin nicht einmal sicher, worum genau es dabei ging. Wahrscheinlich wollte sie mehr Geldmittel. Letzten Monat habe ich sie gebeten, das Haus früher als vereinbart aufzugeben. Aber sie lehnte ab, und ich ließ alles beim Alten. Vielleicht wollte sie mich bitten, sie auszuzahlen.“ Er lächelte kühl. „Aber das werden wir nie erfahren, nicht wahr?“
„Wie interessant: dein Wort gegen das einer toten Frau. Warum hast du Daisy gebeten, das Haus früher als vereinbart aufzugeben?“
Schon vor langer Zeit hatte Calder gelernt, so dicht wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. „Sie war mir gegenüber unfreundlich, sogar bösartig – und schlimmer noch: auch gegenüber Francesca. Ich war wütend auf sie und hatte einfach genug.“
Wieder hob Bragg die Brauen. „Warst du auch heute Nacht wütend auf sie?“
„Nein“, entgegnete Hart und sagte die Wahrheit.
Das erkannte auch Rick, denn er nickte. „Gibt es noch irgendetwas, das du hinzufügen möchtest?“
„Nein.“
Noch ein Nicken. „Komm bitte morgen Nachmittag vorbei. Dann ist deine Aussage fertig zum Unterzeichnen.“ Er zögerte. „Calder, es kann nicht schaden, wenn du deinen Anwalt mit bringst.“
„Ich brauche keinen Anwalt, da ich niemanden ermordet habe.“
Mit einem Schulterzucken ging Rick in Richtung Tür.
Indem er ihm die Hand auf die Schulter legte, hielt Hart ihn zurück. „Ich meinte es ernst, als ich gesagt habe, ich möchte nicht, dass Francesca an diesem Fall mitarbeitet. Lehne ihre Mitarbeit ab, Rick, wenn du sie morgen siehst. Das hier ist nichts für sie.“
„Ich kann sie nicht umstimmen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.“
„Du kannst es nicht, oder du willst es nicht?“
Statt einer Antwort warf Rick ihm einen schwer zu deutenden Blick zu und ging hinaus.
Jetzt verlor Hart die Beherrschung und trat mit aller Kraft gegen die Tür.