Francesca saß an dem Sekretär im Gästezimmer ihrer Schwester und blätterte durch Daisys Bankauszüge. Doch es war ihr kaum möglich, sich zu konzentrieren. Ständig musste sie an den vergangenen Abend denken, als die Polizei Hart in Handschellen abgeführt hatte, um ihn weiter zu verhören, während das Messer untersucht wurde.
Er war zornig gewesen, hatte jedoch kein weiteres Mal seine Unschuld beteuert. Als Francesca auf ihn zustürzte, um ihn zu beruhigen und ihm zu sagen, dass sie mitkäme, hatte er sich an Bragg gewandt. „Ich möchte nicht, dass sie mitkommt. Ich möchte nicht, dass sie in die Sache hineingezogen wird. Und das meine ich so, Rick“, sagte er mit warnender Stimme.
Bestürzt sah Francesca zu, wie Hart abgeführt wurde. Danach beruhigte Rick sie und redete ihr die Idee aus, ihn zum Polizeipräsidium zu begleiten.
Bragg hatte recht – es gab nichts, was sie in dieser Nacht für Hart tun konnte. Noch immer verletzt von seiner Zurückweisung, war sie zu ihrer Schwester gefahren. Da alle bereits zu Bett gegangen waren, ließ ein Diener sie ein, und Francesca suchte sich selbst ein Gästezimmer. Erst als sie in dem pfirsichfarbenen Bett mit dem Baldachin lag und vergeblich versuchte einzuschlafen, kam ihr der Gedanke, dass Hart hereingelegt worden war.
Die ganze Nacht hatte sie wach gelegen. Die Ermittlungen gerieten außer Kontrolle, und Hart schien tiefer als je zuvor in den Mord an Daisy verstrickt. Doch er war unschuldig. Bestimmt würde man ihn nicht einsperren. Sie war sicher, dass er hereingelegt worden war – und zwar sehr raffiniert. Auch wenn Francesca nach wie vor davon überzeugt war, dass die Tat selbst im Affekt begangen worden war, hatte der Täter sein Verbrechen doch sehr gut geplant.
Die wahrscheinlichste Kandidatin schien Rose zu sein. Schließlich hatte sie Hart von Anfang an des Mordes beschuldigt, und sie hasste ihn genug, um ihm den Mord anzuhängen. Sie hatte ein Motiv, die Mittel und mehr als genug Gelegenheiten. Außerdem besaß sie kein Alibi und war sowohl kurz vor als auch kurz nach dem Mord am Tatort gewesen.
Doch Bragg verdächtigte auch Gillespie. Und auch Francesca wollte den Richter nicht als Täter ausschließen, egal wie überrascht er gestern auf den Tod seiner Tochter reagiert hatte.
Aber wie passten seine Frau Martha und ihre jüngere Tochter Lydia ins Bild? Warum war Daisy überhaupt von zu Hause fortgegangen, um ein solches Leben zu führen?
Schlaflos stellte sie sich Hart in einer Aufbewahrungszelle jenseits der Eingangshalle des Polizeipräsidiums vor. Die Zellen waren spartanisch eingerichtet, es gab mehrere mit Etagenpritschen und einige Einzelzellen. Natürlich würde man ihm eine Einzelzelle zuweisen. Francesca wusste, dass er für sich selbst eintreten konnte und die eine unbequeme Nacht schon verkraften würde, trotzdem litt sie mit ihm. Er hatte genug in seinem Leben mitgemacht und es nicht verdient, auch nur eine Nacht im Gefängnis zu verbringen.
Felsenfest glaubte Francesca an das amerikanische Rechtssystem. Sie hegte keinerlei Zweifel, dass Hart letztlich freikommen würde, doch im Moment hatte sie Angst. Noch nie war er so entschieden gegen sie aufgetreten. Sie befürchtete, dass er weiter so unnachgiebig blieb und sie seine Meinung niemals wieder ändern könnte, auch nicht nachdem seine Unschuld bewiesen war.
Schön langsam, und immer eins nach dem anderen, ermahnte sie sich. Heute hatte sie einen Fall zu lösen. Mit etwas Glück – und das würden sie brauchen – traf Gillespie früh genug ein, um ihn noch zu befragen. Und dann gab es noch Rose. Wenn sie ein Alibi hatte, dachte Francesca erbost, wurde es Zeit, endlich den Mund aufzumachen.
Doch es gab auch schon gute Nachrichten. Um halb sieben hatte sie sich hinuntergeschlichen, um einen Blick in die Zeitungen zu werfen. Ihre Schwester bekam die Tribune, die Times und die Sun. Nur die Sun berichtete auf der Titelseite über den Mord an Daisy, erwähnte aber nicht, dass sie schwanger gewesen war. Tatsächlich enthielt der von Kurland gezeichnete Artikel keine neuen Informationen, nicht einmal die Wahrheit über Daisys Identität. Andererseits fand sich im Gesellschaftsteil aller drei Zeitungen die Nachricht, dass Hart ihre Verlobung gelöst hatte. In jedem dieser Artikel wurde er als Mordverdächtiger bezeichnet.
Die Ziffern und Worte auf dem Kontoauszug vor ihr verschwommen vor ihren Augen. Sie musste sich konzentrieren und kniff die Augen zusammen. Also fing sie mit dem letzten Auszug an. Er stammte aus dem Mai. Im Februar war das Konto eröffnet worden – offenbar hatte Hart es eingerichtet, als Daisy seine Geliebte wurde. Monat für Monat erhielt Daisy zweitausend Dollar. Die erste Überweisung erfolgte am 10. Februar, die weiteren jeweils am Ersten jeden Monats. Diese Summe müsste Daisys gesamte Ausgaben decken.
Fraglos hatte er sie gut behandelt, dachte sie mit einem Stich im Herzen.
Und dann stach ihr etwas anderes auf dem Auszug ins Auge.
Am 8. Mai hatte Daisy achttausend Dollar auf ihr Konto eingezahlt. Als sie weiter las, wuchs ihre Überraschung. Zehn Tage später, am 18. Mai, hatte sie zwölftausend Dollar eingezahlt.
Francescas Gedanken überschlugen sich. Im Mai hatte Daisy innerhalb kurzer Zeit zwanzigtausend Dollar auf ihr Konto eingezahlt. Ob Calder ihr das Geld gegeben hatte? Daisy hatte ihm so viel Ärger gemacht – vielleicht hoffte er, sie auszahlen zu können. Es gab eine andere Möglichkeit, eine, von der Francesca hoffte, dass sie sich als Irrtum erwies. Vielleicht hatte Daisy Calder erpresst. Das hätte tatsächlich einigen Mut erfordert. Und wenn es so war, hatte Hart ein weiteres Motiv.
Das bot ihr einen perfekten Vorwand, um Hart aufzusuchen, auch wenn er so hartnäckig dabei blieb, sie nicht sehen zu wollen. Sie musste wissen, wer Daisy dieses Geld gegeben hatte. Musste herausfinden, ob es von Hart stammte, und wenn ja, warum.
„Fran?“ Die Stimme ihrer Schwester erklang hinter der Tür, es folgte ein leises Klopfen.
Schnell lief Francesca zur Tür und öffnete sie. „Du hast ausgeschlafen“, rief sie freudig erregt. Nie hatte sie ihre Schwester nötiger gebraucht als jetzt.
Überrascht sah Connie sie an. „Es wurde spät letzte Nacht“, erklärte sie, denn normalerweise stand sie mit ihren beiden Kindern um acht Uhr auf. „Fran, was ist passiert? Mrs Rogers sagte mir, dass du hier übernachtet hast!“
„Connie, ich muss eine Weile hierbleiben. Bitte sag, dass das in Ordnung ist. Ich verspreche, dir nicht zur Last zu fallen.“
Bestürzt sah Connie sie an. „Was ist los? Hoffentlich nicht das, was ich denke!“
„Ich fürchte doch“, erwiderte Francesca knapp. Connie handelte nie unüberlegt und voreilig – und sie war nie ungehorsam oder illoyal. Francesca wusste, dass ihre Schwester kaum billigen würde, was sie getan hatte. „Papa hat mir verboten, Calder zu sehen, geschweige denn ihn zu heiraten. Ich bin also ausgezogen.“
Stöhnend sank Connie aufs Sofa.
„Es war schrecklich“, gab Francesca zu. „Und sag mir nicht, dass ich ihnen das Herz gebrochen habe, denn das weiß ich selbst. Du weißt, wie sehr ich Papa bewundere und wie sehr ich Mama liebe. Aber Con, bitte versuch zu verstehen. Ich bin jetzt eine Frau und kein Kind mehr. Und ich liebe Hart. Man kann mich nicht herumkommandieren, als wäre ich noch ein kleines Mädchen.“
„Aber ihr beide seid nicht einmal mehr verlobt, das hat er mir selbst gesagt.“
Längst schon ärgerte Francesca sich nicht mehr darüber, dass ihre Schwester zu Calder gegangen war und sich in ihre Beziehung eingemischt hatte.
„Connie, ich liebe ihn, und er steckt in Schwierigkeiten. Ich werde nicht von seiner Seite weichen. Du würdest dasselbe für Neil tun. Und ich glaube, dass er mit der Zeit seine Meinung ändert und unsere Verlobung erneuern wird. Ich habe nicht die Absicht, diesen Mann zu verlassen.“
Ihre Schwester zögerte. „Ich musste meine Meinung sagen, Fran. Ich musste tun, was richtig für dich ist.“
„Ich weiß. Und ich war zuerst sehr wütend. Doch seitdem ist zu viel geschehen.“ Sie setzte sich neben ihre Schwester.
„Er ist ein sehr einschüchternder Mann. Ich weiß nicht, wie du damit fertig wirst. Doch ich mag ihn nun noch mehr als zuvor. Ihm liegt wirklich viel an dir. Er war verzweifelt. Es war nicht zu übersehen, dass ihn die Lösung eurer Verlobung furchtbar mitgenommen hat.“
Über diese Worte freute Francesca sich sehr. Sie fragte sich, ob sie Connie die neuesten Nachrichten erzählen konnte. Es würde ohnehin in den Nachmittagszeitungen stehen und mit Sicherheit in jeder Abendausgabe. Früher oder später würde die ganze Gesellschaft von Harts Verhaftung erfahren. Sie wünschte, Bragg hätte etwas gewartet.
„Was ist los?“, fragte Connie, die merkte, dass etwas nicht stimmte.
„Hart wurde gestern Abend von der Polizei verhaftet.“
Connie wurde blass.
„Die Polizei hat ein Messer, das die Mordwaffe sein könnte, in seiner Kutsche gefunden. Irgendjemand will ihm sehr raffiniert den Mord an Daisy in die Schuhe schieben!“ Nun sprühte sie vor Zorn. „Hart hat die Nacht im Gefängnis verbracht, Connie.“
„Fran! Was ist, wenn Hart nicht reingelegt wurde? Hast du je daran gedacht, dass die Waffe in seiner Kutsche gefunden wurde, weil er sie dort versteckt hat?“
Francesca erhob sich. „Hart ist unschuldig.“
Connie stand ebenfalls auf. „Ich hoffe, dass du recht hast!
Francesca, ich kann mir nicht vorstellen, dass Hart eines Mordes fähig ist, doch es sieht so schlecht für ihn aus.“
„Ja, das tut es“, entgegnete Francesca ernst, ging zum Sekretär und griff nach ihrer Tasche. „Ich werde ihm heute einen Besuch abstatten.“ Sie öffnete die Tasche und holte den Derringer heraus, um beide Kugeln aus dem Revolver zu entfernen.
„Was tust du da?“, rief Connie. „Ich kann noch immer nicht glauben, dass du eine Waffe mit dir rumträgst!“
Vollkommen ungerührt verstaute Francesca den ungeladenen Revolver und die Kugeln wieder in ihrer Tasche. „Als Kriminalistin muss ich eine Waffe bei mir haben. Aber ich möchte sie nicht geladen wissen, wenn ich heute Rose besuche. Doch vorher muss ich noch kurz bei Bartolla vorbeischauen.“
„Bartolla! Fran, warum willst du zu Bartolla Benevente? Und was willst du von Rose?“, fragte Connie mit offensichtlicher Besorgnis.
„Ich habe das seltsame Gefühl, Con, dass Bartolla unseren Bruder an der Nase herumführt, und ich werde dem ein für alle Mal ein Ende setzen.“ Sie hielt inne und lächelte unschuldig. „Möchtest du mich begleiten?“
„Ich fürchte, ich kann heute Morgen nicht. Du willst Rose drohen, oder? Du willst sie mit diesem ungeladenen Revolver bedrohen!“
Francesca nickte. „Du kennst mich besser als jede andere. Aber mach dir bitte keine Sorgen, der Revolver ist ungeladen, und ich werde erst zu Drohungen greifen, wenn ich keine andere Wahl habe.“
Das schien Connie nicht sehr zu beruhigen.
Francesca wurde von einem Bediensteten in den Salon geführt, der anschließend Bartolla von ihrem Besuch unterrichtete. Die Countess war eine Cousine von Sarah Channing und lebte im Haus der Channings auf der West Side. Da Francesca schon so oft bei den Channings gewesen war, nahm sie die exotische Einrichtung und die scheußlichen Jagdtrophäen gar nicht mehr wahr, während sie im Salon auf und ab ging. Einst hatte sie die wunderschöne Countess aufrichtig gemocht. Erst in letzter Zeit hatte sie erkannt, dass man ihr nicht vertrauen konnte und sie keine echte Freundin war.
Als sie jemanden herbeieilen hörte, sah Francesca sich um. Da Bartolla ihren Schritt niemals beschleunigte, wusste sie, dass es nur Sarah oder ihre Mutter sein konnte. Es war Sarah, die in den Salon gelaufen kam. Offenbar wollte sie gerade das Haus verlassen, denn sie trug ein ungewöhnlich einfaches, aber sehr hübsches hellblaues Kostüm. „Francesca!“, strahlte sie. Augenscheinlich freute sie sich sehr über ihren Besuch. Sie trat auf sie zu und umarmte sie. „Du bist hier, um Bartolla zu sprechen? Ich hörte eben, wie Harold ihr oben deinen Besuch gemeldet hat.“
„Ja, es gibt eine Angelegenheit, die ich mit ihr besprechen möchte“, erwiderte Francesca, die überrascht war, wie gut Sarah aussah. Normalerweise trug sie übermäßig verzierte Kleider in kräftigen Farbtönen, die sie kleiner wirken ließen und sehr blass machten. Aber außer einem Volant am Rocksaum und Rüschen an den Jackenärmeln war ihr Kostüm ganz schlicht und stand im völligen Kontrast zu den meisten Kleidern, die Sarah sonst trug. Ihre schlanke Figur kam gut darin zur Geltung. „Wie geht es dir, Sarah? Und mir gefällt dein Kleid. Ist es neu?“ Vermutlich war es Sarah gelungen, einmal ohne ihre Mutter einzukaufen. Mrs Channing war berüchtigt für ihren schlechten Geschmack.
Sarah nickte. „Findest du, dass es mir steht? Bartolla ist mit mir einkaufen gegangen – wir haben drei neue Abendkleider bestellt und ebenso viele Kostüme für den Tag. Es ist so schlicht! Und ich habe noch nie diese Farbe getragen. Bartolla bestand darauf, dass ich nicht länger diese dunklen Rot- und Goldtöne trage. Was meinst du?“, fragte sie unsicher.
Francesca wusste, dass Sarah sich keinen Deut für Mode interessierte. Doch Rourke war in der Stadt. Zwei und zwei ergaben vier. Sie lächelte. „Du siehst wunderbar aus in Hellblau – deine Augen wirken noch dunkler, deine Wangen haben Farbe, und deine Haare leuchten! Bartolla hat recht, die Farbe und der Schnitt stehen dir sehr gut. Was … was hast du denn vor?“
Verlegen blickte Sarah zur Seite, doch die Röte war ihr in die Wangen gestiegen. „Ich bin zum Lunch verabredet.“
„Mit wem?“, hakte Francesca nach. „Nur … einem Freund“, erwiderte Sarah.
„Sarah!“
„Na gut, ich sage es dir. Aber überbewerte es nicht!“, rief Sarah, die nun über und über rot wurde.
„Du triffst dich mit Rourke zum Lunch“, sagte Francesca voller Befriedigung.
Sarah nickte. „Aber wir sind nur Freunde, Francesca. Eine Romanze interessiert mich nicht – dazu bin ich viel zu sehr mit meiner Kunst beschäftigt.“
Francesca fing ihren Blick auf und wusste, was sie meinte. „Es ist nicht dein Fehler, dass mein Porträt gestohlen wurde.“
„Ich kann einfach nicht glauben, dass Hart es trotz all dieser Privatdetektive nicht hat finden können“, rief Sarah bekümmert.
„Vielleicht wird es für immer verschwunden bleiben“, meinte Francesca, obwohl sie keinen Moment daran glaubte. Ihr Porträt hatte keinen Wert. Kunsträuber stahlen Meisterwerke. Irgendjemand hatte ihr Porträt aus persönlichen Gründen gestohlen, dessen war sie sicher. Sie bangte jenem Tag entgegen, an dem das Bild wieder auftauchte.
Dankbar griff Sarah nach ihrer Hand. „Oh, Francesca, du tröstest mich hier, wo doch Hart in solchen Schwierigkeiten steckt.“
„Du hast die Zeitungen gelesen?“
„Ja. Aber ich weiß, dass er unschuldig ist, und bin sicher, dass du Daisys wahren Mörder finden wirst“, erwiderte Sarah ernst. „Weil du niemals aufgibst.“
„Nein, das werde ich nicht“, bestätigte Francesca. „Sarah, ich kann dir gar nicht sagen, was mir deine Loyalität zu Hart bedeutet.“
„Du liebst ihn, du bist meine Freundin, und er ist ein großer Kunstförderer“, sagte Sarah.
„Ach, ist das bewegend“, ertönte Bartolla, die sich lächelnd zu ihnen gesellte. Offenbar hatte sie schon einige Zeit zugehört. Sie trug ein atemberaubendes königsblaues Kostüm, dessen gewagter Ausschnitt viel ihrer kurvigen Figur enthüllte, und war mit Diamanten behängt. „Francesca, Darling!“ Sie küsste Francesca auf beide Wangen. „Wie wirst du damit fertig? Was für ein furchtbarer Skandal! Dass man Hart des Mordes an seiner Geliebten beschuldigt! Du musst krank sein vor Kummer!“
Francesca entzog sich ihrer Umarmung. „Ich konzentriere mich voll und ganz auf die Ermittlungen. Es gibt einige interessante Spuren. Ich gehe davon aus, dass ich den wahren Mörder bald überführe. Hart ist unschuldig, insofern bin ich kein bisschen bekümmert.“
Bartolla lächelte wissend und glaubte ihr offensichtlich kein Wort. „Ich stimme Sarah zu“, erklärte sie. „Hart würde seine Geliebte niemals umbringen. Und wenn er es täte, wäre er viel zu raffiniert, um sich erwischen zu lassen.“
Es fiel Francesca schwer, die Fassung zu bewahren, und noch schwerer, Bartollas Lächeln zu erwidern. „Daisy war seine Exgeliebte“, bemerkte sie, obwohl Bartolla das ohnehin wusste, „und Hart ist unschuldig.“
„Natürlich ist er das“, beruhigte Bartolla sie. „Doch ist es nicht schrecklich, dass er gestern Abend verhaftet wurde?“
Francesca erstarrte.
Verwirrt blickte Sarah von ihrer Cousine zu Francesca. „Hart wurde verhaftet?“
Francesca rang nach Atem. „Er wurde zu einer weiteren Befragung abgeholt. Das ist alles.“
„Dann muss ich den Artikel in der World missverstanden haben. Hart ist doch im Gefängnis, oder nicht?“
„Ja.“ Francesca wandte sich ab, um ihre Bestürzung vor Bartolla zu verbergen. Natürlich würden die Neuigkeiten von gestern Abend später am Tage verbreitet werden, doch irgendjemand hatte sich wirklich Mühe gegeben, um sie noch in die Morgenzeitung zu bekommen. Und diesmal konnte sie nicht dem schmierigen Schnüffler Arthur Kurland die Schuld dafür geben.
„Oh, Francesca“, keuchte Sarah und griff nach ihrer Hand. „Das sind ja furchtbare Neuigkeiten! Und du bist so tapfer und zuversichtlich! Wie kann ich dir helfen?“
„Deine Loyalität und dein Vertrauen sind alles, was wir brauchen“, sagte sie weich.
„Es muss doch noch mehr geben, das ich tun kann“, flüsterte Sarah.
Bartolla tätschelte Sarah den Rücken. „Komm, Liebes, du hast Francesca gehört. Auch wenn wir den Koch natürlich einen Kuchen backen lassen könnten, den wir Hart ins Gefängnis bringen.“ Sie schien den Gedanken sehr amüsant zu finden.
Allmählich brannte Francesca darauf, sich auf die andere Frau zu stürzen. Mit warnendem Unterton sagte sie: „Was für eine hübsche Idee, Bartolla. Und so aufmerksam von dir!“
„Francesca, du bist so nervös! Dabei versuche ich wirklich, zu helfen.“
Francesca warf ihr einen vernichtenden Blick zu.
„Wird Hart nicht auf Kaution freikommen?“, fragte Sarah.
„Er wurde nicht verhaftet, Sarah“, erwiderte Francesca.
„Gott sei Dank!“, rief Bartolla. „Du bist sehr tapfer, Francesca, dass du deinem Mann in einer solchen Zeit beistehst. Die meisten Frauen würden sehen, dass sie so schnell wie möglich fortkommen.“
Bevor Francesca darauf antworten konnte, meldete Harold die Ankunft von Rourke Bragg. Er war gestern Abend, als Calder ins Polizeipräsidium gebracht wurde, nicht zu Hause gewesen, doch natürlich musste er inzwischen davon erfahren haben – das ganze Haus musste es wissen. Francesca war erleichtert, als er mit großen Schritten in den Salon kam.
Mit ernster Miene hielt er bei Sarah inne und küsste sie auf die Wange. Bartolla nickte er höflich zu und ging dann direkt zu Francesca, die er am Arm zur Seite zog. „Geht es dir gut?“, fragte er leise.
„Natürlich“, log sie und hielt seinem prüfenden Blick stand.
„Wie geht es Hart?“
Francesca zog ihn ans andere Ende des Raumes außer Hörweite. „Er wollte nicht, dass ich ihn gestern Abend begleite“, flüsterte sie, doch dabei brach all der Schmerz aus ihr heraus, und sie sah Rourke Hilfe suchend an, als ob er Hart zur Vernunft bringen könnte.
Er legte den Arm um sie. „Er will dir genau das ersparen, was du durchmachst.“
„Ich muss ihn sehen“, drängte sie. „Rourke, ich gebe zu, dass ich Angst habe!“
„Aber du glaubst nicht, dass er es getan hat?“, fragte Rourke.
„Nein. Aber er hat entschieden, dass es mit uns aus ist. Ich fürchte, er wird seine Meinung nicht mehr ändern. Vielleicht ist dies genau der Vorwand, den er braucht!“
„Wenn er es nicht tut, werde ich seine Meinung ändern“, sagte Rourke grimmig. „Vielleicht ist es ein Vorwand – schließlich war er sein ganzes Leben lang Junggeselle –, aber ich glaube nicht, dass er plötzlich kalte Füße bekommen hat. Ich denke, dass ihm sehr viel an dir liegt und er dir weiteren Kummer ersparen will. Wie kann ich dir helfen, Francesca? Du brauchst nur ein Wort zu sagen.“
„Er braucht uns jetzt alle. Er sollte sich von niemandem abwenden. Wenn ich ihm schon keinen Mut zusprechen darf, kannst du es vielleicht tun.“
„Ich werde versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen“, entgegnete Rourke entschlossen. „Natürlich werde ich ihn heute besuchen. Übrigens hat die Familie bereits den besten Strafverteidiger der Stadt engagiert, Charles Gray.“
Zumindest was das anging, war Francesca beruhigt. „Gut. Und ich denke, du solltest ihn besuchen – alle sollten es tun.“
Rourkes Miene hellte sich auf. „Francesca, du kennst die Braggs nicht, wenn du glaubst, irgendwas oder irgendwer könnte sie aufhalten.“
Sie lächelte. Dann fragte sie verschmitzt: „Und du gehst mit Sarah zum Lunch aus?“
Errötend blickte er zu Sarah. „Ja, und spiel nicht die Kupplerin“, knurrte er.
„Das würde ich niemals tun“, erwiderte sie und klimperte mit den Augen.
Gemeinsam gingen sie zurück zu Sarah und Bartolla. Letztere blickte mit großen Augen zwischen ihnen hin und her. Unverkennbar interessierte sie sich brennend für das, was die beiden soeben besprochen hatten.
„Rourke?“, sagte Sarah. „Vielleicht sollten wir Francesca bitten, uns zu begleiten. Ich könnte mir vorstellen, dass sie heute gern Gesellschaft hätte.“
„Nein!“, protestierte Francesca. „Ich muss einige der Hauptverdächtigen befragen. Ich habe nicht übertrieben, als ich sagte, dass es ein paar wichtige Spuren gibt. Ändert eure Pläne also nicht meinetwegen. Doch ich möchte kurz mit der Countess sprechen – unter vier Augen.“
„Das ist unser Stichwort“, sagte Rourke. „Francesca, wo kann ich dich später finden?“
Sie wusste, dass er ihr später von seinem Besuch bei Hart erzählen wollte, und seine Loyalität und Betroffenheit rührten sie sehr. „Ich wohne bei meiner Schwester. Aber ich habe keine Ahnung, wann ich heute nach Hause komme.“
Mit erstauntem Blick sah Rourke sie an. Genau wie Sarah, die immer aussprach, was sie dachte. „Francesca, du lebst jetzt bei Con nie?“
Wie sehr Bartolla nach Neuigkeiten gierte, war nicht zu übersehen.
„Ich denke schon seit einiger Zeit daran, auszuziehen. Es ist nicht einfach, zu jeder Tages- und Nachtzeit durch die Stadt zu streifen, wenn man unter Julias Dach lebt. Ihr sind meine Nachforschungen lästig. Deshalb bin ich bei Connie und Neil eingezogen – nur bis ich meine eigene Wohnung mieten kann.“
Das überraschte Sarah ebenso wie Rourke. Unverheiratete junge Damen lebten nicht allein. Um seine Verblüffung zu verbergen, sagte Rourke: „Dann werde ich heute Abend versuchen, dich bei Lord Montrose zu erreichen. Viel Glück, Francesca.“
Er lächelte Sarah zu, die Francescas Hand drückte, bevor sie ging.
Anschließend lächelte Francesca tapfer Bartolla an, die das Lächeln erwiderte. „Worüber möchtest du mit mir sprechen, Francesca?“ Sie schlenderte zu einem Sessel und wollte sich setzen.
„Über meinen Bruder“, sagte Francesca.
Statt sich zu setzen, wandte sich Bartolla langsam zu ihr um.
„Ich habe ihn gestern Abend bei Connie getroffen.“
„Tatsächlich?“ Bartolla lächelte noch immer, doch ihr Blick war wach sam.
„Ich habe ihn noch nie so bedrückt erlebt“, sagte Francesca. „Ich glaube, er ist sehr unglücklich.“
„Da irrst du ich. Ich kenne ihn besser als irgendjemand sonst, Francesca. Natürlich war es schwer für ihn, von seiner eigenen Familie enterbt zu werden. Doch ich habe ihn beruhigt, dass euer Vater irgendwann seine Meinung ändern wird. Wenn Evan irgendetwas belastet, dann seine Beziehung zu Andrew Cahill.“
Wie aalglatt und raffiniert diese Frau doch war! „Und wann wollt ihr zwei durchbrennen?“, fragte Francesca zuckersüß.
Bartolla sah aus, als hätte man sie gerade getreten. „Er hat es dir gesagt?“
„Ich bin Kriminalistin, erinnerst du dich? Ich decke mit Begeisterung Geheimnisse auf – und Lügen.“
„Was soll das heißen?“, fragte Bartolla mit kalt funkelnden Augen.
„Das heißt, dass er mir auch gesagt hat, warum ihr euch so eilig davonmachen wollt“, erwiderte Francesca ebenso kühl.
„Ich weiß wirklich nicht, was du meinst“, entgegnete Bartolla abweisend.
Francesca beugte sich zu ihr. „Evan sagte mir, dass du ein Kind bekommst. Ist es überhaupt seins?“
Empört schlug Bartolla ihr ins Gesicht. „Wie kannst du es wagen.“
Francesca zuckte erschrocken zusammen, doch selbst sie musste zugeben, dass sie die Ohrfeige verdient hatte. Sie rieb sich die schmerzende Wange. „Ich bin einfach misstrauisch, Bartolla. Und ich bin nicht überzeugt, dass das Kind von Evan ist. Schlimmer noch, ich bin nicht einmal überzeugt, dass du überhaupt schwanger bist.“ Bedeutungsvoll blickte sie auf Bartollas fast flachen Bauch.
„Ich bin keine Dirne! Ich liebe deinen Bruder! Seit ich in die Stadt gekommen bin, hat es niemanden außer Evan gegeben“, erklärte Bartolla mit geröteten Wangen. „Außerdem dachte ich, wir wären Freundinnen!“
„Das dachte ich auch – bis du mich mit dem Brief an Leigh Anne verraten hast“, gab Francesca zurück.
„Ach, komm! Du warst drauf und dran, eine Affäre mit Rick Bragg anzufangen, und sie ist seine Frau, auch wenn sie getrennt waren. Wenn man bedenkt, dass du jetzt in Hart verknallt bist, hast du keinen Grund, mir etwas nachzutragen. Ich finde sogar, du solltest ein bisschen dankbar sein.“ Ihre Augen funkelten viel sagend. „Denn Hart würde sich niemals mit Braggs Ex-Affäre abgeben.“
„Mein Privatleben steht hier nicht zur Debatte. Wenn du ein Kind erwartest, dann beweise es. Sonst werde ich meinem Bruder raten, abzuwarten, bevor er etwas tut, was er sein ganzes Leben lang bereuen wird.“
„Du willst dich in unsere Beziehung einmischen?“, fragte Bartolla betroffen.
„Evan möchte dich nicht heiraten. Zufällig weiß ich, dass er jemand anders liebt“, entgegnete Francesca. „Ich schlage vor, dass du einen Termin mit deinem Arzt machst, für dich und Evan. Und denk nicht einmal daran, den Arzt zu einer falschen Aussage zu überreden, denn das werde ich herausbekommen.“
Bartolla fing an zu zittern, und es dauerte einen Augenblick, bevor sie antworten konnte. „Ich trage Evans Kind, und es ist seine Pflicht, mich zu heiraten. Diese Sache geht dich gar nichts an!“
„Doch, das tut sie“, entgegnete Francesca.
Drohend machte Bartolla einen Schritt auf sie zu, sodass sie fast Nase an Nase standen. „Meine Liebe, wenn du dich einmischst, werde ich dafür sorgen, dass deine Beziehung mit Hart scheitert.“
„Was soll das heißen?“
„Das heißt, dass ich Hart ziemlich gut kenne. Ich weiß, dass er eifersüchtig ist – geradezu krankhaft. Ich weiß, dass er zum ersten Mal in seinem Leben verliebt ist. Und ich weiß, dass er ein Mann ist, der einen Verrat niemals vergibt.“ Sie lächelte kalt.
„Was meinst du damit? Dass du ihn irgendwie gegen mich aufbringen willst?“
„Ja, genau das meine ich.“ Bartolla lachte. „Ich werde dafür sorgen, dass er dich verachtet, Francesca. Und glaube nicht, das stünde nicht in meiner Macht. Du bist so naiv! Du kannst es mit mir nicht aufnehmen, meine Liebe. Ich bin eine Frau von Welt. Ich weiß, was einen Mann wie Hart atmen lässt. Und ich weiß, was einen Mann wie Hart hassen lässt.“
Offenbar war Bartolla viel arglistiger und bösartiger, als Francesca es sich je ausgemalt hatte. Doch sie würde nicht klein beigeben, dafür liebte sie ihren Bruder zu sehr. Geradeheraus sah sie der Countess in die Augen. „Sarah hat keine Ahnung, dass du so rücksichtslos bist, nicht wahr?“
„Du hast diesen Krieg angefangen, meine Liebe. Und du kannst ihn ganz leicht beenden, indem du dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmerst.“
Francesca wusste, wann sie sich zurückziehen sollte. Also drehte sie sich einfach um und ging hinaus. Bartolla konnte Hart nicht gegen sie aufbringen, oder? Wie die andere Frau dieses Kunststück vollbringen wollte, war Francesca unbegreiflich.
Aber eines stand nun sicher fest: Sie waren keine Freundinnen mehr, oh nein. Sie waren erbitterte Gegnerinnen, ja sogar Feindinnen.
Als Francesca beim Polizeipräsidium eintraf, war sie ganz aufgeregt angesichts der Aussicht, gleich Hart gegenüberzustehen. Wie er ihren Besuch wohl aufnehmen würde? Hoffentlich reagierte er nicht kalt und distanziert. Sie eilte die Treppe zum Eingang hinauf.
„Miss Cahill! Miss Cahill! Bitte, wir hätten gern Ihre Stellungnahme!“, riefen etliche Reporter, die hinter den beiden Gaslaternen hervordrängten.
Drei Reporter standen plötzlich um sie herum, darunter auch Arthur Kurland. Sie war bestürzt, rang sich jedoch ein Lächeln ab. „Aber gern gebe ich Ihnen eine Stellungnahme“, sagte sie und atmete tief durch. So könnte sie Harts Unschuld versichern.
Kurland trat einen Schritt vor. „Wie fühlen Sie sich nach Ihrer gelösten Verlobung, Miss Cahill? Und würden Sie mir ein Zitat für die morgige Ausgabe geben?“
Diese Frage hatte sie nicht erwartet, auch wenn sie vielleicht darauf hätte vorbereitet sein sollen. Irgendwie brachte sie heraus: „Ich fürchte, ich kann nicht zu persönlichen Dingen Stellung nehmen.“
„Tatsächlich?“, lachte Kurland. „Können Sie denn eine Stellungnahme zu Harts Festnahme gestern Abend abgeben? Oder ist das auch persönlich?“
„Mr Hart ist unschuldig. Er wurde auf raffinierte Weise hereingelegt“, entgegnete Francesca zornig.
Mit offenem Mund wurde diese Erklärung aufgenommen, und dann kritzelten die Bleistifte.
„Miss Cahill! Werden Sie in diesem Fall weiter ermitteln? Arbeiten Sie trotz Ihrer gelösten Verlobung weiterhin für Hart?“ Diese Frage kam von Walter Isaacson von der Tribune, ein Reporter, den Francesca für ehrlich und fair hielt.
Erleichtert wandte sie sich von Kurland ab. „Rose Cooper hat mich beauftragt, Miss Jones’ Mörder zu finden“, sagte sie und hob die Hand, bevor irgendjemand etwas sagen konnte. „Es hat einen Durchbruch in dem Fall gegeben, und es freut mich, Ihnen davon berichten zu können.“ Hier legte sie eine Kunstpause ein, damit sie auch jedermanns vollständige Aufmerksamkeit hatte. „Daisy Jones’ wirklicher Name lautete Honora Gillespie. Sie war die Tochter von Richter Gillespie in Albany, New York.“
„Was sagen Sie da?“, rief Kurland. Die anderen Reporter waren ebenso überrascht. Die Bleistifte rasten nur so über die Notizblöcke.
„Ich denke, Sie haben mich gehört. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen?“ Mit einem freundlichen Lächeln ließ sie die verblüfften Reporter hinter sich. Niemand machte Anstalten, ihr zu folgen, da alle so beschäftigt waren mit ihren Notizen. Innerlich seufzte sie vor Erleichterung. Gerade hatte sie die ganze Geschichte von Hart abgelenkt. Sie hegte keinerlei Zweifel, dass die morgigen Schlagzeilen ziemlich reißerisch ausfallen würden. Natürlich tat ihr das für die Gillespies leid, doch die Neuigkeit wäre in ein oder zwei Tagen sowieso bekannt geworden. Es war Hart, an den sie denken musste.
In der Lobby herrschte ein Chaos. Mehrere Gentlemen stritten sich am Empfangstresen mit zwei gelangweilten Polizisten. Telefone klingelten, Telegrafen ratterten, und ein Betrunkener grölte ein Lied. Über die Menschenmenge hinweg sah Francesca zu den Aufbewahrungszellen. Sie waren alle besetzt – doch Hart war nicht da. Hatte man ihn freigelassen? Bei dem Gedanken machte ihr Herz einen Satz.
„Miss Cahill!“ Ein Polizist, den sie zwar nicht kannte, aber schon gesehen hatte, kam auf sie zu. „Der Commissioner möchte Sie sehen. Er hat mich losgeschickt, um Sie zu suchen“, rief er atemlos und blickte auf seine Notizen. „Ich war bei den Cahills und dann bei den Montrose’ und wollte gerade zu den Dakotas, wo Sie angeblich sein sollten. Er möchte Sie wirklich dringend sehen, Miss.“
„Was ist geschehen?“, fragte sie neugierig.
„Er hat jetzt die Gillespies oben – sie sind gerade angekommen.“
Mit gerafftem Rock lief Francesca Richtung Treppe und vergaß ganz, dem Beamten zu danken. Die Gillespies mussten einen Nachtzug genommen haben, dachte sie aufgeregt.
Die Tür zum Konferenzraum stand offen. Offenbar wollte Bragg der Familie Entspanntheit und Beiläufigkeit demonstrieren. Er und Newman saßen gegenüber vom Richter, der seit gestern um ein Jahrzehnt gealtert schien, und seiner Frau, einer zierlichen blassen Blondine, die Francesca an einen zarten Vogel erinnerte. Sie hielt ein Leinentaschentuch in der Hand, das sie immer wieder an ihre Augen führte. Mit Sicherheit hatte Daisy ihre zierliche Figur von ihr, doch Francesca bezweifelte, dass Martha Gillespie jemals so schön gewesen war wie ihre Tochter, auch wenn sie sich sehr ähnlich sahen.
Ihr Blick wanderte zu Daisys Schwester. Nach Francescas Informationen war Lydia zwei Jahre jünger als Daisy. Ihr Haar war weder blond noch braun, ihre ebenmäßigen Gesichtszüge fielen nicht weiter auf, und sie hatte einen deutlich dunkleren Teint als ihre Schwester. Außer ihren Augen, die Francesca selbst aus der Distanz als blassblau identifizieren konnte, hatte sie keine Ähnlichkeit mit ihrer Schwester. Sie wusste, wie schwer es war, mit einer Schwester aufzuwachsen, die in jeder Beziehung bemerkenswert war, und fragte sich, ob Lydia auf ihre Schwester eifersüchtig gewesen war.
Steif saß Lydia neben ihrer Mutter, ihre Hände lagen reglos auf dem Tisch. Wie ihre Eltern wirkte sie sehr aufgewühlt.
Bragg bemerkte Francesca und erhob sich. „Francesca, komm herein. Der Richter und seine Familie sind sehr früh heute Morgen in der Stadt angekommen und gerade bei mir vorstellig geworden.“
Francesca lächelte ihm und Newman zu und begrüßte dann den Richter. „Guten Morgen, Euer Ehren. Danke, dass Sie gekommen sind – und danke, dass Sie Mrs Gillespie und Ihre Tochter mitgebracht haben.“
Auch der Richter erhob sich. „Martha, dies ist die junge Lady, von der ich dir erzählt habe, die bemerkenswerte Kriminalistin.“
Martha nickte unter Tränen. „Ich kann es noch immer nicht glauben. Ich kann nicht glauben, dass Honora tot ist.“
Nur Lydia rührte sich nicht. Sie sah aus, als wollte sie weinen, doch das tat sie nicht. „Es tut mir sehr leid“, sagte Francesca. „Jeder hat Daisy gemocht, und dieses Schicksal hat sie nicht verdient.“
Martha Gillespie schüttelte den Kopf. „Wie ist es möglich? Wie ist es möglich, dass sie das Leben mit uns aufgab, um das zu werden, was sie war? Bitte sagen Sie es mir, Miss Cahill, denn ich verstehe es nicht.“
„Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden“, erwiderte Francesca sanft.
Der Richter murmelte: „Ich musste es ihnen sagen. Letzte Nacht im Zug.“
Zu gern hätte sie selbst die Nachricht überbracht, um Marthas und Lydias Reaktion zu beobachten. Doch Daisys Mutter wirkte aufrichtig schockiert und verzweifelt.
Bragg sagte: „Der Richter hat soeben seine Aussage abgegeben. Sie ist kurz und präzise, wie du es beschrieben hast.“
Was bedeutete, dass er weiterhin behauptete, nichts über den Verbleib von Honora gewusst zu haben, bis Francesca gestern bei ihm in Albany aufgetaucht war. Sie nickte und sagte: „Lassen Sie uns zu der Zeit zurückgehen, als Honora fünfzehn war. Mrs Gillespie? Standen Sie Ihrer Tochter nahe?“
„Selbstverständlich. Ich betete Honora an. Sie war so schön, so lieblich.“
Doch Francesca traute der Sache nicht recht. Warum hatte Honora sie verlassen, wenn ihr Familienleben so glücklich gewesen war? „Und gab es Familienausflüge? Picknicks, Schlittschuhlaufen? Ferien, Familienzusammenkünfte? Mittagessen zu Hause, zumindest sonntags?“
Martha wirkte überrumpelt. „Wir gehen jeden Sonntag zur Kirche. Wir sind Baptisten. Doch mein Mann arbeitet sehr viel, und wenn er nicht arbeitet, haben wir gesellschaftliche Verpflichtungen. Niemand in meiner Familie kümmert sich um Picknicks“, fügte sie herablassend hinzu.
So langsam kristallisierte sich ein Bild heraus. „Also sind Sie und der Richter fast jeden Abend aus?“
„Wenn nicht, sitzt er in seinem Arbeitszimmer und isst dort allein zu Abend“, erklärte Martha.
„Ich nehme jeden einzelnen Fall sehr ernst“, sagte Gillespie rau. „Worauf wollen Sie hinaus?“
Doch Francesca lächelte ihm nur beruhigend zu. „Sind Sie mit Honora einkaufen gegangen?“
Nun war Martha vollends verblüfft. „Wir hatten eine Modistin, die ins Haus kam und für beide Mädchen die Garderobe fertigte.“ Sie weinte. „Es scheint erst gestern gewesen zu sein. Wie konnte sie gehen – und auf diese Weise!“
Plötzlich sagte Lydia leise: „Honora mochte Pferde.“
Francesca wandte ihre Aufmerksamkeit Daisys dunkler Schwester zu. „Tatsächlich?“
„Ja. Wir sind fast jeden Nachmittag durch die Felder geritten.“ Lydia hielt ihrem Blick stand. „Und manchmal haben wir unseren Lunch mitgenommen oder ein Picknick gemacht.“
Ganz beiläufig nahm Francesca neben ihr Platz. Lydias Botschaft war klar. Ihre Schwester hatte Picknicks gemocht, aber ihre Mutter hatte nichts davon gewusst. „Wissen Sie, warum Sie weggelaufen ist? War sie unglücklich, als sie weglief?“, fragte sie sanft und richtete ihre Frage nur an Lydia.
Hilflos sah Lydia zu ihren Eltern. „Ich weiß nicht, warum sie fortging.“ Eine Träne lief ihre Wange hinunter. „Und ich weiß nicht, ob sie unglücklich war.“
„Standen Sie sich nahe?“, fragte Francesca freundlich. Wenn die beiden Mädchen so wenig Zeit mit ihren Eltern verbracht hatten und jeden Tag miteinander reiten gewesen waren, mussten sie gute Freundinnen gewesen sein.
Während Lydia nickte, lief eine weitere Träne ihr Gesicht hinunter.
„Vielleicht gab es einen Jungen oder einen jungen Mann, den sie mochte?“
„Nein, es gab keine Jungs“, erwiderte Lydia heiser. „Ich wünschte, sie wäre hier!“
Francesca sah zu Bragg. Er fragte: „Hat sie Ihnen gesagt, dass sie fortlaufen will, Lydia?“
„Nein!“ Offensichtlich bestürzte dieser Gedanke Lydia, und Francesca glaubte ihr.
Dann wandte sich Bragg Martha zu. „Hatten Sie irgendeine Ahnung, dass Ihre Tochter unglücklich genug war, um von zu Hause fortzulaufen?“
„Nein, natürlich nicht.“
Mit geröteten Wangen mischte sich Gillespie ein: „Sie war eine sehr glückliche junge Lady, Sir.“
Francesca hatte das seltsame Gefühl, dass die Gillespies nicht ganz aufrichtig waren. „Glückliche junge Ladies laufen nicht von zu Hause weg, Euer Ehren.“
„Wie können Sie es wagen! Was hat das alles mit dem Mord an meiner Tochter zu tun?“, rief Gillespie empört und sprang auf.
Francesca wandte sich wieder an Lydia. „Hat sie Ihnen geschrieben, Lydia? Hat sie Ihnen gesagt, wo sie untergekommen war? Wussten Sie, dass sie hier in der Stadt war?“
Schutz suchend schlang Lydia die Arme um sich und blickte zu Boden. „Nein.“
Doch Francesca erkannte eine Lüge, wenn sie ihr erzählt wurde. Lydia hatte entweder von ihrer Schwester gehört oder gewusst, wo sie war. „Sie haben sie vermisst, nicht wahr?“
Ein stummes Nicken, dann schloss Lydia kurz die Augen. „Sie war meine Schwester. Ich habe sie geliebt.“
Francesca ließ diese Aussage einen Moment wirken, während sie und Bragg einen Blick wechselten, anschließend ergriff er das Wort.
„Richter Gillespie, wussten Sie, dass aus Honora Daisy Jones geworden war? Wussten Sie, dass sie in New York lebte, bevor Sie mit Miss Cahill sprachen?“
Geräuschvoll stieß der Richter seinen Stuhl zurück. „Selbstverständlich nicht! Was wollen Sie mir unterstellen? Dass ich die ganze Zeit wusste, wo meine Tochter war? Dass ich wusste, für welch ein Leben sie sich entschieden hatte und was aus ihr geworden war, und dass ich nichts tat, um sie nach Hause zu bringen? Sir, ich protestiere.“
Nach einem Moment der Stille sagte Bragg: „Verzeihen Sie mir, aber ich musste Ihnen diese Frage stellen. Und ich muss sie auch Ihrer Frau stellen.“
Entsetzt starrte Martha ihn an. „Nein“, flüsterte sie. „Ich habe es nicht gewusst. Richard hat es mir gestern gesagt, als er uns von Honoras Tod unterrichtete.“
Bragg nickte. „Wir haben vielleicht noch weitere Fragen an Sie, doch für heute sind wir fertig. Ich möchte Sie bitten, noch ein paar Tage in der Stadt zu bleiben, falls wir eine neue Spur finden.“
„Werden Sie Honoras Mörder finden?“, wollte der Richter wissen.
„Wir werden ihn finden“, versprach Bragg ruhig. „Machen Sie sich keine Sorgen.“
„Stimmt es, dass Sie einen Verdächtigen festhalten? Auf dem Weg hierher sah ich eine Schlagzeile, doch ich habe die Zeitung noch nicht gelesen“, sagte Gillespie.
Francesca schwieg.
„Wir haben noch keine Festnahme, und ich bin nicht überzeugt, dass der Verdächtige in Untersuchungshaft der Schuldige ist“, erwiderte Bragg.
Beunruhigt sah Francesca zu ihm. Was meinte er mit der Verdächtige in Untersuchungshaft? Hart war entlassen worden, oder nicht?
„Wer ist es?“, fragte Gillespie.
Nach einer kurzen Pause sagte Bragg: „Sein Name ist Calder Hart. Er hat Daisy im Februar als Geliebte ausgehalten.“
„Ich kenne den Mann“, rief der Richter. „Er ist ein reicher Mann hier in der Stadt.“
„Er ist mein Bruder, Sir“, entgegnete Bragg, was Francesca völlig überrumpelte.
Und auch die Gillespies schrien vor Überraschung auf.
„Er ist nicht der Mörder“, betonte Francesca fest. „Und die Polizei wird ihre Arbeit machen.“
„Das ist ein starkes Stück! Sie haben Ihren eigenen Bruder ins Untersuchungsgefängnis gebracht, weil er vielleicht meine Tochter umgebracht hat! Was für eine Ermittlung soll das hier sein? Natürlich behaupten Sie, dass er es nicht war!“ Mit diesen Worten stürmte Gillespie hinaus. Seine Frau und seine Tochter folgten ihm.
An der Tür blickte Lydia aber noch einmal zurück in den Raum – zu Francesca. Ihr Gesichtsausdruck war merkwürdig. Verzweifelt und irgendwie flehend. Im nächsten Moment war sie fort.
Missmutig rieb Bragg sich das Kinn.
„Das war sehr mutig von dir“, sagte Francesca. „Und? Was meinst du?“
„Es scheint, als ob die ganze Familie trauert und keine Ahnung hat, warum Daisy – ich meine Honora – von zu Hause fortlief“, erwiderte Bragg.
„Rick, ich glaube noch immer, dass Gillespie alles über Daisy und ihr Leben in der Stadt wusste. Ich kann mich dieses Gefühls nicht erwehren.“
„Diesmal bin ich nicht überzeugt, dass du recht hast.“
Francesca seufzte. „Martha Gillespie mag unwissend gewesen sein. Trotzdem, ich glaube, dass Lydia Kontakt mit ihrer Schwester hatte. Entweder das oder sie wusste zumindest, dass sie in New York lebte.“
„In dem Punkt könntest du recht haben“, stimmte Bragg ihr nachdenklich zu.
Schweigend grübelte Francesca über den Fall. Schließlich sagte sie: „Und was hältst du von diesem Blick, den Lydia mir vor dem Weggehen zuwarf? Sie wirkte so hilflos – fast, als wollte sie um Hilfe rufen. Was bedeutet das?“
„Ja, sie wirkte tatsächlich sehr hilflos. Doch das mag ihrem Kummer geschuldet sein.“
Damit konnte er recht haben. Ihre Gedanken wanderten zu Hart. „Rick, hast du Hart nicht entlassen? Er war nicht unten in den Zellen, als ich kam.“
Bragg antwortete nicht.
Ihr Herz setzte aus. „Rick?“
„Ich kann ihn nicht anders behandeln als jeden anderen auch! Guter Gott, Francesca, ich habe die Progressiven im Nacken, die vom Klerus und den Freunden deines Vaters angeführt werden. Und dann ist da noch die Presse.“
„Was willst du damit sagen?“
Er war nicht in der Lage, sie anzusehen. „Er wurde wegen des Mordes an Daisy verhaftet.“