14. KAPITEL

Donnerstag, 5. Juni
14.00 Uhr

Aufmerksam musterte Leigh Anne die Näherin, die Rick ihr empfohlen hatte. Offenbar war Maggie Kennedy mit der Mutter der Mädchen befreundet gewesen, außerdem war sie eine Freundin von Francesca Cahill. Sie hatte gehört, dass Maggie bei Francescas letztem Fall überfallen worden war. Die hübsche rothaarige Frau schien sehr freundlich. Sie hatte eine angenehme Art und überraschend gute Manieren, an denen sie offensichtlich sehr hart gearbeitet hatte. Doch aus irgendeinem Grund überschattete Traurigkeit ihre bemerkenswert blauen Augen. Leigh Anne wollte, dass sie eine Garderobe für Mädchen nähte. Die war dringend nötig.

Zuerst hatte Ricks Empfehlung sie bestürzt. Dass noch jemand aus der Vergangenheit der Mädchen in ihr Leben trat, gefiel ihr nicht. Nicht solange sie nicht wussten, was O’Donnell wirklich plante. Doch Rick hatte erwähnt, dass Maggie Witwe war und ihre Arbeit in der Fabrik verloren hatte, aber zugleich vier Kinder ernähren musste. Das hatte schließlich den Ausschlag gegeben – Leigh Anne entschied, Miss Kennedy zu beauftragen. Jetzt, nachdem sie sie kennen gelernt hatte, war sie froh darüber. Es war angenehm, diese Frau um sich zu haben. Gerade beugte sie sich über Dot, die so tat, als ob sie die Geschichte in einem wunderhübsch illustrierten Kinderbuch las. Vor Entzücken angesichts des Bildes von König Arthur und Guinevere seufzte Maggie, worüber Dot lachte. Aber offensichtlich erinnerte sich das kleine Mädchen nicht mehr an Maggie.

Wie tröstlich, dass Kinder mit einem kurzen Gedächtnis gesegnet waren, dachte Leigh Anne und empfand einen kleinen Stich. Sie wünschte, sie könnte die Vergangenheit ebenfalls ausradieren. Allmählich erkannte sie, dass sie die Frau, die sie einst gewesen war, vergessen musste, wenn sie den Mädchen eine gute Mutter sein wollte. Sich an die märchenhaften Bälle zu erinnern, wo sie in atemberaubenden Abendkleidern die ganze Nacht durchtanzt hatte, machte sie traurig. Sie sollte stattdessen an die Zukunft denken. Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel, als sie sich selbst als behäbige Frau mit ersten grauen Haaren und die Kinder einige Jahre älter vorstellte. In dem Bild saß sie immer noch im Rollstuhl, doch sie wirkte zufrieden, und die Mädchen waren schön und glücklich.

Auch Rick tauchte in dem schillernden Tagtraum auf, stark und sehr gut aussehend, ein nicht wegzudenkender Teil ihres Lebens.

„Lies! Lies!“, rief Dot.

Leigh Anne riss sich von ihrem Tagtraum los und sah, wie Katie – ernsthaft wie immer – ihre kleine Schwester bei der Hand nahm. „Mrs Kennedy ist hier, um uns Kleider zu nähen, richtig modische Kleider, so wie Mama sie trägt“, erklärte sie ihrer kleinen Schwester. Mit einem flüchtigen Lächeln blickte sie zu Leigh Anne.

Bei diesem Blick ging Leigh Anne das Herz auf. Von Rick wusste sie, dass die Mädchen in einem vaterlosen Arbeiterhaushalt mit wenigen Annehmlichkeiten groß geworden waren. Wie ernsthaft Katie auch zu sein versuchte, ihre Augen glitzerten vor Aufregung. Schon vor einer Weile hatte Leigh Anne den Pfleger weggeschickt. Deshalb griff sie nun selbst nach den Rädern ihres Rollstuhls und rollte ihn näher zum Sofa, wo Maggie mit den Kindern saß. Ein Gefühl des Triumphs stieg in ihr auf, als sie sich ihnen näherte. So stark, dass sie die Blasen an ihren Händen, die vom Drehen der Räder herrührten, ignorierte.

Sie konnte sich tatsächlich bewegen. Es schien wie ein Wunder. Vielleicht konnte sie wirklich diese behäbige, glückliche Frau werden …

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Maggie, die aufsprang und sich hilfsbereit neben Leigh Anne stellte.

Auch wenn die Anstrengung sie atemlos gemacht hatte, spürte Leigh Anne, dass ihr Lächeln, das sie Maggie schenkte, echt war – es spiegelte ihre aufrichtige Freude. „Es geht mir gut, Mrs Kennedy, aber danke.“

„Soll ich meine Muster hereinbringen? Manche Kunden möchten erst die Einzelheiten festlegen, während andere gern die Stoffe sichten. Sie ändern dann oft ihre Meinung, wenn sie eine Farbe oder ein Material sehen, das ihnen gefällt.“ Obwohl Maggie lächelte, blieben ihre blauen Augen glanzlos.

Leigh Anne spürte die Traurigkeit der anderen Frau, als ob sie Seelenverwandte wären. Unverkennbar hatte Maggie Kennedy irgendeinen Kummer. „Ich würde tatsächlich gern einige Stoffproben anschauen“, sagte sie. „Doch Katie möchte ich in einem hellen Narzissengelb sehen, das weiß ich jetzt schon. Katie? Würde dir ein gelbes Kleid gefallen? Ich denke, die Farbe passt zu deinem Teint und deinem Haar.“

Katie nickte mit großen Augen und war offensichtlich zu aufgeregt, um zu antworten.

„Narzisse! Narzisse! Dot will Narzisse!“, kreischte Dot.

Lachend griff Leigh Anne nach ihrer pummeligen kleinen Hand. „Dich, mein Liebes, möchte ich gern in Pastellfarben sehen – ein Pastellgrün, ein hübsches Babyblau. Wäre das nicht hübsch?“

Ebenfalls lachend breitete Dot ihre Arme aus. „Mama! Mama, Mama!“

Leigh Annes Freude verflog sofort. Dot wollte hochgehoben und in den Arm genommen werden. Doch das schaffte sie nicht und würde es nie wieder schaffen. Wieder überkam sie die Traurigkeit, zehnmal so stark wie vorher.

„Hier“, sagte Maggie, bevor Leigh Anne weiter in ihrem Kummer versinken konnte. Sie hob Dot hoch und übergab sie Leigh Anne.

Einen Moment drückte Leigh Anne Dot fest an sich. Dann lächelte sie der anderen Frau zu, die sie freundlich, doch ohne Mitleid betrachtete. „Danke sehr. Stimmen Sie meiner Farbwahl zu?“

„Es steht mir nicht zu, dem zuzustimmen“, sagte Maggie ruhig.

„Aber ich hätte gern Ihre aufrichtige Meinung.“

Maggie lächelte. „Ich denke, Katie werden leuchtende Farben stehen. Und Pastelltöne für die Kleine, Sie haben recht.“

Etwas regte sich in Leigh Annes Kopf, etwas, das sie über Maggie Kennedy wusste. Ein Bild der Countess Benevente tauchte vor ihrem geistigen Auge auf, und Leigh Anne erinnerte sich an die Gerüchte, die ihr die Witwe erzählt hatte. Schließlich stellte sie die Verbindung her. „Verzeihen Sie bitte“, sagte sie, „aber sind Sie die Frau, mit der Evan Cahill gemeinsam mit Ihren Kindern im Hotel essen war, so vor etwa einem Monat?“

Maggie Kennedy errötete und blickte zur Seite. „Er ist sehr nett zu meinen Kindern“, murmelte sie. „Ich habe vier.“ Auf einmal lächelte sie fröhlich. „Mein Ältester, Joel, ist der Assistent von Miss Cahill. Evan – ich meine Mr Cahill – besucht die Kinder oft und bringt ihnen Kekse und Geschenke mit.“ Ihr Ton wurde gedrückter. „Wir haben ihn seit einiger Zeit nicht mehr gesehen.“ Dann lächelte sie Leigh Anne wieder an. „Ich hole jetzt schnell die Muster. Ich habe meinen Koffer in der Halle gelassen.“

Nachdenklich sah Leigh Anne der Frau nach. Hoffentlich hatte sich die hübsche Näherin nicht in einen Mann verliebt, den sie niemals haben konnte, jedenfalls auf keine gebührliche Art. Schlimmer noch: Cahill war ein Lebemann, und jeder wusste das. Bartolla passte zu ihm, sie gaben ein gutes Paar ab.

In diesem Moment kam Peter an die Salontür. „Mrs Bragg? O’Donnell ist an der Haustür.“

„Schicken Sie ihn fort“, rief sie und wurde von Panik übermannt.

Rick hatte gesagt, er würde sich um O’Donnell kümmern – und doch kam der Mann zurück! Warum war er da? Feingold hatte die Adoptionspapiere beisammen, doch das Prozedere dauerte mehrere Monate. In diesem Moment wusste Leigh Anne, dass sie nicht warten konnten. Hatte Rick nicht angedeutet, dass O’Donnell die Stadt sofort verlassen würde? Oder hatte sie ihn missverstanden?

Peter war schon auf dem Weg zurück in Richtung Haustür. Plötzlich stieg trotz ihrer Angst ein unbändiger Zorn in ihr auf, der eine überraschende Energie in ihr freisetzte. Sie griff nach den Rädern des Rollstuhls und schob sie rasch und mit aller Kraft nach vorn, sodass sie hinter Peter herrollte. Hinter sich hörte sie Katie rufen, doch sie hielt nicht an. In der Halle, nicht weit von Maggie entfernt, stand Mike O’Donnell. Er wagte es, sie anzugrinsen. Leigh Anne fürchtete ihn, doch in diesem Augenblick hasste sie ihn auch. Niemals würde er am Leben der Mädchen Anteil nehmen können – und er würde sie auch nicht mitnehmen.

Keuchend und nach Atem ringend bewegte Leigh Anne den Rollstuhl so schnell, dass O’Donnell aus dem Weg treten musste, um nicht angefahren zu werden. Peter nahm die Griffe und bremste sie, bevor sie gegen die Wand fuhr. „Drehen Sie mich um“, befahl sie.

Augenblicklich drehte er den Stuhl, sodass sie O’Donnell gegenübersaß.

„Guten Tag, Mrs Bragg“, begann er. „Es ist ein schöner Tag, und ich dachte –“

„Erzählen Sie mir nichts von einem schönen Tag! Was wollen Sie? Warum sind Sie hier?“, unterbrach sie ihn grob.

Peter, der selten sprach und niemals Ratschläge gab, beugte sich zu ihr. „Mrs Bragg. Ich werfe ihn raus.“

Doch sie griff nach seiner Hand, damit er innehielt. „Nein.“ Kühl blickte sie O’Donnell an.

„Wie ich sagte, es ist ein schöner Tag, und ich wollte mit meinen Nichten ein bisschen spazieren gehen.“

„Niemals“, rief Leigh Anne.

Sein Lächeln wurde breiter. Es wirkte hässlich und drohend. „Ich habe jedes Recht, mit meinem eigen Fleisch und Blut spazieren zu gehen“, sagte er höflich.

Für sie stand fest, dass er die Mädchen entführen wollte und sie sie nie wiedersehen würde. „Nein. Sie haben nicht jedes Recht. Die Kinder leben jetzt hier bei uns. Sie mögen ihr Onkel sein, aber Sie sind ein Fremder. Ich kann Ihnen nicht einfach erlauben, mit ihnen spazieren zu gehen.“

Ohne die Spur eines Lächelns hielt er jetzt ihrem Blick stand. „Ich habe jedes Recht. Und ich kenne meine Rechte, weil ich mir gerade einen Anwalt genommen habe.“

Bei diesem Satz setzte ihr Herz aus. „Sie haben einen Anwalt beauftragt? Wozu brauchen Sie einen Anwalt?“, brachte sie heraus und hoffte, dass ihr die Panik nicht anzusehen war.

„Nun, die Mädchen sind meine Nichten. Ich weiß, Sie haben hier ein hübsches Haus und jede Menge Geld, doch ich habe darüber nachgedacht. Sie gehören zu mir und Tante Beth.“

Hatte sie nicht die ganze Zeit gespürt, dass er ihnen die Mädchen wegnehmen wollte? Ihre schlimmste Angst hatte sich bestätigt. Das war noch schlimmer, als ihre Beine zu verlieren. Schlimmer als alles, was sie sich vorstellen konnte.

Ohne dass sie es bemerkt hatte, war Maggie an sie herangetreten. Mit leiser Stimme sagte sie: „Benachrichtigen Sie Ihren Mann, Ma’am.“

Leigh Anne hörte sie. Nervös fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die Lippen, während ihre Gedanken wütend kreisten. „Sie können Ihnen nicht das Leben bieten wie wir. Und … wir lieben sie. Ich liebe sie.“

„Na, ist das nicht schön! Ich bin froh, dass Sie sie so mögen, und ich weiß, dass Sie recht haben. Sie können ihnen hübsche französische Kleidchen bieten und nagelneue Spielsachen, und ich bin nur ein hart arbeitender, gottesfürchtiger, einfacher Mann. Aber ich kann ihnen ein Dach über dem Kopf, ein Bett, warmes Essen und eine Schulausbildung bieten.“

„Wir haben vor, sie zu adoptieren, Mr O’Donnell“, brachte sie hervor und zitterte am ganzen Körper.

„Tatsächlich? Sollte ich da nicht ein Wort mitzureden haben?“ Ziemlich theatralisch, den Blick an die Decke geheftet, begann er nachzudenken. „Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee.“ Seine dunklen Augen wurden schmal. „Schicken Sie den großen Diener und die Lady fort“, befahl er.

Ihr Instinkt sagte ihr, dass es keine gute Idee war, Peter fortzuschicken. Schon oft hatte er Rick als Leibwächter beigestanden, und sie wusste, dass er eine versteckte Waffe bei sich trug. „Peter“, sagte sie.

Ganz deutlich registrierte sie den Protest in seiner Miene.

„Könnten Sie sich bitte draußen vor die Haustür stellen“, bat sie ihn sanft, wobei sie seinem Blick standhielt und hoffte, dass er ihre Absicht verstand. Irgendwie würde sie das alles durchstehen.

Obwohl er nicht einverstanden aussah, nickte er. Wenn O’Donnell vorhatte, die Mädchen zu ergreifen und fortzulaufen, wäre zumindest sein Weg blockiert. Peter ging hinaus. Als Nächstes wandte sie sich Maggie zu, doch die Rothaarige sagte: „Ich gehe in den Salon und zeige den Mädchen einige Muster.“ Sie wirkte besorgt und wachsam, ihre Stimme angestrengt.

Als sie hinausging, war Leigh Anne mit dem wettergegerbten Hafenarbeiter allein. Wieder kroch die Furcht in ihr hoch. „Worüber wollen Sie mit mir reden?“

„Ich schätze, Sie und Ihr Mann sind sich nicht mehr allzu nah, oder?“ Mit einem verschlagenen Grinsen beugte er sich zu ihr hinunter, sodass ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren.

Leigh Anne zuckte zurück. So nah wollte sie ihn nicht bei sich haben. Doch sie war hilflos, weil sie ihren Stuhl nicht rückwärts bewegen konnte. „Was soll das heißen?“

„Das heißt, dass er und ich eine kleine Unterredung hatten“, sagte er sanft und lächelte sie an. Seine Lippen waren den ihren furchtbar nah. „Ich sagte ihm, wie sehr ich die Mädchen vermisse.“

Vor Angst, Aufregung und Ekel hatte Leigh Anne das Gefühl, als zerrisse ihr rasendes Herz ihr die Brust.

„Ich vermisse sie wirklich“, fügte er hinzu.

Sie schluckte hart. „Wie viel?“, flüsterte sie. Ihre Lippen waren schwer, wie betäubt. „Wie viel wollen Sie? Wie viel kostet es, damit Sie uns in Ruhe lassen?“

„Bieten Sie mir etwa ein Bestechungsgeld an, Mrs Bragg?“

Irgendwie brachte Leigh Anne heraus: „Ich biete Ihnen eine helfende Hand. Ich weiß, wie schwer die Zeiten sind. Und Sie sind der Onkel der Mädchen. Ich würde Ihnen und Ihrer Tante gern helfen.“

„Das ist mächtig großzügig von Ihnen.“

Gierig starrte O’Donnell auf ihren Mund. Leigh Anne stockte der Atem. Sein Blick – als ob er sie küssen wollte. Instinktiv umklammerte sie die Räder ihres Stuhls so fest, dass ihre Hände schmerzten. Tränen hilfloser Wut stiegen ihr in die Augen.

Er spürte ihre Angst und lächelte. „Für einen Krüppel sind Sie eine wirklich hübsche Frau“, sagte er weich. „Sie haben zwei Beine unter diesem netten Seidenkleid?“

Wie sehr sie ihre Angst auch vor ihm verbergen wollte, sie konnte das Zittern nicht kontrollieren. Sie wollte ihm sagen, dass er das Haus verlassen sollte, doch als sie den Mund öffnete, brachte sie kein Wort heraus.

Und um ihre Qual noch größer zu machen, legte er beide Hände auf die Lehnen des Stuhls, sodass sie in der Falle saß. „Vielleicht sind mir die Beine egal“, sagte er gepresst, „denn der Rest von Ihnen ist wunderbar.“

„Wie viel?“, stammelte Leigh Anne mit letzter Kraft.

Statt zu antworten, berührte er die Haut über dem Kragen ihres silbergrauen Kleides. Sie schlotterte am ganzen Körper, und er lachte dreckig. Plötzlich richtete er sich auf. „Die Zeiten sind hart. Und Sie haben recht. Wir sind jetzt verwandt, und ich könnte Hilfe gebrauchen. Aber wissen Sie was? Ich möchte den Commissioner nicht verärgern“, sagte er mit gespielter Unschuld.

Sie verstand sofort. „Ich gebe Ihnen alles, was Sie brauchen – und ich werde bestimmt niemandem etwas sagen, nicht einmal meinem Mann.“

„So eine hübsche und kluge Lady!“ Sein Blick war kalt. „Morgen. Sie haben Zeit bis morgen Abend – fünfzehntausend Dollar werden reichen.“ Nach einem drohenden Blick eilte er aus dem Haus.

Leigh Anne saß in dem Stuhl und zitterte wie Espenlaub. Gleichzeitig war ihr so übel, dass sie dachte, sie müsste sich übergeben. Von der Tür eilte Peter herbei und sagte nach einem Blick auf sie: „Ich möchte gern Mr Bragg anrufen.“

„Nein!“, rief sie panisch. Peter starrte sie ungläubig an. Irgendwie gelang es ihr zu lächeln. „Es geht mir gut“, betonte sie. „Und Sie werden den Commissioner nicht anrufen.“ Das war ein Befehl.

Peter nickte langsam. „Ja, Ma’am.“

Für einen Krüppel sind Sie eine wirklich hübsche Frau.

Ich möchte den Commissioner nicht verärgern.

Fünfzehntausend Dollar werden reichen.

Fünfzehntausend Dollar waren eine astronomische Summe. Und sie hatte nur vierundzwanzig Stunden, um das Geld irgendwie aufzutreiben. Aber sie konnte Rick nicht um Hilfe bitten. Auch wenn ihr erster Impuls war, zu ihm zu eilen, weil sie nicht sicher war, ob sie mit dieser Krise und diesem schrecklichen Mann fertig wurde, doch sie wagte es nicht. Irgendwie würde sie sich das Geld borgen. Irgendwie würde sie morgen O’Donnell treffen und ihn für immer aus ihrem Leben verbannen.

Sie hatte solche Angst.

„Peter, machen Sie die Kutsche fertig“, ordnete sie an. „Ich gehe aus.“

Das Stadtgefängnis war ein großes, fast quadratisches Backsteingebäude, nur wenige Blocks von downtown entfernt. Drinnen war es dunkel und trübe. Die langen, düsteren Gänge passten zu ihrer Stimmung. Sie verstand die heikle Lage, in der Bragg steckte. Offensichtlich erregte Harts Fall so viel Aufmerksamkeit, dass sogar der Bürgermeister darauf gedrungen hatte, dass Bragg ihn verhaftete. Aber sie würde Rick niemals verzeihen, dass er diesem Druck nachgegeben und Hart so plötzlich verhaftet hatte. Ebenso wenig würde sie ihm verzeihen, dass er Hart in das berüchtigte Stadtgefängnis geschickt hatte.

Bilder von Hart in Ketten tauchten vor ihrem geistigen Auge auf, während sie dem Sicherheitsbeamten zum Besucherraum folgte. Ihr war übel. Permanent sagte sie sich, dass Hart in Kürze auf Kaution freigelassen würde. Aber sie war sich nicht sicher, ob sie einen Verdächtigen wie Hart auf Kaution freilassen würde, wenn sie Richter wäre. Sie musste mit seinem Anwalt sprechen. Und was noch wichtiger war, sie musste Daisys wahren Mörder finden, damit Hart keinen weiteren Demütigungen ausgesetzt war.

Der Besucherraum war klein und quadratisch, mit einem Holztisch in der Mitte. Die eine Wand bestand aus einem großen Fenster, sodass die Wärter die Gefangenen und ihre Besucher überwachen konnten. Immerhin fand sie einen hell erleuchteten Raum vor, als sie eintrat. Die Wände waren weiß verputzt, auch wenn sie inzwischen einen grauen Farbton angenommen hatten. Ängstlich sah Francesca zu der eisernen Tür an der anderen Seite des Raumes. Sie brannte darauf, Hart zu sehen, hatte aber auch Zweifel und Ängste.

Als die Tür aufging, erkannte sie sofort, dass er über ihr Erscheinen nicht erfreut war. Insgeheim hatte sie gehofft, dass sich seine Einstellung angesichts der Krise, in der er sich befand, geändert hatte. Er trug noch immer die dunkle Hose und das weiße Hemd vom vorigen Abend – keine Gefängnisuniform. An den Füßen trug er keine Ketten, doch seine Hände waren vor dem Körper mit Handschellen gefesselt. Trotz der Umgebung war seine Präsenz auffällig stark – wie immer. Entschlossen ging Francesca auf ihn zu. Doch der Wärter hielt sie zurück.

„Der Gefangene könnte gefährlich sein, Ma’am.“

Erzürnt wirbelte sie herum. „Er ist mein Verlobter!“

„Wir sind nicht mehr verlobt, Francesca.“

„Gefangenenbesuche sind auf fünf Minuten beschränkt, Calder. Bitte, lass uns nicht streiten!“

„Ich habe dich nicht erwartet.“ Damit drehte er sich um. „Bringen Sie mich zurück in meine Zelle“, sagte er im Befehlston zu dem Wärter.

„Ja, Sir“, erwiderte dieser.

„Nein!“, rief Francesca ungläubig.

Er hielt inne und wandte sich langsam zu ihr um. „Ich habe dich gebeten, nicht zu kommen“, sagte er sehr ruhig. „Was möchtest du von mir?“

Jedes einzelne Wort war wie ein Dolchstoß. „Ich möchte gar nichts von dir, Calder. Ich möchte Dinge für dich. Ich möchte, dass du deinen Seelenfrieden hast und glücklich bist. Ich bin gekommen, um über den Fall zu sprechen und mich zu überzeugen, dass du gut behandelt wirst.“

Etwas Verstörendes und Düsteres glomm in seinen Augen. „Ich bin ein reicher Mann, Francesca. Ich habe jeden in diesem Gefängnis geschmiert. Ich werde behandelt wie ein König. Tatsächlich hatte ich ein Filetsteak zum Frühstück. Fühlst du dich jetzt besser?“ Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Nein, ich fühle mich nicht besser. Ich werde mich erst besser fühlen, wenn man dich von diesem schrecklichen Ort fortbringt. Tatsächlich bin ich wütend auf Rick.“ Trotzdem reagierte sie auf seine Worte. „Dann bekommst du also eine Sonderbehandlung?“

„Ja, das tue ich. Bragg hat nur getan, was er tun musste. Ich glaube einfach nicht, dass er es wagen konnte, mich anders zu behandeln.“

„Jetzt verteidigst du ihn auf einmal?“ Sie konnte es nicht fassen.

„Ja, jetzt verteidige ich ihn auf einmal. Glaub es oder glaub es nicht.“ Seine Miene verfinsterte sich. „Es tut mir leid, dass du die Fahrt nach downtown gemacht hast. Doch dich jetzt so zu sehen, ist das Letzte, was ich will.“

Ihre Wut brach aus ihr heraus. „Du wirst mich nicht so behandeln! Wenn du glaubst, dass mildernde Umstände es dir erlauben, dich wie ein Rüpel aufzuführen, und wir danach wieder beste Freunde sind, dann irrst du dich!“

„Du drohst mir?“

Plötzlich wurde sie sich ihrer Macht bewusst. Seit vielen Monaten zählte er auf ihre Freundschaft. Er hatte sogar behauptet, dass er ohne sie nicht leben könne. „Bitte die Wärter, uns allein zu lassen. Sag ihnen, dass wir fünfzehn Minuten haben wollen, nicht fünf.“

Er lächelte schmal. „Du lernst schnell, Francesca.“

„Von dir“, erwiderte sie hitzig.

Hart blickte zu dem großen Wärter, der direkt hinter ihm stand. „Ich denke, Sie haben die Lady gehört.“

„Ja, Sir, Mr Hart“, erwiderte dieser, durchquerte den Raum und ging gemeinsam mit dem Wärter an der Tür aus dem Raum. Was auch immer Hart fühlte, es war ihm nicht anzusehen. Doch er sagte sehr sanft: „Ich hätte nie erwartet, dass du so grob sein kannst, Francesca.“

„Ich bin nicht grob, und ich habe dir nicht gedroht“, sagte sie, doch sie hatte seine Achillesferse entdeckt. „Du kannst nicht auf meine Freundschaft zählen, wenn sie dir gerade passt, und sie dann in einem Akt völliger Verrücktheit zurückweisen.“

Er zögerte, und sie sah in seinen Augen, was für einen Kampf er mit sich austrug. Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen und beruhigt, denn sie spürte, dass er nicht halb so zuversichtlich war, wie er sich gab. Stattdessen ging sie um den Tisch, sodass sie direkt vor ihm stand. Misstrauisch fragte er: „Was willst du mich fragen?“

Er lenkt von allen persönlichen Themen ab, dachte sie. Doch offensichtlich brauchten sie eine solche Ablenkung. „Deine Familie hat den besten Strafverteidiger der Stadt angeheuert“, erklärte Francesca.

„Ich weiß. Charles Gray war hier.“

„Wann ist die Kautionsverhandlung?“

„Francesca, ich möchte dich nicht dabeihaben.“

Sie ignorierte seine Warnung. „Wann, glaubt Gray, wirst du auf Kaution entlassen?“

„Was muss ich tun, damit du mir versprichst, nicht zur Kautionsverhandlung zu kommen? Wenn dir immer noch so viel an mir liegt, wie du behauptest, dann musst du versuchen, mich zu verstehen. Die Presse wird vor Ort sein. Du solltest nicht hingehen – sie werden sich wie die Geier auf dich stürzen.“

Daran hatte sie tatsächlich noch nicht gedacht, und er hatte recht, sosehr sie sich auch dagegen sträubte. Sie wollte nicht auch noch zu seinen Sorgen zählen. Vor allem aber bedeutete sein leidenschaftliches Beharren, dass ihm noch etwas an ihr lag. „Ich verspreche, dass ich der Verhandlung fernbleibe.“

Erleichterung löste seine angespannten Gesichtszüge. „Danke“, sagte er und fügte mit gesenkter Stimme hinzu: „Die Verhandlung ist in zwei Stunden. Du musst dir keine Sorgen machen. Es wurde für alles gesorgt. Ich werde freigelassen.“

Langsam verstand sie. Der Richter der Verhandlung war bestochen worden. Somit war die Verhandlung nur noch eine Formalität. Und obwohl sie die Korruption im städtischen Justizsystem verabscheute, konnte sie jetzt nicht über ihre Heuchelei nachdenken. Sie wollte unbedingt, dass Hart entlassen wurde. In ein paar Stunden würde er frei sein, und nie war sie dankbarer gewesen. Doch als sie seinen Blick auffing, fiel ihr auf, dass er sie zweifelnd musterte. Denn er wusste sehr wohl, dass sie eine gerechte und saubere Verhandlung gewählt hätte, und dachte jetzt sicher darüber nach, wie wütend sie die Bestechung machte.

„Die Beweise sprechen gegen mich. Du kannst nicht beides haben“, sagte er. „Kein Richter, der noch bei Trost ist, würde mich jetzt freilassen.“

Spontan griff sie nach seinem Arm. Seine Ärmel waren heruntergerollt, doch die Handschellen waren offen. „Das muss nicht notwendigerweise so sein, doch ich werde nicht mit dir streiten. Ich will dich hier raushaben. Ich kann es akzeptieren, Cal der.“

Als er zur Seite sah, bemerkte sie einen Ausdruck in seinen Augen, der wie Angst aussah. Aber sie hatte Hart niemals ängstlich erlebt. Sicher hatte sie sich das nur eingebildet.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich je den Tag erleben würde, an dem du für mich deine moralischen Grundsätze aufgibst.“

Das alarmierte sie. Weil Hart es als weiteren Beweis dafür sehen würde, dass er sie nur mit hinunterzog. Sie dachte an die Lüge, zu der sie Alfred ermuntert hatte. „Du wurdest für einen Mord eingesperrt, den du nicht begangen hast. Du bist unschuldig im Gefängnis!“

Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu, der alles sagte: Er glaubte, dass sie ihm zuliebe ihre Werte verraten hatte.

„Die Gillespies sind in der Stadt“, wechselte sie das Thema. „Ich habe gerade mit ihnen gesprochen und bin jetzt auf dem Weg zu Rose. Was den Richter betrifft, bin ich misstrauisch. Dass er nichts davon wusste, dass seine Tochter unter anderem Namen in dieser Stadt lebte, ist meiner Meinung nach eine Lüge. Und Daisys Schwester weiß etwas oder will etwas von mir, dessen bin ich mir sicher.“

„Glaubst du, dass der Richter seine eigene Tochter umgebracht hat?“, fragte Hart scharf.

„Nein, das nicht, obwohl Bragg die Möglichkeit nicht ausschließt. Es wäre vermutlich sehr peinlich gewesen, wenn die Öffentlichkeit von seiner Beziehung zu Daisy erfahren hätte.“

„Sie war eine brennende Zündschnur, Francesca, wenn man seinen Beruf und seine Reputation berücksichtigt“, sagte Hart. „Aber ich kann mir keinen Vater vorstellen, der sein eigenes Kind ermordet.“

Sie wusste, dass er an sein eigenes ermordetes Kind dachte. „Man darf trauern, Calder.“

„Normalerweise bist du diejenige, die solche Schlüsse wie Bragg zieht“, sagte er und ignorierte ihre letzte Bemerkung.

„Ich weiß. Doch ich habe Rose im Verdacht. Zumal jemand dich reingelegt hat“, erwiderte sie.

„Meine Affäre mit Daisy war kein Geheimnis. Wer auch immer sie ermordet hat und den Verdacht auf jemand anders lenken wollte, konnte sich leicht ausrechnen, dass er davonkommen könnte, wenn er auf mich zeigt.“

„Dieser Jemand hat ein Messer in deiner Kutsche versteckt“, erinnerte ihn Francesca.

„Hat die Polizei ermittelt, ob es die Tatwaffe ist?“

„Noch nicht. Ich glaube auch nicht, dass sie das bestimmen können, aber ich glaube, sie können es nachweisen, wenn es nicht die Mordwaffe ist.“

Er lächelte sie an, nur ein kleines bisschen.

Ihr Herz machte einen freudigen Satz. Das war sein altes, schmerzhaft vertrautes Lächeln. „Was ist?“

„Niemand ist zielbewusster als du, wenn du ermittelst, Francesca.“

„Ich kann nichts dagegen tun. In meinem Kopf kreist Gedanke um Gedanke. Hart, ich muss dich etwas zu Daisys Finanzen fragen.“

Er nickte. „Was ist damit?“

„Im Mai hat sie achttausend Dollar auf ihr Konto eingezahlt und zehn Tage später weitere zwölftausend. Hast du ihr diese Summen gegeben?“ Innerlich betete sie, dass dem nicht so war.

Offensichtlich überraschte ihn diese Information. „Nein, das habe ich nicht. Warum sollte ich?“

„Gott sei Dank“, rief sie erleichtert. „Ich hatte Angst, dass du sie vielleicht auszahlen wolltest.“

„Wofür? Weil sie uns das Leben schwer machte? Weil sie sich weigerte, das Haus aufzugeben? Ich bin ein geduldiger Mann, Francesca. Und wenn ich es wirklich auf eine Auseinandersetzung mit ihr abgesehen hätte, wäre ich einfach nicht länger für ihren Haushalt aufgekommen. Aber ich hatte entschieden, sie nicht noch mehr gegen mich aufzubringen. Sie wäre im folgenden Monat ausgezogen“, fügte er hinzu.

„Und dann hat sie dir gesagt, dass sie schwanger ist“, entgegnete Francesca und beobachtete ihn genau.

Trauer trat in seine Augen. Er wandte sich von ihr ab und ging auf und ab.

Warum wollte er seine Gefühle nicht mit ihr teilen? Sie folgte ihm und griff seinen Arm. „Hart, ich bin da für dich, immer.“

Plötzlich drehte er sich zu ihr um. „Hast du irgendeine Idee, wer Daisy ausgezahlt hat?“

„Glaubst du, dass das Geld daher stammt? Aus einer Erpressung?“, fragte sie erstaunt.

„Das ist zu viel Geld, als dass es von einem ihrer Kunden stammen könnte. Natürlich, wenn deine Theorie stimmt und Gillespie wusste, dass seine Tochter hier lebte, hat er ihr vielleicht das Geld gegeben. Er wäre nicht der erste Vater, der seine Tochter auf diese Weise unterstützt.“

Dieser Gedanke beschäftigte sie. „Aber das Geld wurde im Mai eingezahlt, und nur dann. Wenn es von Gillespie kam, kann das bedeuten, dass er vorher nichts von ihrem Verbleib gewusst hat.“

„Davon würde ich ausgehen.“

Sie drückte seine Hand. „Hart! Ich bin sicher, dass du gute Beziehungen zur Bank of New York unterhältst. Wie kann ich herausfinden, wo das Geld herkam?“ Das war auf jeden Fall eine heiße Spur.

„Darling, mir gehört die Hälfte der Bank. Sprich mit Robert Miller, dem Präsidenten. Er wird dir sagen, was du wissen musst – natürlich nur, sofern das Geld zurückzuverfolgen ist.“

„Ich bezweifle, dass Daisy mit einem Handkoffer voller Abrechnungen in die Bank spaziert ist.“

„Man weiß nie.“

Er sah sie von der Seite an, und ihre Blicke trafen sich. Das Band zwischen ihnen war fast greifbar und nicht zu verleugnen, und sie wusste, dass er es auch fühlte. „Wie geht es dir?“, flüsterte sie. „Wie geht es dir wirklich?“

Sehr ernst ruhte sein Blick auf ihr. „Es geht mir gut. Aber es ginge mir noch viel besser, wenn du nicht hergekommen wärst, Fran ces ca.“

Er gestand ihr seine wahren Gefühle ein. Das hätte sie sich zur Eröffnung gewünscht. „Mich darum zu bitten, deine Festnahme zu ignorieren, ist wie die Bitte, nicht zu atmen. Ich werde mich nicht von dir abwenden. Ich kann es nicht.“

„Warum“, fragte er nach einer Pause, „bist du so unglaublich sicher – so unglaublich loyal?“

„Möchtest du eine oberflächliche Antwort?“

„Nicht wirklich.“

„Ich glaube, ich habe dir schon gesagt, dass ich dich liebe, Darling, töricht wie ich bin.“

„Sogar jetzt.“ Obwohl seine Worte keinen fragenden Unterton hatten, bemerkte Francesca die Unsicherheit in seinen Augen. Wieder sah sie den kleinen Jungen, der immer Ärger machte und ständig die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen suchte, weil er sich verlassen und ungeliebt vorkam. „Sogar jetzt.“

„Ich habe wirklich niemals gewollt, dass du mich so siehst.“

„Wie?“, stellte sie sich dumm. Doch sie hatte ihn verstanden. Macht war seine Zuflucht geworden, im Gefängnis dagegen konnte er leicht zur Hilflosigkeit verdammt werden. „Dir wird ein Steak zum Frühstück serviert, und die Wärter nennen dich ‚Mr Hart‚ und ‚Sir‘. Ich weiß, dass du Handschellen trägst. Ich weiß, dass du hier nicht einfach rausgehen kannst. Doch das ändert nicht alles, was du in deinem Leben getan hast. Es ändert nichts daran, dass du in diesem Gefängnis die Regeln umgangen hast, es ändert nichts an dem Weg, den du gegangen bist, und es macht mit Sicherheit nicht all deine Leistungen zunichte.“

Nun lächelte er beinahe. „Willst du wirklich die Wahrheit wissen?“

Sie hatte Angst und zögerte. „Ja.“

„Du bist meine einzige Leistung.“

„Calder, das ist schwerlich wahr. Du bist mit sechzehn von zu Hause fortgegangen, mit nichts in der Tasche – und sieh dir das Vermögen an, das du dir aufgebaut hast! Sieh dir deine Kunstsammlung an. Sieh dir die Firmen an, die dir gehören. Deine Leistungen sind vielfältig.“

„Dich zu überzeugen, mich zu heiraten, ist meine einzige echte Leistung.“

Ob er wusste, wie furchtbar romantisch seine Worte waren? „Ich kann mich an wenig Überzeugung erinnern“, entgegnete sie sarkastisch, doch sie erinnerte sich an seine hitzigen Küsse und fühlte, wie sie errötete.

„Die Anziehung zwischen uns machte die Überzeugung ziemlich einfach“, sagte er.

„Daran lag es nicht“, erwiderte sie und war jetzt ebenfalls sehr ernst. „Du hast mir gezeigt, dass sich hinter diesem zweifelhaften Ruf, den du zu genießen und gern zur Schau zu stellen scheinst, ein sehr guter, selbstloser Mann verbirgt.“

„Wann wirst du an mir zweifeln?“, rief er aus.

„Niemals“, erwiderte sie fest. „Nichts hat sich geändert, Calder. Du bist der mächtigste Mann, den ich kenne. Selbst jetzt, in Handschellen und in einer Gefängniszelle, bist du eine Macht, jemand, mit dem man rechnen muss.“

„Alles hat sich geändert, oder?“, fragte er langsam. „Daisy ist tot. Mein Kind ist tot. Ich werde des Mordes beschuldigt. Und wir sind nicht mehr verlobt.“

Nach einem schmerzhaften, nachdenklichen Moment erwiderte sie: „Das war deine Wahl, nicht meine. Es wird niemals meine sein. Meine Gefühle haben sich nicht geändert – und deine auch nicht, das weiß ich.“

Er sah sie weiterhin an. Er sah nicht fort, jubelte sie innerlich. „Meine Gefühle werden sich nie ändern“, sagte er sehr ruhig. „Ich möchte nicht, dass du mich hier so siehst. Doch du bleibst die Sonne in meinem Leben, Francesca. Sogar jetzt bringst du Licht an diesen elenden Ort und in mein Leben.“

Seine Worte berührten sie, doch sie blieb unsicher. Tief in ihrem Inneren hatte sie das verstörende Gefühl, dass sie sich an einer gefährlichen Kreuzung befanden und er vielleicht auf seinem einsamen, verlassenen Pfad blieb, auch nachdem sie den Fall gelöst hatte. „Ich möchte die Sonne in deinem Leben sein“, flüsterte sie unsicher. „Du musst niemals wieder allein sein. Aber wenn du die Fenster schließt und die Vorhänge zuziehst, wie soll ich dann jemals wieder hereinkommen?“

Trauer, Qual und vielleicht sogar Verwirrung und Zweifel mischten sich in seiner Miene. Unverwandt sah sie ihn an, auch als sie spürte, dass ihr Tränen über das Gesicht rannen. Sie versuchte zu lächeln und hoffte, dass er sie nicht bemerken würde.

Doch das tat er. Er wischte ihr eine Träne von der Wange, wobei er beide durch die Handschellen gefesselten Hände heben musste. Sofort spannte sich ihr Körper an, und ihre Augen wurden schwer.

„Ich weiß nicht“, flüsterte er und beugte sich vor.

Als sich seine Hände auf ihr Gesicht legten, stieg Hoffnung in ihr auf. Seine Lippen streiften die ihren, und aus der leichten Berührung wurde eine drängende und unmissverständliche Aufforderung. Francesca griff nach Calders Schultern und wünschte, dass er sie niemals losließe. Der Kuss wurde drängender, fordernder und tiefer. Schließlich entzog er sich ihr.

Sie sah ihm in die Augen und lächelte. „Es wird niemals vorbei sein, oder? Egal, was passiert.“

„Nein, es wird niemals vorbei sein“, bestätigte er und trat einen Schritt zurück. „Du solltest gehen.“

Er hatte recht. Als sie schon auf dem Weg zur Tür war, fiel ihr ein, dass sie ihn nicht auf das Geld angesprochen hatte, das Bragg brauchte, um Mike O’Donnell auszuzahlen. Sie zögerte.

„Was ist?“

„Rick steckt ebenfalls in Schwierigkeiten, Calder.“

Überraschung spiegelte sich in seinem Gesicht. „Falls du meinst, dass diese Untersuchung seinen Kopf kosten wird, werde ich mir keine Vorwürfe machen. Seine Arbeit stand schon mehrmals auf dem Spiel.“

„Nein, es hat nichts mit seiner Arbeit zu tun. Es geht um seine Familie“, erwiderte sie.