20. KAPITEL

Freitag, 6. Juni 1902
18 Uhr

Er hatte keine Ahnung, was er hier eigentlich tat. Evan stand vor Maggies Tür; von drinnen hörte er die Stimmen der Jungen. Weil er nicht mit leeren Händen bei ihr auftauchen konnte, hatte er vom Hotel ein Abendessen für die ganze Familie mitgebracht, das in dem Deckelkorb zu seinen Füßen verstaut war. Doch das Abendessen war nur ein Vorwand für seinen Besuch. Er merkte, wie Nervosität und Angst ihn zu überwältigen drohten. Er war nur ein Freund der Familie. Er brachte nur Abendessen. Er durfte nicht um sie werben, nicht einmal wenn er es wollte, während eine andere Frau sein Kind in sich trug. Das wäre ganz und gar nicht ehrenhaft. Und er durfte nicht um sie werben, solange er seine Spielsucht noch nicht überwunden hatte. Keine Frau konnte einen solchen Verehrer gebrauchen; keine Frau konnte einen straffälligen Ehemann gebrauchen. Und schon gar nicht Maggie, die es schon schwer genug hatte im Leben.

Furchtsam schlug sein Herz in seiner Brust. Er dachte doch wohl nicht an eine Heirat im Zusammenhang mit Maggie?

Vor ein paar Stunden hatte er Andrew um Verzeihung gebeten, und seine Entschuldigung war zu Evans großer Überraschung sofort akzeptiert worden. Andrew hatte ihm einen Brandy angeboten, und bevor Evan wusste, wie ihm geschah, erzählte sein Vater ihm von irgendwelchen neuen Investitionen des Familienunternehmens, die Evan beaufsichtigen sollte. Wenn Andrew von seinem Glücksspiel der letzten Nacht erfuhr, wäre er wütend – und angewidert. Wie würde er wohl erst reagieren, wenn Evan ihm sagte, dass er ernsthaft an einer Näherin mit vier Kindern interessiert war? Er wusste, dass sein Vater damit nicht einverstanden wäre.

Nachdenklich lehnte sich Evan gegen die Wand neben der Wohnungstür. Er wollte kein einfacher Angestellter sein, aber er hatte in diesen letzten Wochen Freiheit verspürt, echte Freiheit, und er wollte auch nicht mehr für Andrew arbeiten. Mochte ihm seine Rückkehr in den Schoß der Familie und in die Firma auch einen besseren Status verleihen, so bliebe er doch auch dort ein einfacher Angestellter. Die Entscheidungen träfe sein Vater, während er die Schreibarbeit erledigte. Und den Aufstand, den er verursachen würde, sollte er jemals seine Gefühle für Maggie offenbaren, wollte er sich lieber gar nicht erst vorstellen.

Doch spielte das eine Rolle? Maggie war nichts für ihn. Außerdem verdiente sie jemand Besseren, und er musste Bartolla und das Kind unterstützen. Doch er brauchte Maggie in seinem Leben, und sei es nur als Freundin.

„Ich bin gleich wieder da“, hörte er sie plötzlich sagen, und im nächsten Moment öffnete sie die Tür. Bei seinem Anblick hielt sie überrascht inne.

Er keuchte auf, als hätte ihn jemand gegen die Brust geschlagen. „Ich wollte gerade klopfen“, brachte er mühsam heraus. „Hallo, Maggie.“

„Evan!“, rief sie und lächelte, als ob sie sich freute, ihn zu sehen. Doch ihr Blick war prüfend. „Geht es dir gut?“ Ihre Augen wanderten zu dem großen Korb zu seinen Füßen und weiteten sich vor Überraschung.

„Lust auf ein Picknick? Ein Picknick zu Hause? Oder wir nehmen die Kinder mit in den Central Park – ich habe Kutsche und Fahrer unten“, fragte er und wünschte sich verzweifelt ihre Zustimmung.

„Ich wollte gerade zum Lebensmittelhändler – das Salz ist ausgegangen und auch sonst alles!“ Sie errötete.

Er griff nach ihrer Hand und fühlte sofort die Spannung, die sie ergriff. Plötzlich hatte er Angst.

„Was ist los?“ Statt sich ihm zu entziehen, drückte sie aufmunternd seine Hand. „Warum bist du gekommen? Es ist nicht sicher! Wenn die Countess nun erfährt, dass du hier warst?“

„Das wird sie nicht.“ Er musste ihr alles sagen, dachte er. Sie hatte ein Recht darauf, es zu wissen. „Der Abend ist so schön. Können wir uns draußen hinsetzen? Ich würde wirklich gern mir dir sprechen.“

„Auf der Treppe?“, fragte sie überrascht.

„Maggie … ich werde die Countess nicht heiraten.“ Abrupt ließ sie seine Hand los und starrte ihn bestürzt an. Dann atmete sie tief ein, schloss die Wohnungstür, ließ den Korb stehen und ging die schmale Treppe hinunter. Evan folgte ihr.

Trotz der Hochbahn, die zwei Straßen entfernt röhrte, trotz des Geschreis der Männer, die sich mit ihren Rollwagen auf dem Kopfsteinpflaster der Straße drängten, und trotz des wilden Lärms aus der Schänke an der Ecke war es ein schöner Juniabend. Aus der Wohnung über ihnen hörten sie das Streiten eines Paares. Nicht weit von der Treppe spielten zwei Jungs Karten und lachten bei jedem Aufdecken. Sie hatten eine niedliche Promenadenmischung bei sich, und über ihren Köpfen saßen zwei gurrende Tauben auf dem Dach. Schnell zog Evan seine Jacke aus und breitete sie auf der obersten Stufe aus, damit Maggie einen sauberen Sitzplatz hatte. Sie lächelte ihn dankbar an und setzte sich. Als er sich neben ihr niederließ, hätte er ihr am liebsten den Arm um die Schultern gelegt und sie an sich gedrückt. Er tat es nicht.

Nicht zum ersten Mal fand er ihr Profil anbetungswürdig. Sie hatte ein so kleines Gesicht mit einer winzigen, nach oben gebogenen Nase, auf der die Sommersprossen nur angedeutet waren. Sie war so schrecklich hübsch.

„Evan? Was ist geschehen? Du wirkst ganz aufgeregt.“

„Tue ich das?“ Er starrte auf seine Knie. Dann schaute er in ihre himmelblauen Augen. „Ich kann sie nicht heiraten. Ich kann es einfach nicht. Maggie, ich mag sie nicht einmal.“

„Doch sie trägt dein Kind!“, erwiderte Maggie bekümmert.

Er verzog das Gesicht. „Ich habe so einige Zweifel, ob es mein Kind ist oder das eines anderen.“

Auf Maggies Wangen legte sich eine feine Röte.

„Sie mag eine Countess sein, doch sie ist keine Lady – und sicherlich nicht halb so viel Lady wie du.“

Bei diesen Worten wich sie plötzlich zurück. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

Das war nicht die Antwort, auf die er gehofft hatte. „Ich werde für sie und das Kind sorgen, egal wessen Kind es ist. Das habe ich geschworen, und aus diesem Grund habe ich mich mit meinem Vater versöhnt.“

„Oh, Evan, ich bin so glücklich, dass du dich wieder mit deiner Familie vertragen hast“, rief Maggie und griff spontan nach seiner Hand. Als sie sich dessen bewusst wurde, wollte sie sie zurückziehen.

Doch er hielt sie fest. „Es war eher wie zu Kreuze zu kriechen“, murmelte er.

„Nein, Evan, nein. Familie ist alles.“ Ihre Blicke versanken ineinander.

„Da ist noch mehr“, flüsterte er nach einer Pause. „Ich schäme mich.“

„Evan, vor mir musst du dich niemals schämen. Ich wäre niemals so dreist, dich zu verurteilen, nicht nach allem, was du für mich und die Kinder getan hast.“

Er war sich ziemlich sicher, dass sie ihn gleich verurteilen und verdammen würde. Deshalb zögerte er. „Maggie, ich bin schwach, zügellos. Letzte Nacht habe ich mich dem Teufel ergeben. Ich bin in einen Club gegangen.“

Er registrierte ihre Bestürzung.

„Ich wollte nicht spielen – es sollte nur eine Wette sein“, erklärte er verzweifelt. „Ich habe mich so in der Falle gefühlt! Und als ich die Wette platzierte, löste sich dieses schreckliche Gefühl, gefangen zu sein und im Treibsand zu versinken, plötzlich auf! Ich habe Bartolla, das Kind und das Durchbrennen vergessen. Statt verzweifelt zu sein, war ich aufgeregt. Ich bin fast die ganze Nacht geblieben. Maggie, und aus einer Wette wurden hundert.“

Tränen schimmerten in ihren Augen. „Es spielt keine Rolle“, sagte sie schließlich. „Heute ist ein neuer Tag. Gestern warst du aufgewühlt, weil du zu der Heirat mit einer Frau gedrängt wurdest, die du nicht liebst. Doch heute, heute kannst du von vorn anfangen. Du willst von vorn anfangen, oder?“

„Das ist genau das, was ich tun will. Als ich heute Morgen aufwachte, habe ich mich selbst gehasst … und nun fürchte ich, dass du mich auch hassen wirst.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich könnte dich niemals hassen! Evan, du hast mir durch schreckliche Zeiten geholfen. Vielleicht kann diesmal ich dir helfen.“

Was sie damit meinte, verstand er nicht. „Ich möchte dich nicht in etwas Schmutziges hineinziehen. Und ich möchte ganz sicher nicht deine Sorgen vergrößern.“

Sie zögerte. „Ich werde mich immer um dich sorgen.“ Dann lächelte sie kurz. „Bitte, lass mich dir helfen. Das nächste Mal, wenn du ans Spielen denkst, komm stattdessen hierher. Wir können darüber sprechen, wir können spazieren gehen, wir können zusammen lesen.“

Sein Herz machte einen Satz. „Meinst du das ernst?“, fragte er voller Hoffnung.

Aufrichtig sah sie ihn an und nickte. „Vielleicht ist es jetzt an mir, stark zu sein und Hoffnung zu bieten.“

Wie gern er sich auf sie verlassen wollte, wenn er es durfte. „Ich dachte, du würdest mir eine Standpauke halten, weil ich Bartolla nicht heiraten will und die Nacht im Club verbracht habe. Aber nichts dergleichen. Wie kannst du so großzügig und verständnisvoll sein?“

Noch immer sah sie ihn unverwandt an, und ihre Wangen erröteten jetzt stärker. „Wie kannst du mich das nur fragen? Ich wollte immer, dass du glücklich bist. Evan, du verdienst ein gutes Leben. Ich weiß, dass du mit dem Teufel ringst, wenn es ums Spielen geht, doch ich weiß auch, dass du den Kampf gewinnen wirst, weil du ein guter Mann bist, ein starker Mann. Ich habe das gesehen, immer wieder. Was die Countess angeht, möchte ich einfach nicht, dass du einen schrecklichen Fehler begehst. Du bist so wundervoll im Umgang mit Kindern. Wenn es dein Kind ist, wirst du es lieben wie nichts und niemanden je zuvor.“ Sie wandte den Blick ab. „Ich dachte, dass du in sie verliebt bist.“

„Ich war nie verliebt in sie!“ Allmählich gewann er seine Fassung wieder. „Als ich ihr sagte, dass ich sie und ihr Kind großzügig versorgen würde, bis das Kind volljährig ist, war sie ganz zufrieden. Hab kein Mitleid mit Bartolla“, sagte er. „Ich glaube, dass sie von Anfang an hinter meinem Erbe her war.“

Das verschlug Maggie den Atem. „Sie war bestimmt verliebt in dich! Oh, da bin ich sicher!“

„Warum bist du dir so sicher, Maggie?“, flüsterte er, und sein Herz schlug bis zum Hals.

„Ich bin es einfach“, wich sie aus.

Zögernd musterte er ihr schönes Gesicht. „Sie ist eifersüchtig auf dich, Maggie.“

„Eifersüchtig auf mich?“, fragte sie ungläubig. „Da gibt es keinen Grund, eifersüchtig zu sein!“

„Wirklich nicht?“

Verlegen blickte sie zur Seite. „Wir sind nur Freunde“, murmelte sie so leise, dass er sie kaum verstehen konnte.

Das war nicht das, was er hatte hören wollen. „Wir werden immer Freunde sein“, stimmte er zu und meinte es aufrichtig, weil er sich kein Leben ohne Maggie vorstellen konnte. Doch wenn er an die Zukunft dachte, dann sah er Maggie in seinen Armen, in einer wenig platonischen Umarmung. Er wusste nicht, was er tun sollte. „Ich möchte dich niemals enttäuschen“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu ihr.

„Das könntest du nicht! Du kannst mich nicht enttäuschen“, rief sie.

„Du kannst doch nicht so viel Vertrauen in mich haben –“

Sie unterbrach ihn. „Das habe ich! Wenn du dich entschieden hast, mit der Countess zu brechen, dann ist das die richtige Entscheidung, zumal du für sie und das Kind aufkommen willst.“

Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. „Ich bin mit Abendessen gekommen, doch das war nur ein Vorwand, um dich zu besuchen. Ich musste dich sehen und dir alles erzählen. Und ich musste wissen, dass du nicht schlecht von mir denkst, weil ich das getan habe. Du hast keine Vorstellung, wie erleichtert ich bin. Deine Meinung bedeutet mir alles, Maggie.“

„Ich bin froh, dass du sie nicht heiratest“, gab sie leise zu. „Ich kann dir mit dem Kind helfen, wenn du meine Hilfe brauchen kannst.“

Sie wollte ihm helfen, obwohl es das Kind einer anderen Frau war! „Komm her“, flüsterte er. Was dann geschah, geschah fast automatisch – er legte seinen Arm um sie und beugte sich vor, um sie zu küssen.

Sie erstarrte.

Und er zögerte einen Moment vor diesem zweiten Kuss. Denn dieser zweite Kuss wäre nicht beiläufig oder impulsiv; dieser Kuss bedeutete alles. Unsicher sah er ihr in die Augen. „Darf ich?“

Auch sie zögerte und nickte dann.

Behutsam küsste er ihre Lippen, die sich sacht öffneten. Vor so viel tiefem Gefühl, wie er es noch nie empfunden hatte, schien sein Herz anzuschwellen. Die Nachgiebigkeit ihrer Lippen und die Leidenschaft überwältigten ihn. Noch nie hatte er ein solches Begehren empfunden. Atemlos ließ er von ihr ab.

Benommen sah Maggie ihn an.

Auch er fühlte sich betäubt – betäubt vor Glück und Liebe. „Die Countess hatte allen Grund, eifersüchtig auf dich zu sein“, flüsterte er. „Denn ich wollte immer nur dich, nicht sie.“

Leigh Anne war mit den beiden Mädchen und Mrs Flowers im Kinderschlafzimmer. Katie hatte ihr leinenes Nachthemd selbst angezogen, Dot wurde von Mrs Flowers bettfertig gemacht. Währenddessen saß Leigh Anne mit einem Buch in der Hand in ihrem Stuhl dicht am Bett. Wie immer würde sie den Mädchen noch etwas vorlesen.

Doch sie wartete angestrengt auf das Geräusch der Haustür.

Es war fast acht. Rick arbeitete oft lang, doch heute konnte Leigh Anne nicht anders. Schon seit Stunden horchte sie auf ein Geräusch der Haustür, auf seine Schritte, seine Neuigkeiten. Zuerst war ihr der Grund für ihre Unruhe gar nicht bewusst gewesen, doch inzwischen wusste sie genau, worauf sie wartete. Als er am Morgen gegangen war, hatte er ihr gesagt, dass er O’Donnell aufsuchen und ihm das Geld geben würde. Außerdem hatte er gesagt, dass er anrufen würde, sobald es vorbei war. Doch das Telefon hatte nicht geklingelt. Vor ein paar Stunden hatte Leigh Anne selbst im Präsidium angerufen, und man hatte ihr gesagt, dass Bragg im Außendienst sei. Sie hatte keine Nachricht für ihn hinterlassen, doch Sergeant Shea hatte vor kurzem angerufen und ihr gesagt, dass er unterwegs nach Hause und alles in Ordnung sei.

Was sollte das heißen? Sie versuchte, sich zu beruhigen, konnte aber den Gedanken nicht verscheuchen, dass Bragg sie angerufen hätte, wenn alles gut gegangen wäre. Andererseits kannte sie seine Arbeit. Alles Mögliche konnte passiert sein, was ihn davon abgehalten hatte, O’Donnell zu treffen oder sie danach anzurufen. Vermutlich hatte ihn irgendeine polizeiliche Angelegenheit nicht zum Hörer greifen lassen.

„Mama?“ Schüchtern trat Katie auf sie zu, ihre großen, dunklen Augen blickten fragend. „Warum bist du so traurig?“

„Darling, ich bin nicht traurig“, erwiderte sie und lächelte. Sie streckte die Arme nach ihr aus, und Katie drückte sich an sie. Noch vor kurzem war Leigh Anne daran verzweifelt, die Mädchen vom Stuhl aus zu umarmen. Aber nun war die Umarmung fest. Die etwas linkische und unbequeme Haltung, in der sie sich aneinander klammern mussten, erfüllte sie nicht länger mit Zorn und Verzweiflung. Wie schon den ganzen Tag tauchte auch jetzt vor ihrem geistigen Auge das Bild ihres Mannes auf, wie er lächelnd auf sie hinuntersah, wie das Begehren in seinen Augen leuchtete, während er sich auf ihr und in ihr bewegte, wie sie beide jenem wunderbaren Punkt der Erfüllung und der vollkommenen Liebe entgegenstrebten.

Wärme durchströmte Leigh Annes Körper, und ihre Haut prickelte. Versonnen lächelte sie vor sich hin, als sie daran dachte, was letzte Nacht in ihrem Bett geschehen war.

Unten schlug die Haustür zu.

Leigh Anne fuhr zusammen. „Katie, Darling, hilf mir in die Halle!“

„Es ist nur Papa“, entgegnete Katie.

„Schnell!“, rief Leigh Anne. Ihr Herz schlug jetzt noch schneller, während bange Ungewissheit das verräterische Verlangen ablöste. Katie schob sie aus dem Schlafzimmer und den kurzen Flur entlang bis zur Treppe. Bragg stand im Flur, sah zu ihr hoch – und lächelte.

Vor Erleichterung sank sie in ihrem Stuhl zusammen. Es ist alles in Ordnung, dachte sie. Es war vorbei.

Bragg lief rasch die Stufen hinauf.

„Ist es vorbei?“, brachte sie heraus, und die Schmetterlinge in ihrem Bauch hatten nichts mit ihrer Angst, sondern nur mit dem Gedanken an die letzte Nacht zu tun.

„Ja.“ Sein Blick wanderte über ihr Gesicht und ruhte kurz auf ihrem Mund, bevor er sich Katie zuwandte. „Hallo! Komme ich rechtzeitig, um dich und deine Schwester zuzudecken?“, fragte er und hob sie in seine Arme. Über Katies Schulter hinweg lächelte er Leigh Anne zu. „Ich bringe die Mädchen ins Bett. Lass uns dann etwas trinken“, sagte er.

Er wollte ihr von O’Donnell erzählen, das wusste sie, doch ein Blick in seine Augen sagte ihr auch, dass er ebenfalls an die letzte Nacht gedacht hatte. Offensichtlich wollte er sie erneut lieben. Bei dem Gedanken stieg ihr die Röte in die Wangen. Wie konnte das sein? Dies war nicht vorgesehen! Sie war keine Verführerin mehr, da machte sie sich nichts vor, doch die Sehnsucht in ihr hatte zugenommen, ebenso wie eine starke, vertraute Erwartung.

Leigh Anne beobachtete, wie Rick Katie ins Schlafzimmer führte, und hörte ihn dort mit seiner sanften, starken und zärtlichen Stimme mit den Mädchen sprechen. Sie rollte sich selbst ins Schlafzimmer, was ihr nicht mehr so schwerfiel wie noch vor kurzem. Und der Verband um ihre Hände machte es ihr noch einfacher. Schnell rollte sie ihren Stuhl direkt zum Frisiertisch, wo es keine Möglichkeit gab, ihrem Spiegelbild auszuweichen. Die Frau, die sie vor sich sah, war atemberaubend schön, ihre blasse Haut makellos. Das warme Rosa auf ihren Wangen ließ ihr Gesicht strahlen, und ihre Augen leuchteten. Niemand, der diese dunkelhaarige Schönheit sah, konnte annehmen, dass sie für den Rest ihres Lebens an einen Rollstuhl gefesselt blieb.

Auch wenn sie wusste, dass es töricht war, griff Leigh Anne nach der Flasche Parfum und gab einige Tropfen auf ihre Handgelenke und ihr Dekolleté.

Wieder sah sie in den Spiegel. Rick stand auf der Schwelle und beobachtete sie aufmerksam. Seine Augen leuchteten, und nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, kam er mit langsamen Schritten auf sie zu. Hinter ihr hielt er inne. Ihre Blicke hefteten sich im Spiegel aneinander, und er legte zärtlich die Hände auf ihre Schultern. Ein Schauer überlief sie, als die Liebkosung eine heiße Welle durch ihren Körper sandte.

„Es wird lange dauern, bevor er uns wieder belästigen kann.“

„Was?“ Sie wollte von ihm hören, dass O’Donnell nie wieder zurückkäme.

„Ich habe ihn verhaftet“, erklärte er und blickte unverwandt in den Spiegel. „Ich musste das Gesetz befolgen, Leigh Anne. Ich habe tatsächlich daran gedacht, ihn umzubringen. Ich konnte es nicht, ich konnte keinen Mord begehen, doch ich konnte mich auch nicht der Erpressung beugen. Ich bin ein Vertreter des Gesetzes.“

„Du hast ihn verhaftet?“, rief sie bestürzt. „Was, wenn er nicht verurteilt wird? Was, wenn er auf Bewährung freikommt? Was, wenn er das nächste Mal die Kinder verletzt oder ent führt?“

„Das sind viele ‚Wenn‘“, sagte er, drehte den Rollstuhl und kniete sich vor sie.

„Und was, wenn ich ihn ausbezahlt hätte und er in ein oder zwei Monaten wiedergekommen wäre, um uns weiter auszupressen? Er ist im Gefängnis. Er kann nicht in die Adoption eingreifen, nicht von einer Gefängniszelle aus und mit einer solchen Anklage. Und er wird verurteilt werden, weil er schuldig ist. Er wird zehn bis fünfzehn Jahre bekommen. Und wenn er auf Bewährung freikommt und es wagen sollte, wieder an uns heranzutreten, dann werde ich damit fertig werden, so wie ich diesmal damit fertig geworden bin. Bitte vertrau mir“, sagte er ernst.

„Ich vertraue dir“, flüsterte sie und sagte damit die Wahrheit. „Ich habe noch immer Angst, Rick.“

Zärtlich umfasste er ihr Gesicht mit seinen Händen. „Ich weiß, dass du die hast. Deshalb musst du mir etwas versprechen. Wenn dieser Mann je wieder an dich herantritt, kommst du sofort zu mir. Egal, was er sagt, du kommst zu mir. Ich werde mit einem Kerl wie O’Donnell fertig.“

Sie nickte und bemerkte, wie eine Träne zu Boden fiel. „Ich wünschte, ich hätte es getan.“

Voller Liebe sah er sie an. „Leigh Anne, ich weiß, wie schwer diese letzten Monate für dich waren. Aber ist es nicht an der Zeit, Zweifel und Angst beiseitezuschieben und einfach zu leben? Wir haben so viel, wofür es sich zu leben lohnt.“

Ihr Herz und ihr Körper wollten ihm zustimmen. Denn sie wusste, was er meinte. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wollte auch sie eine richtige Ehe. Ein richtiges Leben, eine richtige Familie und eine richtige Ehe mit diesem selbstlosen Mann.

„Ich bin nicht mutig. Wenn ich mutig wäre, hätte ich dich damals nicht verlassen.“

„Die Vergangenheit spielt keine Rolle – wir müssen in der Gegenwart leben und die Zukunft planen. Und du bist sehr mutig“, murmelte er erstickt. „Wenn du es nicht weißt, ich weiß es.“

Gleich würde er sie küssen. In einer hilflosen Warnung schüttelte sie den Kopf. „Wie kannst du mich noch auf diese Weise begehren? Wie?“

„Weil du so unglaublich schön bist. Weil du meine Frau bist“, gab er zurück. „Und weil ich dich liebe. Ich brauche dich, Leigh Anne, aber das weißt du längst.“

Und er hatte recht. Sie sah die Leidenschaft in seinen Augen, seinem Gesicht und seiner Stimme. „Ich bin noch nicht so weit“, versuchte sie auszuweichen.

„Das glaube ich dir nicht“, flüsterte er und streifte ihren Mund mit seinen Lippen.

Das Verlangen in ihr drohte zu explodieren. Sie griff nach den Armlehnen ihres Stuhls und schloss die Augen, spürte, wie seine Zunge ihre Lippen liebkoste, schmeckte und knetete, und konnte ein Aufstöhnen nicht länger unterdrücken. Sein Mund wurde härter, fordernder, und als sie ihre Lippen öffnete, trafen sich ihre Zungen in besinnungslosem Verlangen.

Nach einem langen Kuss hob er sie aus dem Stuhl und trug sie zum Bett. Als er sie aufs Bett legte, konnte sie ihre Sehnsucht ebenso wenig verbergen, wie sie ihr heftiges, raues Atmen unter Kontrolle brachte.

Sie konnte nicht länger warten. Es war so lange her, und gestern war nur ein Vorgeschmack gewesen. Vor Lust begann Leigh Anne zu schluchzen, als er ihr rasch das Kleid auszog und dabei mit seinen Händen ihre Schultern, ihre Brüste und ihre Oberschenkel liebkoste, als ob er ebenfalls nicht länger warten könne. Nur noch mit Unterhemd, Strümpfen und Höschen bekleidet, sah sie ihn an. Mit einem leichten Lächeln beugte er sich über sie, um sie dort zu berühren, wo sie am meisten nach ihm verlangte.

Leigh Anne stöhnte, als seine Zunge tief in ihr Fleisch tauchte. Sie hörte sich selbst flehen und konnte nicht aufhören, weil sie jeden Moment explodieren würde. Sie bettelte, und er lauschte ihr, während seine geschickte Zunge sie erkundete.

„Ich liebe dich“, keuchte er, als er sich auf sie legte und mit seinen Oberschenkeln ihre Beine weit spreizte.

Sie suchte seinen Blick. Ich liebe dich auch, dachte sie. Und verstand nicht mehr, was passiert war, was sie hatte auseinanderbringen können und so lange getrennt gehalten hatte.

Als er hart und heiß und heftig in sie stieß, verzog sich sein Gesicht vor Lust. Leigh Anne umklammerte seinen Rücken, während er sich auf ihr bewegte. Und dann waren alle Gedanken ausgelöscht, es gab nur noch seinen harten, erregten Körper, seine Kraft und Hitze, die Bewegung, die sich zur Raserei steigerte, und schließlich den Ausbruch reiner Ekstase. Dieses Mal hielt sie ihn fest und wollte ihn nicht wieder loslassen.

Vor der Bibliothek hielt Francesca inne. Die beiden Flügel der verzierten Holztür standen offen, und sie erblickte Hart an seinem Schreibtisch. Mit aufgekrempelten Ärmeln – seine Krawatte hing mit der Jacke über der Stuhllehne – saß er über irgendwelche Papiere gebeugt. Er schien sehr konzentriert, doch sie bemerkte die Zeichen der Anspannung in seinem Gesicht. Die sexuelle Anziehung, die er auf sie ausübte, war so stark wie immer. Obwohl sie es kaum erwarten konnte, ihm die Neuigkeiten mitzuteilen, fürchtete sie zugleich, dass er nicht wie gewünscht reagieren würde.

Hart spürte ihre Anwesenheit und sah auf. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte er, und Francesca fühlte, wie sich Wärme in ihrem Körper ausbreitete. Es gab keinen Zweifel, dass er sich freute, sie zu sehen. Hieß das, dass er seine Dämonen besiegt hatte? Hieß das, dass er seine Meinung zu ihrer Verlobung ändern würde, sobald sie ihm eröffnete, dass sie Daisys Mörder gefunden hatte?

„Darf ich hereinkommen?“, fragte sie weich.

Schnell stand er auf und ging auf sie zu. „Du brauchst niemals zu fragen.“

Sie trat ein, und in der Mitte des Raums trafen sie sich. Seine Augen musterten sie eindringlich, als er ihre Hände nahm, und im nächsten Moment flackerte Überraschung in ihnen auf. „Du hast Daisys Mörder gefunden?“

„Ja, das habe ich“, erwiderte sie, glücklich, dass er sie so gut kann te.

„Was ist geschehen?“

„Daisy wurde von ihrem Vater sexuell missbraucht, Calder, deshalb ist sie von zu Hause fortgelaufen.“

Dies war einer der sehr seltenen Momente, in denen sie Hart aufrichtig schockiert erlebte.

„Ihre Mutter hat ihr die Schuld daran gegeben. Kannst du dir das vorstellen? Martha ist überzeugt, dass Daisy ihren Vater verführt hat. Auf jeden Fall ist der Richter Daisy im Mai zufällig über den Weg gelaufen. Er hat sie angesprochen, und sie hat ihn erpresst. Sie hasste ihn aus tiefstem Herzen! Martha wollte das nicht zulassen und hat sie ermordet. Aber es kommt noch schlimmer: Lydia hat sie dabei überrascht, ihrer Mutter bei der Flucht geholfen und den Verdacht auf dich gelenkt, als sich ihr die Gelegenheit bot.“

„Arme Daisy“, sagte Hart erschüttert. „Ich hatte keine Ahnung, Francesca.“

„Es ist eine furchtbare Tragödie!“, nickte Francesca. „Lydia bewunderte ihre Schwester und hasste den Vater ebenfalls. Sie wollte nur Martha beschützen, weil ihre Mutter alles ist, was ihr geblieben ist. Hart, ich möchte nicht, dass Lydia weiter leiden muss. Sie tut mir so leid. Und sie ist ebenso ein Opfer wie Daisy.“

Eng zog er sie an sich. „Ich werde keine Anzeige gegen sie erstatten, doch die Polizei und der Staatsanwalt können sie offensichtlich verschiedener Verbrechen anklagen.“

„Ich weiß, deshalb habe ich Bragg gebeten, in Lydias Interesse Informationen zurückzuhalten.“

„Und hat er eingewilligt?“

„Er sagte, er würde darüber nachdenken.“

Mit unbewegtem Gesicht sah Hart sie an und wandte sich dann langsam ab. Am Fenster hielt er inne und sah geistesabwesend in den ausklingenden Tag hinaus. Francesca ging zu ihm. „Was ist los?“

„Ich schätze, dass nur du in der Lage bist, Bragg von seinen hohen moralischen Grundsätzen abrücken zu lassen.“

„Was soll das heißen? Ich musste ihn einfach darum bitten, Lydia anders zu behandeln als jemand anderen.“

Sofort wurde er wieder ganz sanft und legte ihr eine Hand auf die Wange. „Natürlich musstest du das. Sie ist ein Opfer, und du bist der mitleidigste Mensch, dem ich jemals begegnen durfte.“

In seinen Augen suchte sie angestrengt nach irgendeinem Hinweis auf ihre gemeinsame Zukunft. Doch sie sah nur Trauer. „Hart, es ist vorbei. Ich weiß, dass es eine furchtbare Zeit für dich war. Doch Daisys Mörder ist gefasst. Deine Unschuld ist erwiesen, und das wird auch in den Schlagzeilen der morgigen Zeitungen zu lesen sein.“

Aber er schüttelte den Kopf. „Es war eine furchtbare Zeit für dich, Francesca, und ich mache mir noch immer Vorwürfe, was ich dir alles zugemutet habe.“

„Bitte nicht! Ich hätte in dieser Krise nirgendwo anders sein wollen als bei dir, Calder. Dafür sind Freunde da – und wir sind noch ein bisschen mehr als Freunde, selbst jetzt.“

„Du hast niemals gezweifelt in dieser ganzen Zeit, nicht ein einziges Mal.“

„Ich könnte niemals aufhören, an dich zu glauben.“

Seine Fassung bröckelte. „Deine Schwester meinte, du hättest mein Kind mit mir aufgezogen.“

Sie nickte und flüsterte: „Ich hätte deinen kleinen Jungen oder dein kleines Mädchen doch ebenso sehr geliebt wie mein eigenes.“

Qual trat in seine Augen, doch nur für einen Augenblick, denn plötzlich zog er sie in seine Arme, und seine Lippen suchten ihren Mund. Francesca legte die Arme in seinen Nacken und erwiderte seinen Kuss mit all der Liebe, die in ihrer Brust loderte. Sein Griff verstärkte sich, und sein Kuss wurde drängender, forderte eine hitzigere Antwort. Francesca gab sie ihm gern.

Nach dem Kuss hielt er ihr Gesicht in seinen Händen. „Heute Morgen bin ich mit dem Gefühl aufgewacht, ich hätte alles verloren. Ich hadere niemals mit der Vergangenheit, doch heute habe ich es getan. Ich bereute meine Reaktion auf die Nachricht von Daisys Schwangerschaft. Und ich dachte an den Moment, als wir beide uns begegnet sind, und an jedes einzelne Mal, das wir zusammen waren. Erinnerst du dich an das erste Mal, als du das rote Abendkleid getragen hast? Ich werde es niemals vergessen – ich wollte auf der Stelle über dich herfallen. Doch du hattest nur Augen für Rick.“

„Das scheint ein ganzes Leben her zu sein“, flüsterte sie. „Calder, fast jeder Mann hätte Daisy gegenüber so reagiert wie du. Bitte, geh nicht zu hart mit dir ins Gericht. Würde sie noch leben, würdest du das Kind vergöttern, das weiß ich.“

„Da ist es wieder“, sagte er rau. „Ich möchte niemals den Tag erleben, an dem du das Vertrauen in mich verlierst.“

„Das wirst du auch nicht!“, erklärte sie. „Calder, ich liebe dich jetzt ebenso sehr wie vor einer Stunde.“

Ganz dicht zog er ihr Gesicht an seines und küsste sie erneut – heiß, hart und tief. Dann sah er sie an. „Francesca? Ich liebe dich jetzt sogar noch mehr als vor einer Stunde, auch wenn das unmöglich zu sein schein.“

Überrascht von einem so intimen Geständnis sah Francesca auf.

„Ich denke, ich sollte die Vorbereitungen für Daisys Begräbnis treffen“, wechselte er das Thema. „Wir brauchen eine Trauerfeier, klein und intim. Ich werde dafür sorgen, dass Lydia daran teilnehmen kann. Wird Gillespie ebenfalls verhaftet?“

„Was passiert ist, geschah vor über acht Jahren. So schlimm das auch ist, doch er wird aus dieser ganzen Geschichte als freier Mann herauskommen.“

„Dann wird er zweifellos beim Begräbnis seiner Tochter auftauchen. Wie unangenehm.“

„Darf ich dir bei den Vorbereitungen helfen?“, fragte sie unsicher.

„Lieber nicht, ich brauche jetzt einige Zeit für mich.“

Natürlich brauchte Hart Zeit, um zu trauern, doch wollte er diese Zeit auch, um sich von ihr zurückzuziehen? „Natürlich. Calder? Ich möchte bei dem Begräbnis dabei sein.“

Er drückte ihre Hand. „Das weiß ich. Und das freut mich sehr.“ Er schwieg einen Moment. „Danke, Francesca. Danke für al les.“

Er konnte sich nicht daran erinnern, sich jemals so müde gefühlt zu haben. Es regnete. Die wenigen Trauergäste, alle entweder von seiner oder von Francescas Familie, hatten den Friedhof verlassen. Seit einer kleinen Ewigkeit schon starrte er auf den kleinen Marmorstein, der an das Kind erinnerte, das er nicht gewollt hatte und nun niemals kennen würde. Francesca hatte die Inschrift ausgesucht. „Hier ruht die Unschuld, die reine Seele.“ Tränen traten ihm in die Augen und nahmen ihm die Sicht. Dabei hatte er gedacht, dass seine Tränen längst versiegt wären.

„Calder? Es regnet.“

Weil er nicht bemerkt hatte, dass Francesca zu ihm getreten war, zuckte er leicht zusammen. Seit vier Tagen hatte er sie nicht mehr gesehen. Langsam wandte er sich um, und sein Herz füllte sich mit Leben, als er in ihr schönes Gesicht und die sorgenvollen Augen blickte. Etwas in ihm, das sich wie erstarrt anfühlte, begann zu schmelzen.

Da Francesca keinen Schirm dabeihatte, war sie völlig durchnässt. Schnell zog er seine Jacke aus und legte sie ihr über die Schultern. „Ich dachte, du wärst gegangen!“, sagte er. „Du wirst dir eine Lungenentzündung holen!“

Sie schmiegte sich an ihn. „Ich wollte dich hier nicht allein im Regen stehen lassen. Es war eine sehr schöne Beerdigung, Calder.“

Überraschenderweise wurde der Kloß, der seit Tagen in seinem Hals steckte, allmählich kleiner. Er legte seinen Arm um sie. Sie war warm, lebendig, und er hatte sie furchtbar vermisst. „Danke für die Inschrift.“

Ein leises Lächeln war die Antwort. „Raoul wartet. Schick deinen Fahrer voraus – ich nehme dich mit bis nach Hause.“

Nichts wollte er in diesem Moment lieber, als ganz dicht neben ihr in der Kutsche zu sitzen. „Ich habe dich vermisst, Francesca.“

Sie legte ihre Hand an seine Wange. „Das beruht auf Gegenseitigkeit.“

Die letzten vier Tage hatte er in seiner ganz persönlichen Hölle verbracht und vier schlaflose Nächte lang um sein Kind getrauert, wobei ihn die ganze Zeit der kleine Junge, der er einst gewesen war, verfolgt hatte. Nun zog er Francesca an sich, und sie gingen in Richtung Kutsche. „Wie geht es dir?“

„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“

Bevor er wusste, was er tat, hielt er ihr Gesicht in seinen Händen, und seine Gefühle sprudelten aus ihm heraus, leidenschaftlich und unkontrollierbar. „Francesca, seit unserer ersten Begegnung wollte ich dir alles erdenklich Schöne auf dieser Welt zeigen, von Paris im Mondlicht bis Tahiti bei Sonnenuntergang. Ich möchte, dass du die Wunder des Lebens genießt – den besten Rothschild-Wein, die seltensten und reinsten Diamanten, französische Haute Couture, van Gogh. Seit unserer ersten Begegnung denke ich an hundert verschiedene Arten, dir die schönsten Dinge dieser Erde zu zeigen. Ich wollte dich an die Hand nehmen und mit dir um die Welt reisen, wollte dich bezaubern – vor allem in meinem Bett. Niemals jedoch wollte ich der Grund für deinen Schmerz und deine Trauer sein. Es tut mir so leid!“

Sie weinte vor Glück. „Calder, ich bin überwältigt. Hat dir schon mal eine Frau gesagt, dass du der romantischste aller Männer bist?“

„Wenn ich romantisch bin, dann nur deinetwegen. Danke, dass du in diesen letzten Tagen meinen Rückzug respektiert hast. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel mir deine Rücksichtnahme bedeutet.“

Schniefend lächelte sie ihn an. „Ich werde deine Bedürfnisse immer respektieren. Ab jetzt weißt du das vermutlich, oder?“

Er wischte mit dem Daumen zwei Tränen von ihrer Wange. „Zumindest fange ich an, es zu verstehen.“

Sie lachte ein wenig. „Aber ich habe jeden Tag mit Alfred gesprochen, um sicher zu sein, dass du dich nicht mit einer Kiste Scotch in der Bibliothek eingeschlossen hast – um sicher zu sein, dass du mich nicht brauchst.“

„Du bist ein Wunder“, sagte er, während er vor seinem geistigen Auge sah, wie Francesca in der Halle mit Alfred sprach, während er in seinem Zimmer weinte.

„Wohl kaum“, erwiderte sie und rollte die Augen.

Fast hätte er darüber gelacht, weil sie so bewundernswert und so bescheiden war, doch er musste ihr noch etwas sagen. „Indem ich versucht habe, dich vor dem Skandal zu bewahren, habe ich dich verletzt – nein, unterbrich mich nicht! Du warst so tapfer und so stark. Das alles war sehr schwer für dich, nicht wahr?“

„Es war sehr schwer, Calder, doch ich verstehe, dass du mich nur vor dem Skandal schützen wolltest. Deine Absichten waren sehr ehrenwert. Siehst du? Nun bist du doch ein wahrer Gentleman!“

„Nur du kannst so großmütig sein, nachdem ich dich durch eine solche Hölle geschickt habe. Du bist eine außergewöhnliche Frau“, sagte er bewegt. „Ich kenne dich nur halb so gut, wie ich das möchte. Ich kann mir nichts Aufregenderes vorstellen, als den Rest meines Lebens mit dir zu verbringen und jede Facette deiner Persönlichkeit kennen zu lernen.“

Daraufhin wurde sie ganz still. „Ich würde dich nur zu gern ein ganzes Leben nach solchen verborgenen Facetten suchen lassen, obwohl du mir zu viel der Ehre gibst, Calder. Ich bin wirklich ziemlich gewöhnlich.“

Er lachte. „An dir ist nichts Gewöhnliches!“, rief er und wurde gleich wieder ernst. Nie hatte er jemanden mehr vermisst als Francesca in den letzten Tagen.

„Calder?“, fragte sie, und ihre Augen leuchteten vor Liebe und Hoffnung.

In diesem Moment begriff er es endlich. Seine Gefühle waren ein Wunder. Sie war ein Wunder – sein Wunder. Was hatte er nur gedacht? „Francesca, Darling, ich wünsche mir dieses Leben mit dir“, sagte er mit belegter Stimme. „Doch kannst du mir jemals wieder vertrauen? Und bist du dir sicher, dass du das wirklich willst? Die Gesellschaft wetzt bereits die Messer gegen mich, daran hege ich keinen Zweifel. Ich möchte nicht, dass dich auch nur eine Spitze trifft – und ich werde es nicht zulassen, falls du mir noch eine Chance gibst.“

Glücklich wie nie zuvor in ihrem Leben schrie Francesca auf und warf sich in seine Arme. „Du Narr! Ich würde dir hundert Chancen geben – ach was, tausend!“

Er hielt sie fest an sich gedrückt. „Oh Gott, ich hoffe, ich habe keine weiteren hundert Chancen nötig.“

„Wahrscheinlich doch“, flüsterte sie neckend. „Weil du so arrogant, anmaßend und herrschsüchtig bist.“

„Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, als ich dir eine platonische Freundschaft als Ersatz für das anbot, was wir hatten.“ Er umfasste ihr Gesicht. „Ich kann ohne dich nicht leben, Francesca. Diese letzten paar Tage haben mir das deutlich gezeigt. Mein Leben ist leer ohne dich. Ohne dich schmerzt es mich.“

Das Begehren schoss so rasch in ihr hoch, dass ihre Knie nachgaben. Sofort stützte er sie. „Ich bin sehr froh, dass du das sagst“, flüsterte sie bebend, „denn auch ich kann ohne dich nicht leben. Ich möchte immer an deiner Seite sein, egal ob du willst oder nicht, um deinen Schmerz zu lindern. Aber“, lächelte sie, „wirst du zumindest zugeben, dass du in dieser Krise zunächst überreagiert hast, Darling?“

„Ich habe den Eindruck, dass ich immer überreagiere, wenn es um dich geht“, sagte er heiser.

Sie lächelte, und ihre Hände verschränkten sich ineinander. „Das hört sich gut an.“

„Sosehr ich dich jetzt auch küssen möchte, muss ich zuerst doch noch etwas anderes tun.“

Auf einmal bekam sie Angst.

Hart war auf einmal todernst. „Francesca, ich weiß, ich bin ein schwieriger Mann. Ich weiß, ich habe eine schmutzige Vergangenheit. Diese letzten Wochen haben das bewiesen. Ich weiß, dass du es besser treffen könntest. Du verdienst es einfach besser. Doch ich bin verliebt in dich. Bin aufrichtig und hoffnungslos verliebt in dich. Und ich möchte dich so bald wie möglich heiraten – wenn du bereit bist, mir noch eine Chance zu geben.“

Francesca lachte und weinte und küsste ihn, erst rasch und flüchtig, dann tief und langsam, sodass ihre Zungen miteinander verschmolzen.

Als sie beide außer Atem waren, flüsterte er: „Ist das ein Ja?“

Sie küsste seine Finger. „Es sind tausend Jas, zu einem zusammengefasst.“ Dann wedelte sie mit der Hand stürmisch vor seinem Gesicht.

Er lachte. „Ich dachte, du würdest mich abweisen oder zumindest Zurückhaltung vortäuschen. Aber du trägst sogar noch meinen Ring.“

„Natürlich tue ich das! Selbst wenn du eine andere heiraten würdest, nähme ich ihn nicht ab!“

Vor Freude leuchtete sein Gesicht auf. Dann wurde er ernst. „Es wird niemals eine andere geben, nicht in meinem Bett, nicht in meinem Herzen oder in meinem Leben.“

„Damit werde ich fertig“, sagte sie glücklich und nahm seine Hände. „Was meinst du, was wir tun sollen? Papa hat gesagt, er möchte sich mit dir hinsetzen und dich näher kennen lernen. Das heißt, wir können eine kleine Feier haben, nur mit Familie und Freunden.“

„Wir können auch die ganze Gesellschaft einladen, wenn du das möchtest, und eine skandalöse, unglaublich teure Hochzeit feiern, sodass unsere Feinde ganz grün werden vor Neid.“

„Oh, die Idee gefällt mir.“

„Das dachte ich mir“, murmelte er und küsste sie auf die Stirn.

Wagten sie es, die Hochzeit des Jahrzehnts zu feiern und die Gesellschaft auf diese Weise herauszufordern? Francesca wusste nicht, ob es passend war, doch der Gedanke brachte sie in Versuchung.

Ihre wildesten Träume, ihre schönsten Hoffnungen würden nun doch noch wahr werden. Noch am Morgen war sie nicht sicher gewesen, ob ihre Beziehung so bestehen bleiben würde, wie sie es sich wünschte. Doch jetzt war alles gut. Dies war ein neuer Anfang – besser und viel versprechender als je zuvor. Sie glaubte vor Glück zu platzen. „Vielleicht sollten wir aus dem Regen rauskommen und uns in Privaträume zurückziehen – um unsere Hochzeit zu planen“, schlug sie mit verführerischem Unterton vor. Es war schon viel zu lange her, dachte sie.

„Ja, Privaträume sind eine gute Idee, Darling.“ Sein Ton ließ keinen Zweifel an seinen Absichten. „Weißt du noch, vor kurzem hast du gesagt, dass du mich niemals abweisen könntest.“ Dabei blickte er sie viel sagend an.

Jeder einzelne Moment, in dem sie sich geliebt hatten, stand ihr vor Augen. Francesca konnte kaum atmen vor Erregung. „Ich werde dich niemals abweisen“, sagte sie sanft. „Sag mir nur, was du möchtest.“

„Du weißt, was ich möchte“, erwiderte er mit belegter Stimme und zog sie in seine Arme. „Ich möchte mit dir ins Bett gehen – gleich jetzt – und möchte dir zeigen, wie schrecklich ich dich vermisst habe und wie sehr ich unsere Trennung bereut habe.“

„Dann sollten wir deinen Fahrer rufen“, flüsterte sie. „Denn ich bin nicht länger schüchtern und unschuldig, und ich möchte dir die eine oder andere Sache zeigen.“ Sie konnte nicht lächeln, nicht jetzt.

„Die eine oder andere Sache?“ Er blinzelte amüsiert.

„Ich möchte dir zeigen, wie sehr ich dich liebe, Calder. Und das werde ich dir zeigen – in deinem Bett – und dich wieder und wieder daran erinnern, dass ich bei dir bleibe, egal mit welchen Dämonen du zu kämpfen hast, und dass ich dich niemals verlasse oder an dir zweifle. Aber ich muss dich warnen. Ich habe meine Leidenschaft heute nicht unter Kontrolle.“

Loderndes Verlangen brannte in seinen Augen. „Warnung erhalten“, murmelte er, nahm sie in die Arme und küsste sie lange und leidenschaftlich.

Als er sie losließ, fühlte sie sich atemlos und schwindlig, und der Boden unter ihren Füßen wankte. Mehr noch: Calder hatte ein Feuer entzündet, das so bald wie möglich gelöscht werden musste – die Kutsche würde ihnen sicher dabei helfen. Und dann mussten sie natürlich die Hochzeit planen. All das konnte sie kaum erwarten.

„Bring mich nach Hause, Calder“, bat sie.

Mit einem langen Blick, bei dem jede Faser ihres Körpers in freudiger Erwartung vibrierte, sah er sie an. „Ich denke, das lässt sich machen, Darling.“

– ENDE –