Warum ein Leben in der Moderne immer ein Leben in der Krise ist

Eine zarte Zivilisationskritik und wie Sie mit dem, was ist, trotzdem bestmöglich umgehen

Akzeptieren Sie die Krise bitte auch als gesellschaftsimmanent. Wir sind in unserer modernen Zivilisation latent immer mit einem Schritt in der Krise. Warum? Weil wir mit der Aufklärung, der Französischen Revolution, der industriellen Revolution, der mobilen Revolution, der totalen Kapitalisierung aller Lebensbereiche, der Digitalisierung eine gesellschaftliche Wirklichkeit geschaffen haben, die uns tagtäglich an und über die Grenzen unserer eigentlichen menschlichen Bestimmung und unserer Fähigkeiten beziehungsweise Möglichkeiten führt. Weil uns all die Errungenschaften dieser Epochen oder Entwicklungen nicht in die Option, sondern in die Verpflichtung geführt haben, sie anzunehmen und uns ihnen anzupassen.

In einer Welt, in der Arbeit zur zentralen Kategorie der Selbstdefinition wird, ist eine Verrentung oder eine aktuelle Arbeitslosigkeit purer Stress. In einer Welt, in der anonymes Nebeneinander zur Regel wird, ist Alltag für viele Menschen in der Erfahrung von Einsamkeit purer Stress. In einer Welt, in der mich eine Scheidung an den Rand des materiellen Ruins führen kann, ist der Blick in diesen Abgrund purer Stress. In einer Welt, in der die Sinnhaftigkeit meines Tuns nur noch selten erfahrbar ist, ist eine sinnlose, öde Arbeit purer Stress. In einer Welt, in der alles immer mehr von Geld abhängig wird, ist ein Mangel an Geld purer Stress. In einer Welt, in der ich in meinem Job nicht selbstwirksam Verbesserung, Impulse, Veränderungen initiieren kann, ist das purer Stress, der mich im schlimmsten Fall in den Burn-out treibt. In einer Welt, in der nur noch Perfektion oder oberflächliche Schönheitsideale gelten, ist die Erfahrung von Versehrtheit oder Anderssein purer Stress. In einer Welt, in der meine Fähigkeiten von vor fünf Jahren heute keinen Wert mehr haben, ist diese Erfahrung purer Stress. In einer Welt, in der das Neue, die Abwechslung, die Freiheit zum Götzen erhoben wird, ich aber das tiefe menschliche Bedürfnis nach Dauer und Vertiefung erleben möchte, ist eine Trennung, eine Veränderung purer Stress, der vielleicht auch nach Jahren nicht vergeht, da mein Leben dadurch gefühlt für immer an maßgeblicher Qualität verloren hat. In einer Welt, in der nur noch das Besondere, Einzigartige, das Individuelle zählt und verwertbar ist, ist es purer Stress festzustellen, dass man gar nicht so einzigartig, talentiert oder besonders ist, sondern einfach nur durchschnittlich und berechenbar. Hinzu kommt: Ihre Durchschnittlichkeit ist immer nur einen Mausklick entfernt, da Sie im Internet innerhalb weniger Sekunden all die Menschen finden, die talentierter, reicher, schöner und erfolgreicher sind als Sie. Oder nehmen Sie unser Lebensalter: Allein die Unendlichkeit unserer mittlerweile durchschnittlich über achtzigjährigen Existenz in Europa stellt uns lebensbiografisch vor enorme Probleme, die die meisten Generationen vor uns nicht hatten. Wir können mit vierzig viele unserer äußeren Ziele wie Beruf, Vermögen, Bindung, Reisen erreicht haben und uns dann weitere vierzig Jahre langweilen, weil wir nicht wissen, was uns in diesem Leben noch wichtig ist. Das klingt nicht verlockend und ist purer Stress.

Und beachten Sie bitte: Stress und Krise sind nicht gleichzusetzen mit Belastung an sich. Es gibt viele Belastungen, die wir als angenehm empfinden, auf die wir uns freuen, da wir am Ende der Belastung ein Ergebnis, einen Lohn, eine Veränderung sehen, da wir uns vielleicht auch die Belastung selbst gewählt haben, um etwas Neues, anderes zu erreichen. Stress und Krise sind eine Belastung, die wir uns nicht gewünscht haben. Die kein positives Ziel hat, außer daran nicht zu zerbrechen. Mit der ich nicht umgehen kann, für die ich keine Strategie habe, die mich zu überfordern droht, der ich hilflos ausgesetzt scheine. Ich also keine inneren Ressourcen habe, um darauf zu reagieren.

Oder schauen Sie auf diese unvollständige Sammlung von Überzeugungssätzen, mit denen wir seit Jahrzehnten gequält werden, und ergänzen Sie diese bitte gern: Geld macht glücklich. Geld ist wichtig. Erfolg ist alles. Ein neues Produkt macht dich glücklich. Du musst mobil und flexibel sein. Leistung lohnt sich. Wenn es dich überfordert, musst du stärker werden. Freiheit ist das größte Glück der Menschheit. Das Leben ist zu lange, um immer nur das Gleiche zu tun. Ohne Risiko keine Chance auf Gewinn. Chancen muss man kreieren, ergreifen, nutzen. Stillstand ist Rückschritt. Nicht kritisiert ist Lob genug. Du bist der Erschaffer deiner Welt. Mach dich frei von der Vergangenheit und beginne heute mit dem Rest deines Lebens. Nutze den Tag. Du musst immer positiv denken. Du musst dich zuerst selbst lieben. Du musst glücklich sein. Dein Job muss dich glücklich machen. Ein Job muss Spaß machen. Glück kann man lernen. Erfolg ist planbar. Du darfst hinfallen, aber nicht liegen bleiben. Schau immer nach vorn. Leb nur im Hier und Jetzt. Freiheit ist ein Geschenk. Veränderungen sind notwendig. Allein sein können ist Ausdruck von Autonomie und Stärke. Krise ist Ausdruck von Schwäche. Irgendwann muss man sich auch wieder einkriegen. Stell dich nicht so an, das haben schon andere überstanden. – Hinter diesen Sätzen steckt pure Ideologie, viel kapitalistisches Interesse und eine menschenverachtende Logik. Denn wer sich nicht in diesen Sätzen wiederfinde, sei schwach, dumm oder nicht bereit, Verantwortung für sich zu übernehmen, und habe kein Recht, sich zu beschweren.

Über Jahrzehnte hinweg glaubten viele psychotherapeutische Schulen, Menschen helfen zu können oder helfen zu müssen, indem sie ihren Klienten halfen, stärker, individualistischer, egoistischer, selbstzufriedener zu sein. Heute gehen Forschung und Therapie einen anderen Weg, da wir anders auf den Mensch und seine Bedürfnisse schauen. Entsprechend muss Ziel und Sinn einer therapeutischen Begleitung in der Krise auch sein, die Normalität der Krise zu betonen, die durch den gesellschaftlichen Ist-Zustand und die Behauptung kultureller Notwendigkeit oder sozialer Maßstäbe beschleunigt wird.

Machen Sie auch eine klare Unterscheidung zwischen zum Beispiel der Resilienzforschung und der Bindungs-, Einsamkeits- oder Burn-out-Forschung. Die Resilienzforschung möchte Sie stärken. Das ist gut. Auch mein Ansinnen in diesem Buch ist es ja, Sie in der Krise zu unterstützen und einen bestmöglichen Weg durch diese Phase zu zeigen, sodass Sie zwei Dinge gleichzeitig tun: lernen, in der Krise besser klarzukommen, und bestmöglich dafür zu sorgen, aus der Krise herauszufinden.

Vergessen Sie dabei aber nie, was Burn-out-, Bindungs- und Einsamkeitsforschung immer klarer herausarbeiten: dass die Bedingungen, unter denen wir im 21. Jahrhundert auch in Friedenszeiten, mit Supermärkten, einer Heizung, einer Arbeitslosenversicherung, einer Krankenversicherung leben, mentalitätsgeschichtlich dunkle Zeiten sind, weil sie einen Angriff auf unsere Psyche und die Grundbedürfnisse des Menschen darstellen wie selten eine Zeit zuvor.

Mag sein, dass die Menschen in Europa im Jahr 1580 oder 1720 deutlich früher starben, mehr körperliche Schmerzen und Unbill ertragen mussten – psychisch waren sie besser aufgestellt, da es ein ausgeprägtes soziales Leben, familiäre, verwandtschaftliche Netzwerke, Zugehörigkeiten, Routinen, Klarheiten, Begrenzungen, Sicherheiten, Naturerfahrungen, Eindeutigkeiten gab, die heute nicht mehr existieren und die der menschlichen Natur und der menschlichen Psyche guttaten. Und wenn es nur der untrügliche Glaube an ein arbeitsfreies und sorgenfreies Paradies im Jenseits war.

Und: Wir dürfen das Bedürfnis der Menschen nach Freiheit und Selbstgestaltung nicht mit ihrer Fähigkeit verwechseln, diese Freiheit auch auszuhalten oder die Selbstgestaltung erfolgreich durchzuführen. Wir bezahlen für diese Freiheit einen Preis. Ich will diese Freiheit nicht missen. Ich will nur darauf hinweisen, dass das menschheitsgeschichtlich ein Novum ist, ein Experiment, dem wir uns so erst seit ein paar wenigen Hundert Jahren verschrieben haben. Da mit dieser inneren Verantwortung, seine Freiheit zu nutzen, auch die Freiheit des Scheiterns verbunden ist, ist es kein Zufall, dass dadurch die psychische Belastung für jeden von uns enorm zugenommen hat.

Was ich Ihnen in diesem Kapitel näherbringen möchte: Es gibt objektive gesellschaftliche Gründe für das Erleben von Krisen. Weil der Mensch nicht dafür gemacht ist, anhaltend in Unsicherheit, Wirkungslosigkeit, Einsamkeit, Unsicherheit, Sinnlosigkeit, Unverbundenheit zu leben. Viele Menschen aber anhaltend genau so leben und unser Gesellschaftssystem dies permanent vorantreibt. So finden sich also auch im Blick nach außen, in die sozialen Systeme, in den sozialen Raum, in unsere Kultur und Gesellschaft genug Gründe, warum die Krise einen hohen Grad von Normalität hat. Die Krise ist die folgerichtige Reaktion darauf, dass wir ein Leben leben, für das wir ursprünglich nicht gemacht worden sind.

Weil wir in einer sicheren Gemeinschaft leben wollen, weil wir einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen wollen, weil wir eine Vorstellung einer sicheren Zukunft haben wollen, weil wir in tiefen Bindungen mit Liebespartnern, Freunden oder Familienmitgliedern stehen wollen, weil wir innerhalb einer Gemeinschaft gehört, anerkannt, respektiert und gesehen werden wollen, weil wir etwas beitragen wollen, weil wir auch in der Selbstbestimmtheit und Entwicklung spüren wollen, weil wir mit der Natur in Verbindung sein wollen, weil wir einer Ethik und sinnvollen Werten verbunden sein wollen, nach denen wir auch täglich leben können, weil wir Selbstwirksamkeit spüren wollen und nicht Ohnmacht. Und weil all das in unserer Gesellschaft kaum noch möglich ist oder permanent in Gefahr ist, kann auch ein stabiles Selbst durch solche Lebenserfahrungen zu einem instabilen Selbst werden. Nicht mit uns stimmt etwas nicht, sondern mit der Gesellschaft, in der wir leben. Vielleicht beruhigt Sie ja diese Erkenntnis ein wenig.

Natürlich gibt es Menschen in Ihrem Umfeld, die mit den Herausforderungen der Moderne gut umgehen. Die ohne Partner, ohne Familie, ohne Gespräch, ohne Ersparnisse, ohne festen Arbeitsplatz, ohne Erfüllung am Arbeitsplatz, ohne die Vorstellung einer Sinnhaftigkeit gut im Hier und Jetzt leben. Dies liegt jedoch nicht daran, dass diese Menschen bessere Strategien haben, um mit diesem Mangel umgehen zu können, sondern primär daran, dass diese Menschen diesen Mangel gar nicht wahrnehmen, da sie das Bedürfnis, in solchen Zusammenhängen zu leben, nicht haben. Und natürlich gibt es auch Menschen, die ein höheres Interesse an neuen Impulsen, an Abwechslung oder an oberflächlichen Begegnungen in ihrem Leben haben, als in bestehenden Strukturen Tiefe zu erleben oder anzusteuern, und denen eine Trennung, ein Umzug, eine Veränderung, die Verrentung deshalb leichtfallen.

In die Falle tappen Sie, wenn Sie diese Menschen als Vorbild nehmen und glauben, es gäbe Techniken und Tricks, die Ihnen helfen, ebenfalls glücklich und zufrieden zu sein, auch wenn Sie gerade über die Perspektivlosigkeit Ihrer Existenz, der Trauer eines Verlustes oder den Mangel an Liebe oder Freundschaft verzweifeln. Diese Tricks gibt es nicht. Was es gibt, sind Techniken und Strukturen, die Ihnen helfen, mit dieser Sehnsucht, mit dem krisenhaften Erleben der Nichterfüllung, besser und stabiler umzugehen. Achten Sie bitte immer genau auf diese Unterscheidung.

Und zu Ihrer Beruhigung: Die allermeisten Menschen sehnen sich nach Ankunft, Heimat, Bindung, Hafen, Verlässlichkeit, Sicherheit, Austausch, Sinn und Verbindlichkeit. Wir sind nämlich nicht nur die Nachkommen von Angsthasen (weil wie gesagt nur diese vorsichtig genug waren, um vor 40000 Jahren sich selbst und ihren Nachkommen das Überleben zu sichern), wir sind auch primär die Nachkommen derjenigen, die ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Kooperation und sozialer Interaktion haben (weil der Mensch über Zehntausende von Jahren nur in der Gruppe und im Miteinander überleben konnte). Daran ist nichts falsch, daran ist alles richtig. Die gesellschaftlichen Verhältnisse allerdings machen es schwer, solche Ziele dauerhaft zu leben. Dessen müssen wir uns bewusst sein.

Für viele von uns besteht deshalb das Leben als Erwachsener aus einer Abfolge von Krisenerfahrungen, Krisenmanagement und Krisenstrategien. Falls wir Glück hatten, bestand unser Leben bis zum Ende unserer Schulzeit aus einem festen Familienverbund, positiven Routinen, Sicherheit und Aufgehobensein. Falls es weniger gut lief, erlebten wir auch schon in unserer Kindheit Unsicherheit, das Gefühl von Wertlosigkeit, Gewalt, Verlust, die Trennung der Eltern oder den Tod eines Elternteils. In den Jahrzehnten des Erwachsenenlebens gibt es dann aber für die Mehrheit von uns ein wiederkehrendes Nacheinander von Anfängen, Scheitern, Entscheidungen, Fehlentscheidungen, Versuchen, Enden, Neubeginnen und so fort. Diese Kreisläufe sind purer Stress für alle Menschen. Oftmals geraten sie dadurch in jahrelange Stressroutinen, die irgendwann in eine Lebenskrise, in Hoffnungs-, Perspektivlosigkeit, Zusammenbruch münden und vielleicht aus der isolierten Betrachtung der aktuellen Belastung kaum erklärlich, nur mit dem Blick auf jahrelangen Dauerstress verständlich sind. Deshalb kollabieren Menschen vier Jahre nach ihrer Scheidung, komme ich mit zwei Phasen der Arbeitslosigkeit klar, mit der dritten aber nicht mehr, beginnt für viele junge Mütter oder Väter die Krise ihres Daseins, wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind, haben Arbeitnehmer einen Zusammenbruch oder eine Sinnkrise im Urlaub oder nach der Pensionierung.

All das weiß die medizinische Forschung im Bereich der sozialen Gesundheit heute und kommt deshalb auch zu dem Schluss, dass sozialer und gesellschaftlicher Stress unserer psychischen und physischen Gesundheit mehr zusetzt als Rauchen oder Alkohol. Besonders soziale Isolation gilt als einer der relevantesten Krankmacher unserer Zeit, und umgekehrt sorgen intensive positive soziale Beziehungen und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit für mentale Gesundheit.

Aus der Schmerzforschung wissen wir zudem seit einigen Jahren, dass das Gehirn keinen Unterschied macht zwischen psychischem und physischem Schmerz, denn das Schmerzzentrum im Hirn für sozialen oder körperlichen Schmerz ist dasselbe. Ein Schlag auf den Brustkorb oder mangelnde Sozialkontakte sorgen für dasselbe innere Schmerzerleben – mit dem Unterscheid, dass der physische Schlag im Schmerzempfinden bald wieder vergeht, während der psychische Schlag im Schmerzerleben eine deutlich längere Verweildauer hat.

Wir sind verletzliche, schwache Wesen, wir sind von Natur aus vorsichtig, kooperativ und verletzbar, kein Wunder also, dass viele von uns in der Summe der Zumutungen des Lebens an die Grenzen ihrer Belastbarkeit oder immer wieder darüber hinaus geraten und Phasen der Krise, der Trauer, der Überforderung erleben.

Nicht zuletzt auch deshalb, weil die gesellschaftlichen Großerzählungen der vergangenen zwanzig Jahre aus dem Erleben eines Hoffnungs- oder Zukunftsüberschusses (wie in den Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts oder in den Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges) heute einem gesellschaftlichen Erleben im Angst-, Krisen- oder Sorgenüberschuss gewichen ist. Wir haben aktuell keine konkrete Vorstellung einer besseren Zukunft zur Hand. Nicht nur der Einzelne fühlt sich überfordert, sondern auch die Gesellschaft in Summe. Ihre Repräsentanten, Eliten, Funktionsträger finden kein überzeugendes und anschlussfähiges Narrativ mehr, um einander und uns eine attraktive, erstrebenswerte Zukunft zu entwerfen. Aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen gelten dem Ziel, unsere bisherige Lebensform beizubehalten (auch wenn wir wissen, dass diese eigentlich das Problem erst hervorgebracht hat). Wir kämpfen somit seit einigen Jahrzehnten darum, etwas Altes zu erhalten, und nicht darum, etwas Neues zu gestalten. Diesen Umstand erleben wir als gesellschaftliche Krise. Nicht als gesellschaftliche Belastung (die gibt es immer), denn hier gilt analog, was ich Ihnen vor einigen Seiten schon über das Individuum erzählt habe: Krise und Belastung sind unterschiedliche Dinge. Eine Belastung lässt sich nicht vermeiden. Zur Krise wird etwas, wenn wir daran kein positives Ziel knüpfen, keine Idee eines besseren Lebens, einer besseren Welt, einer besseren, lebenswerteren Zukunft.

Bei diesen kurzen Ausführungen will ich es belassen. Ich wollte mit diesen Zeilen nur Ihre Sinne schärfen und Sie einladen zu akzeptieren, dass ein Krisenerleben natürlich auch durch den gesellschaftlichen Ist-Zustand erzeugt wird.

Nehmen Sie zentral aus den vergangenen drei Kapiteln bitte Folgendes mit:

Wir haben

  1. eine innerliche Disposition für die Krise durch unser Körpergedächtnis, das uns tendenziell vorspielt, dass wir weiterhin klein und hilflos sind und Rettung nur durch ein Außen erfolgen kann. Und wir besitzen genau diese Inhalte des Körpergedächtnisses, weil wir Hilflosigkeit und Überforderung in den ersten Jahren nach unserer Geburt auch wirklich erfahren haben.
  2. eine innerliche Disposition für die Krise durch die spezifische – in der Gegenwart nicht mehr ideale – Funktionalität unseres Gehirns, das darauf geschult ist, alles Erleben auf Gefahr zu überprüfen, im Zweifelsfall sich für Gefahr zu entscheiden und dann auf einen Gefahrenmodus umzuschalten, der uns nicht mehr in unserem bestmöglichen Selbst agieren lässt.
  3. eine äußere Disposition für Krise, da wir in einem gesellschaftlichen Jetzt leben, in dem, obwohl wir in Europa im Frieden leben, die Summe der sozialen Einsamkeits-, Unsicherheits-, Überforderungs-, Scheiterns- oder Verlusterfahrungen deutlich das Leben prägen und belasten.

Wir sind auf diese vielfältige Weise krisensensible und krisenaffine Individuen in einer krisenfrustrierten Gesellschaft. Das sind leider sich gegenseitig verstärkende Faktoren und Effekte. Kein Wunder also, dass die kommende Krise schon immer an der nächsten Ecke lauert.