Wie Ihre Fantasie und Ihr Leben Flügel bekommen durch die Bewusstheit und die Aktivierung der drei Ich-Zustände
In diesem Kapitel lernen Sie, in der Krise konkret anders und besser zu agieren. Also alternatives Verhalten und andere Handlungen an den Tag zu legen. Die folgenden Seiten sind Einladung und Landkarte zugleich. Sie werden durch dieses Kapitel in der Lage sein, Ihre maximale innere Flexibilität auch in äußeren Handlungen zu zeigen, Ihre Selbststeuerung bestmöglich zu praktizieren und sich dadurch Schritt für Schritt, Handlung für Handlung aus der Krise zu steuern.
Was brauchen Sie, um aus diesem Kapitel maximales Potenzial für Veränderung zu ziehen? Unbedingt die Erkenntnisse aus den ersten vier Kapiteln. Wir werden darauf immer wieder zurückkommen beziehungsweise darauf aufbauen. Dann braucht es noch ein wenig therapeutische Zuordnung, damit Sie das Konzept auch in seiner Unterscheidung oder Ähnlichkeit zu anderen Persönlichkeitstheorien verstehen.
Was ich Ihnen in diesem Kapitel vorstelle und dringlich als tägliches Werkzeug empfehle, kommt aus der sogenannten Inneren-Team/Ich-Anteile-Arbeit. Dieser Ansatz geht davon aus, dass wir alle unterschiedliche Ich-Anteile in uns tragen. Ich bin mal Autofahrer, mal Radfahrer, mal Fußgänger, mal Zugfahrer. Je nach Lebenssituation und sozialer Interaktion entscheide ich mich für eine Option. Wir sind Bruder, Schwester, Sohn, Tochter, Vater, Mutter, Freund, Freundin, Trauriger, Mutige, Zögernder, Waghalsige, Zuversichtlicher, Zweifelnde, Ängstlicher, Verspielte, Erstarrter, Fröhliche und so fort. Keiner dieser Ich-Zustände ist per se besser oder schlechter als der andere. Zentral ist nur der Wunsch oder die Hoffnung, dass ich in der jeweiligen Situation ideal die beste Rolle, den bestmöglichen Ich-Zustand wählen sollte und nach diesem handle. Aufgabe der Inneren-Team-Arbeit ist es, Sie bestmöglich darin zu unterstützen, Ihre Ich-Anteile in hoher Bewusstheit zu kennen und situativ Ihre jeweils besten Ich-Anteile zu aktivieren und danach zu handeln.
Auf die Frage »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?« ist die Antwort: »Ganz schön viele und alle immer wieder durcheinander.« Die meisten modernen Therapieformen arbeiten mit diesem Konzept von Inneren Teams oder Inneren-Ich-Anteilen. Die gesamte Innere-Kind-Arbeit basiert zum Beispiel auf dieser Annahme, und alle etablierten verhaltenstherapeutischen Schulen haben diese Idee in der ein oder anderen Form integriert.
Die Innere-Team-Arbeit ist – und das ist wichtig – ein Gegenentwurf zu der Idee eines wahren, starren Ichs. Also der Vorstellung, wir müssten nur lange genug über uns selbst nachdenken, nur lange genug in uns horchen, lange genug Erlebnisse unserer Vergangenheit aufarbeiten, um dann unsere verlässliche, wahre stabile Persönlichkeit in uns zu finden. Im Verständnis der Inneren-Team-Arbeit sind wir hingegen a) viele und b) flexibel und variabel.
Bringen Sie das bitte unbedingt und jetzt mit der Kenntnis Ihrer Neuroplastizität zusammen, und Sie halten den Schlüssel Ihrer inneren Freiheit, Ihrer psychologischen Flexibilität in Ihren Händen: Wir sind viele, und wir sind in der Lage, uns zu verändern. Veränderung ist leichter, als wir dachten, weil die guten, hilfreichen Anteile schon längst in uns sind. Wir haben aber bislang nie auf diese gehört, sind auf unserem Weg zur Wut oder Hilflosigkeit zu schnell an ihnen vorbeigeeilt oder wir schenkten ihnen keine Aufmerksamkeit. – Ändern Sie das von jetzt an und für den Rest Ihres Lebens. Alles, was Sie benötigen, um die Krise zu überwinden, ist schon in Ihnen. Sie müssen es nur aktiv ansteuern und leben.
Die ursprünglich beste Herausarbeitung dieser Inneren-Ich-Anteile stammt aus der Transaktionsanalyse. Einer therapeutischen Schule, die besonders in den Sechziger- bis Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts in den USA und Deutschland sehr prominent und erfolgreich war. Ich erwähne das an dieser Stelle, weil meine Darlegung zwar auf dieser Therapieschule basiert (indem ich unter anderem deren Begrifflichkeiten übernommen habe), ich dann allerdings deutlich anders damit arbeite, ganz andere Vorschläge mache und ein ganz anderes Handlungs- und Verhaltensmodell davon ableite. Falls Sie mit der Transaktionsanalyse vertraut sind, vergessen Sie bitte wieder alles, was Sie darüber wissen. Wenn Sie von der Transaktionsanalyse bis heute noch nie etwas gehört haben, ist das kein Problem und umso besser. Sie benötigen keinerlei Vorkenntnisse.
Das Modell, das ich Ihnen vorstelle, arbeitet mit drei Inneren-Ich-Zuständen. Es ist damit sehr übersichtlich und trotzdem extrem breit und tief in der Anwendung. Das Modell ist einfach in Ihr Leben zu integrieren und deckt doch, nach meiner Erfahrung aus über zwanzig Jahren Arbeit damit, das gesamte Spektrum menschlichen Verhaltens ab.
Die Ich-Zustände, mit denen wir starten, heißen Kinder-Ich, Erwachsenen-Ich und Eltern-Ich. Aus diesen drei Ich-Zuständen regeln Sie schon jetzt Ihr gesamtes Leben. Vielleicht aktuell unbewusst, nach der Lektüre dieses Kapitels ganz sicher in höherer Bewusstheit und ideal in deutlich höherer Flexibilität. Um im Kinder-Ich zu sein, müssen wir kein Kind sein, um im Eltern-Ich zu agieren, müssen wir nicht Eltern sein. Die Begrifflichkeiten sind eher assoziativ gemeint, und ich werde Ihnen im Laufe des Kapitels auch noch alternative Namen an die Hand geben. Sie können dann entscheiden, mit welchen Bezeichnungen Sie dieses Modell in Ihr Leben holen.
Wenn wir auf die Welt kommen, haben wir einzig das Kinder-Ich zu unserer Verfügung. Wir benötigen, um zu überleben, in den ersten achtzehn Monaten nach unserer Geburt unbedingt und mehr als jede andere Spezies ein wohlmeinendes, unterstützendes Außenmilieu, das sich um uns kümmert (Sie erinnern sich noch an meine Ausführungen hierzu im Kapitel »Vor der Geburt war es doch am schönsten …«). Und auch in den ersten zwei Lebensjahrzehnten danach oder für Ihre gesamte Lebensspanne ist es sehr hilfreich, wenn Sie ein wohlmeinendes, unterstützendes und loyales Außen haben, das Ihnen dabei hilft, Ihren eigenen Weg in die Größe und Vielheit Ihrer menschlichen Existenz zu finden. Nur wenn die Grundvoraussetzung eines wohlmeinenden, nährenden Außen durch eine Person oder ein System gegeben ist, können wir überhaupt im Laufe unseres Lebens das tun, was unsere eigentliche Bestimmung und Verpflichtung ist, nämlich alle drei Ich-Zustände zu leben und permanent die wechselnde Aktivierung der drei Ich-Anteile zu praktizieren. Als reifer, gewachsener Mensch sollte ich alle drei Ich-Anteile aktiv ansteuern können und darüber hinaus auch klug genug sein, in den unterschiedlichsten Situationen den jeweils richtigen, das heißt bestmöglichen Ich-Anteil anzusteuern.
Die drei Ich-Zustände sind einer permanenten Dynamik, einem anhaltenden Wechselspiel unterworfen. Manchmal wechseln wir von Minute zu Minute unsere Inneren-Ich-Zustände. Das kann falsch oder auch richtig sein. Das hängt von der jeweiligen Situation ab. Das Modell der drei Ich-Zustände ist also kein statisches Modell, und es gibt für keine Lebensphase oder Lebenszeit einen festen Ort, von dem aus Sie Ihr Leben, Ihre Herausforderungen, Ihre Krise, Ihre Aufgaben bestmöglich leben können. Sie müssen vielmehr permanent wach sein und sich und Ihre Position hinterfragen und Entscheidungen treffen, aus welchem Ich-Zustand Sie jetzt agieren wollen. Und das bringt dann zum Beispiel mit sich, dass das Kind in Ihnen zwar Heimat finden, im gleichen Moment aber frei und wild sein will. Während Ihr inneres wohlmeinendes Eltern-Ich oder Ihr Erwachsenen-Ich zur gleichen Zeit zu der Entscheidung kommt, dass Sie auf Ihr Inneres Kind in diesem Moment überhaupt nicht hören sollten und es besser an der Raststätte aussetzen. Oder Sie erleben, wie Ihr Erwachsenen-Ich Ihnen permanent einreden will, jetzt doch vernünftig und analytisch zu sein, während es viel klüger wäre, auf Ihr Kinder-Ich zu hören und eine Stunde schaukeln zu gehen, statt an einem sonnigen Sonntagnachmittag die Steuerunterlagen zusammenzustellen.
In Ihnen konkurrieren anhaltend diese drei unterschiedlichen Ich-Anteile um Ihre Aufmerksamkeit. Auch mit der Aufforderung »Gib mir die Kontrolle; lass mich mal machen, dann schaffen wir das schon«. Allein damit sind Sie im täglichen Leben schon ordentlich gefordert, weil Sie permanent innerlich eine bewusste Entscheidung fällen müssen, welchem Ich-Anteil Sie gerade die Regulation, Kontrolle, das Lenkrad für die jeweilige Situation übergeben. Meist passiert das jedoch unbewusst oder nach starren, etablierten, vorbewussten neuronalen und emotionalen Mustern. Sie werden gar nicht gefragt, welchem Ich-Anteil Sie sich anvertrauen wollen. Ihr lautester, schnellster oder vertrautester Ich-Anteil übernimmt einfach.
Wenn Sie sich die drei Ich-Anteile Kinder-Ich, Erwachsenen-Ich und Eltern-Ich genauer anschauen, werden Sie zudem feststellen, dass jeder Ich-Zustand eine positive und eine negative Variante hat. Ihr Inneres Team besteht entsprechend aus einem Positiven Kinder-Ich, einem Negativen Kinder-Ich, einem Positiven Erwachsenen-Ich, einem Negativen Erwachsenen-Ich, einem Positiven Eltern-Ich und einem Negativen Eltern-Ich.
Da ist ordentlich was los in Ihnen. Schon ohne Krise. In der Krise ist dann oftmals nur noch wildes Durcheinander. Sinn und Zweck dieses Kapitels ist es, dass Sie zukünftig von diesen Ich-Zuständen ein Bewusstsein haben und die Entscheidung, welchem Ich-Anteil Sie die Kontrolle oder die Handlungsvollmacht über eine aktuelle Lebenssituation geben, wirklich steuern können. Ihr Leben wird dadurch leichter. Und das ist unbedingt notwendig, um einen Weg aus der Krise zu finden.
Die drei Ich-Zustände dienen immer als Oberbegriffe und zur Orientierung. Erst bei der genaueren Unterscheidung sehe ich dann, ob ich mich gerade in der Unterkategorie der negativen oder positiven Form aufhalte.
Das Übersichtsmodell, mit dem ich arbeite, heißt mit dem Fokus auf diese Dreiheit deshalb »Die Triade der Inneren-Ich-Zustände«. Auf den kommenden Seiten werden Sie einige Variationen dieses Triaden-Modells kennenlernen. Ich werde am jeweiligen Modell Strukturen, Gefahren, Herausforderungen, Lösungen und Chancen für Veränderungen erläutern. Und damit Ihre Kompetenzen erhöhen, in der Krise gute Entscheidungen, hilfreiche Handlungen zu initiieren.
Bevor wir damit starten, noch ein kurzer Überblick über die Inhalte des menschlichen Verhaltens innerhalb der drei Ich-Anteile. Sie finden diese aber auch in den folgenden Grafiken wieder.
Was versteckt sich hinter diesen drei Ich-Zuständen? Wie, wer oder was bin ich, wenn ich in diesem oder jenem Zustand bin? Wie erlebe ich mich oder wie erleben mich andere?
Übersicht: Die drei Ich-Zustände in der positiven und negativen Ausprägung
Kinder Ich
Im Positiven Kinder-Ich …
bin ich frei, verspielt, kreativ, ungezwungen, leicht, neugierig, fantasievoll, humorvoll, hemmungslos, fröhlich, offen, spontan, leicht, im Hier und Jetzt, im Augenblick, im Flow.
Im Negativen Kinder-Ich …
bin ich klein, hilflos, ängstlich, traurig, allein, abhängig, antriebslos, gelähmt, aber auch wütend, trotzig, bockig, rebellisch, selbstzerstörerisch, ungesteuert negativ.
Eltern-Ich
Im Positiven Eltern-Ich …
bin ich fürsorglich, kümmernd, verlässlich, loyal, unterstützend, beschützend, tröstend, empathisch, hilfsbereit, schenkend, gebend.
Im Negativen Eltern-Ich …
bin ich strafend, rechthaberisch, von oben herab, herablassend, manipulativ, autoritär, bevormundend, rigide, dogmatisch, diktatorisch, unterdrückend, offen brutal.
Erwachsenen-Ich
Im Positiven Erwachsenen-Ich …
bin ich vernünftig, analytisch, sachlich, verantwortungsvoll, eigeninitiativ, kompromissfähig, der Situation entsprechend, zielbewusst, flexibel.
Im Negativen Erwachsenen-Ich …
bin ich zögerlich, zweifelnd, nachtragend, grübelnd, unverzeihlich, unversöhnlich, verbittert, rechthaberisch, gedankenfixiert, negativ, im Groll, in der Sorge, subtil grausam.
Wie gesagt, nach meiner Einschätzung deckt dieses Modell trotz seiner Übersichtlichkeit alles menschliche Verhalten ab. Vielleicht finden Sie noch das ein oder andere Wort, die ein oder andere Beschreibung, die für Sie auf der Liste fehlt, fügen Sie die gern hinzu. Die Liste ist lebendig und wird auch von mir immer wieder ergänzt und je nach Therapiekontext variiert.
Und noch etwas sehr Wichtiges. Sie fragen sich vielleicht: »Was meint er denn jetzt? Sprechen wir bei der Triade der Ich-Zustände davon, wie ich mich anderen gegenüber oder wie ich mich mir selbst gegenüber verhalte? Ist das ein Modell zur Regelung meiner Außenbeziehungen, wie ich mich anderen zeige? Oder ein Modell der Binnenregulation und wie ich mit mir selbst umgehe, mit mir selbst spreche?« Das Modell dient grundsätzlich beiden Zwecken. In anderen Kontexten nutze ich diese Darstellung (meist plus ein paar ergänzende Verhaltensbeschreibungen), um Verhalten und Kommunikation zwischen verschiedenen Menschen zu beleuchten. In diesem Buch mit dem Fokus Lebenskrise ist es aber das zentrale Modell, um Ihnen Ihre inneren Stimmen, inneren Entscheidungen, Gedanken, Gefühle aufzuzeigen und die daraus resultierenden Handlungen, die ja dann wieder Außenbeziehungen prägen. Es geht aber nicht darum, was andere sagen oder tun und was Sie dann in Reaktion darauf sagen oder tun. Das ist nämlich vollkommen egal. Denn gleich, was im Außen passiert: Sie können immer frei entscheiden, wie Sie darauf reagieren. Niemand zwingt Sie, nachtragend oder rechthaberisch zu sein, sich zu ärgern oder trotzig zu sein. Dafür entscheiden Sie sich ganz allein. Oder eben nicht.