Zehn kurze Unterbrechungen, die Ihr Leben immer wieder ein klein wenig besser machen, inklusive kurzer Erläuterungen, warum das so ist
Es wird Tage und Momente geben, an denen Ihnen alles zu viel wird. Die Gedanken kreisen und finden kein Ende, Ihre Emotionen überfluten Sie, alles scheint unmöglich, aussichtslos und unwiederbringlich verloren. Es gibt für solche Momente kein Patentrezept, keinen schnellen Weg in einen anderen positiven Zustand. Und doch gibt es unterschiedliche kleine Hilfen oder Strohhalme, die Ihnen zumindest ermöglichen, sich den Gedanken und Gefühlen nicht gänzlich hinzugeben, nicht im Strudel der Gedanken und Gefühle jede Zuversicht oder jedes Gefühl von Möglichkeit zu verlieren.
Setzen Sie Ihren Gedanken und Gefühlen die wesentliche Erkenntnis der ersten Kapitel dieses Buches entgegen: »Die Krise als Teil des Lebens wie auch mein spezifisches Erleben in der Krise sind normal. Im Moment der Krise gerät mein ganzer Organismus in einen körperchemischen Reiz-Reaktions-Strudel, bei dem ich nicht mehr sagen kann, wo Anfang und Ende liegen, was Gedanke, was Gefühl ist.« Aus dem vorherigen Kapitel ziehen Sie bitte die Option, dass Sie auch Staub saugen können, wenn es Ihnen schlecht geht, und dass solche Handlungen in Summe etwas Gutes haben, da Sie dadurch Selbstwirksamkeit und Stabilisierung spüren, auch wenn sie Ihre Krise damit vordergründig nicht lösen oder überwinden.
Eine weitere Option, zwischen Ihnen und Ihrem aktuellen Erleben eine Art kleinen Spalt zu öffnen, sich also aus der Ich-Verschmelzung deutlicher in die Selbst-Beobachtung zu führen, sind die sogenannten Notfallinterventionen, die ich Ihnen jetzt vorstellen möchte. Ziel dieser Interventionen ist es, im konkreten Erleben von Angst, Panik oder überbordender Trauer und Verzweiflung Ihrem Geist und Ihrem Körper mitzuteilen: »Wir sind mehr als unsere Angst, mehr als unsere Unsicherheit, mehr als unsere Panik, mehr als unsere Verzweiflung, mehr als unsere Trauer, mehr als die Krise.«
Es handelt sich dabei um kleine Sofortübungen, die einerseits eine physiologische/körperliche, andererseits eine psychologische/kognitive/gedankliche Unterbrechung Ihres Gedankenstrudels, Ihres Gefühlskarussells ermöglichen. Auch wenn diese Unterbrechung vielleicht nur wenige Sekunden oder Minuten hält, so ist sie doch wichtig und hilfreich, um unserem Körper und unserem Verstand ein klares Zeichen zu geben, sich darüber gewahr zu sein, dass wir mehr sind als die belastenden Gefühle und Gedanken. Und diese Erfahrung, mag sie auch noch so kurz sein, unterbricht den Autopiloten Ihrer Körperchemie, sorgt für weniger Adrenalin und Cortisolausschüttung, reguliert Ihre Herzfrequenz, Ihren Muskeltonus, deaktiviert oder relativiert im Gehirn die Angst- und Panikschaltungen im limbischen System und versetzt Sie dadurch in die Lage, weniger gefangen in Ihrem Gedankenkarussell, in Ihrem Katastrophen- und Krisendenken zu sein.
Sie werden sich vielleicht bei dem Gedanken ertappen, dass Sie die folgenden Übungen lächerlich finden. Sie haben eine Krise, Sie machen sich die Mühe, dieses Buch zu lesen, und einer meiner Vorschläge auf die Krise sind seltsam anmutende Sechzig-Sekunden-Mini-Übungen, die Sie bei der Lektüre wenig überzeugen. Aber wer genau findet diese Übungen eventuell unnötig? Ihr Verstand, Ihr innerer Kritiker, Ihr Abwehrer, Ihr rationaler Geist. Hören Sie in diesen Momenten nicht auf diesen Teil Ihres Verstands, sondern aktivieren Sie den offenen, neugierigen Verstand, der sagt: »Solange ich diese Übungen nicht zehn Tage am Stück wiederholt habe und in mein Leben integriere, kann ich nicht wissen, ob sie mich unterstützen, stabilisieren und mir helfen. Auch wenn die Übungen seltsam, klein oder lächerlich wirken: Aktuell bin ich in einer Krise, und ich möchte diese Krise überwinden. Was ich bislang weiß, ist, dass es mir nicht gut geht, dass ich nicht mehr weiterweiß, entsprechend will ich unterschiedliche Wege versuchen und schauen, wie diese Wege mich darin unterstützen. Ich will mich sowohl der Erkenntnis als auch der Erfahrung öffnen.«
Die Übungen in diesem Kapitel sind reine Erfahrungsübungen, im späteren Verlauf des Buches werden auch noch Erkenntnisübungen kommen. Vertrauen Sie Ihrer Bereitschaft, in die Erfahrung zu kommen, und gehen Sie beide Wege. Erfahrung führt zu Erkenntnis, Erkenntnis führt zu Erfahrung. Nur in der Gleichzeitigkeit geschieht notwendige Veränderung.
Ich stelle Ihnen sowohl physiologische/körperliche Unterbrechungen als auch psychologische/gedankliche Unterbrechungen vor. Sie können alle zehn Übungen in Ihren Alltag integrieren oder sich drei bis vier davon aussuchen. Jede Übung dauert maximal eine Minute. Sie können aber jede auch länger machen.
Zehn Interventionen im akuten Krisenerleben
Damit sind wir am Ende dieses Kapitels. Was ich mir von Ihnen wünsche: Üben Sie mit diesen Unterbrechungsübungen, spielen Sie mit den Interventionen. Die Kraft dieser Übungen liegt in der Erfahrung. Sie müssen diese also durchführen. Lesen allein genügt nicht. Nicht jede wird für Sie passend sein oder einen Unterschied machen.
Was ich aber ganz sicher weiß: Wir finden alle unser eigenes Set von drei bis vier dieser Übungen, die uns helfen, die uns unterstützen in den kritischen Momenten, wenn uns alles zu entgleiten scheint, wenn uns alles zu viel wird, zu mehr Ruhe, Zuversicht, Ausgeglichenheit zu finden. Auch wenn sich dadurch im Außen erst einmal nichts ändert, sorgen diese Übungen für innere Stabilität, indem jede auf ihre eigene Art von unserer Verschmelzung mit unseren negativen Gedanken, Gefühlen und Körperreaktion wegführt, dadurch ein anderes Erleben ermöglicht und uns immer wieder zeigt: »Ich bin mehr als meine negativen Gedanken und Gefühle.« Und auch wenn dieses andere Erleben dann nur fünf Minuten anhält, sind diese wenigen Minuten ein Geschenk und ein Segen im Sturm unserer negativen Gedanken und Gefühle. Nutzen Sie die Kraft dieser Übungen, integrieren Sie diese in Ihr Leben. Ihr Leben, wird es Ihnen danken. Denn nur aus dieser inneren Beruhigung finden Sie die Kraft und die Ideen für die notwendigen Impulse und Änderungen im Außen.
Im folgenden Kapitel werde ich Ihnen zwanzig Begrifflichkeiten und Begriffspaare in Ihrer Unterscheidung näherbringen, die für die Überwindung der Krise wichtig sind. Auf dieses Kapitel können und sollten Sie immer wieder zurückgreifen, wenn Ihnen im Verlauf des Buches der ein oder andere Begriff unklar ist. Das sind keine Fachbegriffe, sondern Alltagsbegriffe, die wir oftmals synonym nutzen (zum Beispiel Schmerz in der Unterscheidung zu Leid), die aber im therapeutischen Kontext der Krise und ihrer Überwindung, durch die Unterscheidung eine jeweils wichtige Differenzierung in Ihr Denken und Handeln bringen und Sie dadurch befähigt und stärkt, kompetenter mit der Krise und den Herausforderungen Ihrer Krise umzugehen.
Das Kapitel ist lang und herausfordernd. Machen Sie vielleicht jetzt eine Pause, üben Sie die Notfallinterventionen, und starten Sie das Kapitel »Eine Art Vokabeltest« ausgeruht, neugierig, bestmöglich aufnahmefähig und mit neuer Energie.