Kleine Notfallintervention

Zehn kurze Unterbrechungen, die Ihr Leben immer wieder ein klein wenig besser machen, inklusive kurzer Erläuterungen, warum das so ist

Es wird Tage und Momente geben, an denen Ihnen alles zu viel wird. Die Gedanken kreisen und finden kein Ende, Ihre Emotionen überfluten Sie, alles scheint unmöglich, aussichtslos und unwiederbringlich verloren. Es gibt für solche Momente kein Patentrezept, keinen schnellen Weg in einen anderen positiven Zustand. Und doch gibt es unterschiedliche kleine Hilfen oder Strohhalme, die Ihnen zumindest ermöglichen, sich den Gedanken und Gefühlen nicht gänzlich hinzugeben, nicht im Strudel der Gedanken und Gefühle jede Zuversicht oder jedes Gefühl von Möglichkeit zu verlieren.

Setzen Sie Ihren Gedanken und Gefühlen die wesentliche Erkenntnis der ersten Kapitel dieses Buches entgegen: »Die Krise als Teil des Lebens wie auch mein spezifisches Erleben in der Krise sind normal. Im Moment der Krise gerät mein ganzer Organismus in einen körperchemischen Reiz-Reaktions-Strudel, bei dem ich nicht mehr sagen kann, wo Anfang und Ende liegen, was Gedanke, was Gefühl ist.« Aus dem vorherigen Kapitel ziehen Sie bitte die Option, dass Sie auch Staub saugen können, wenn es Ihnen schlecht geht, und dass solche Handlungen in Summe etwas Gutes haben, da Sie dadurch Selbstwirksamkeit und Stabilisierung spüren, auch wenn sie Ihre Krise damit vordergründig nicht lösen oder überwinden.

Eine weitere Option, zwischen Ihnen und Ihrem aktuellen Erleben eine Art kleinen Spalt zu öffnen, sich also aus der Ich-Verschmelzung deutlicher in die Selbst-Beobachtung zu führen, sind die sogenannten Notfallinterventionen, die ich Ihnen jetzt vorstellen möchte. Ziel dieser Interventionen ist es, im konkreten Erleben von Angst, Panik oder überbordender Trauer und Verzweiflung Ihrem Geist und Ihrem Körper mitzuteilen: »Wir sind mehr als unsere Angst, mehr als unsere Unsicherheit, mehr als unsere Panik, mehr als unsere Verzweiflung, mehr als unsere Trauer, mehr als die Krise.«

Es handelt sich dabei um kleine Sofortübungen, die einerseits eine physiologische/körperliche, andererseits eine psychologische/kognitive/gedankliche Unterbrechung Ihres Gedankenstrudels, Ihres Gefühlskarussells ermöglichen. Auch wenn diese Unterbrechung vielleicht nur wenige Sekunden oder Minuten hält, so ist sie doch wichtig und hilfreich, um unserem Körper und unserem Verstand ein klares Zeichen zu geben, sich darüber gewahr zu sein, dass wir mehr sind als die belastenden Gefühle und Gedanken. Und diese Erfahrung, mag sie auch noch so kurz sein, unterbricht den Autopiloten Ihrer Körperchemie, sorgt für weniger Adrenalin und Cortisolausschüttung, reguliert Ihre Herzfrequenz, Ihren Muskeltonus, deaktiviert oder relativiert im Gehirn die Angst- und Panikschaltungen im limbischen System und versetzt Sie dadurch in die Lage, weniger gefangen in Ihrem Gedankenkarussell, in Ihrem Katastrophen- und Krisendenken zu sein.

Sie werden sich vielleicht bei dem Gedanken ertappen, dass Sie die folgenden Übungen lächerlich finden. Sie haben eine Krise, Sie machen sich die Mühe, dieses Buch zu lesen, und einer meiner Vorschläge auf die Krise sind seltsam anmutende Sechzig-Sekunden-Mini-Übungen, die Sie bei der Lektüre wenig überzeugen. Aber wer genau findet diese Übungen eventuell unnötig? Ihr Verstand, Ihr innerer Kritiker, Ihr Abwehrer, Ihr rationaler Geist. Hören Sie in diesen Momenten nicht auf diesen Teil Ihres Verstands, sondern aktivieren Sie den offenen, neugierigen Verstand, der sagt: »Solange ich diese Übungen nicht zehn Tage am Stück wiederholt habe und in mein Leben integriere, kann ich nicht wissen, ob sie mich unterstützen, stabilisieren und mir helfen. Auch wenn die Übungen seltsam, klein oder lächerlich wirken: Aktuell bin ich in einer Krise, und ich möchte diese Krise überwinden. Was ich bislang weiß, ist, dass es mir nicht gut geht, dass ich nicht mehr weiterweiß, entsprechend will ich unterschiedliche Wege versuchen und schauen, wie diese Wege mich darin unterstützen. Ich will mich sowohl der Erkenntnis als auch der Erfahrung öffnen.«

Die Übungen in diesem Kapitel sind reine Erfahrungsübungen, im späteren Verlauf des Buches werden auch noch Erkenntnisübungen kommen. Vertrauen Sie Ihrer Bereitschaft, in die Erfahrung zu kommen, und gehen Sie beide Wege. Erfahrung führt zu Erkenntnis, Erkenntnis führt zu Erfahrung. Nur in der Gleichzeitigkeit geschieht notwendige Veränderung.

Ich stelle Ihnen sowohl physiologische/körperliche Unterbrechungen als auch psychologische/gedankliche Unterbrechungen vor. Sie können alle zehn Übungen in Ihren Alltag integrieren oder sich drei bis vier davon aussuchen. Jede Übung dauert maximal eine Minute. Sie können aber jede auch länger machen.

Zehn Interventionen im akuten Krisenerleben

  1. Starten wir mit dem Atem: Legen Sie beide Hände auf Ihren Bauch, und nehmen Sie mindestens fünf tiefe Atemzüge in Ihren Bauch. Ein Atemzug besteht aus fünf Sekunden Einatmen, fünf Sekunden Atem halten und zehn Sekunden tiefem Ausatmen. Atmen Sie durch die Nase ein und durch einen gespitzten Mund aus. Falls Ihnen die Intervalle anfänglich zu lang sind, können Sie auch mit drei Sekunden Einatmen, drei Sekunden Halten und fünf Sekunden Ausatmen starten. Nach ein paar Tagen sollten Ihnen die längeren Intervalle gelingen. Ihre Hände bleiben während der gesamten Atemübung auf der Bauchdecke, und Sie spüren, wie sich Ihr Bauch maximal nach außen wölbt und dann wieder flach wird, wenn die Luft entweicht. Das Ganze wiederholen Sie mindestens fünfmal. Gern können Sie auch zehn oder fünfzehn solcher Atemzüge in Ihren Alltag integrieren. – Warum ist diese Übung so wichtig und so kraftvoll? Weil eine tiefe Bauchatmung ein Signal an jede einzelne Körperzelle ist, dass wir nicht in Gefahr sind. Umgekehrt führen uns Krisengedanken und Gefühle in eine flache Lungenatmung, da diese die bestmögliche Atemtechnik war/ist, wenn wir kämpfen oder flüchten müssen, also ein reale körperliche Gefahrensituation im Außen vorliegt. Sind wir entsprechend schon in Krisengedanken und Gefühlen, verstärkt unsere unbewusste flache Lungenatmung unser Krisenempfinden noch einmal. Eine tiefe Bauchatmung ist der zentrale physiologische Unterbrecher, um unseren körperlichen Krisenvollmodus aufzuweichen, zu unterbrechen. Unterschätzen Sie bitte die Kraft dieser Übung nicht, es gibt, so einfach sie ist, in der Krise keine stärkere und wichtigere Übung als diese.
  2. Jetzt eine psychologische/kognitive Unterbrechung: Rufen Sie sich ein inneres Bild wach. Ein Bild der Ruhe und der Sicherheit. Ein Bild von Heimat und Ankunft. Sagen Sie sich zum Beispiel: »Ich bin das Meer und nicht die Welle. Ich bin das tiefe blaue Meer, in seiner unendlichen Tiefe und Ruhe und nicht die Sturmwelle, die ich dabei beobachte, wie sie über mir vorüberzieht.« Oder: »Ich bin der Himmel und nicht die Wolke. Der unendlich blaue, sonnendurchflutete Himmel und nicht die Regenwolke, die ich beobachte, wie sie unter mir vorüberzieht.« Oder: »Ich bin ein mächtiger Baum mit stabilem Stamm, tiefen Wurzeln, flexiblen Ästen und rauschendem Blattwerk. Der Sturm, der um mich weht, ist nicht angenehm, aber er kann mir nichts anhaben, auch wenn ich Blätter oder Äste verloren habe, bin ich doch so viel mehr als nur ein Blatt oder ein Ast.« Oder: »Ich sitze am Fluss meiner Gedanken und Gefühle auf einer grünen Wiese und beobachte, wie die Gedanken und Gefühle vorüberziehen, aber ich springe nicht hinein in den Fluss dieser Gedanken und Gefühle.« – Entwickeln Sie gern ein eigenes inneres Bild, das Ihnen Ruhe, Sicherheit bietet, wo Sie einen Ort der Zuversicht haben. Aus meiner Praxis kenne ich viele weitere innere Bilder, die meine Klienten entwickelt haben. Seien Sie kreativ.
  3. Und jetzt wieder eine physiologische/körperliche Unterbrechung: Während Sie sich Gedanken, Sorgen machen und von negativen Gefühlen geflutet sind, fragen Sie sich bitte: »Was ist jetzt?« Antworten Sie aber nicht mit »Jetzt sind Sorgen, jetzt ist Angst«, sondern mit Körperwahrnehmungen. Also: »Jetzt höre ich einen Vogel«, »Jetzt juckt mein linker Ellbogen«, »Jetzt kommt mein Lieblingssong«, »Jetzt juckt mich mein Ohr«, »Jetzt sehe ich ein Auto«, »Jetzt ist mein linker Fuß mit seiner ganzen Sohle auf der Erde« … Hören, tasten, spüren Sie alle äußeren Reize, und benennen Sie diese eine Minute lang. Das können Sie zu Hause machen, im Zug, im Auto, auf dem Weg zur Arbeit oder beim Spaziergang. – Auch diese Übung dient, wie die Atemübung, der Wahrnehmung von Differenz. Ich durchbreche das Muster meines Krisenverstandes, der eine absolute Fokussierung auf die Krise vorschlägt und mich dadurch in eine Eindimensionalität meiner Aufmerksamkeit und Wahrnehmung führt. Doch auch in der Krise kann ich lachen, Musik hören, die Wärme der Sonne spüren, einen Kaffee genießen. Ich begreife, wenn auch nur für eine Minute, einen Atemzug, dass ich mehr bin als meine Krise, als meine Gedanken oder aktuellen Gefühle. Dass es eine weitere und weiter verfügbare Dimension meines Daseins gibt, die nicht von der Krise belastet ist. Diese Wahrnehmung, so kurz sie auch sein mag, ist wichtig und stärkt mich.
  4. Dann wieder eine kognitive Übung: Fragen Sie sich in der Beobachtung Ihrer momentanen Gefühle und Gedanken: »Ist der Gedanke, ist das Gefühl hilfreich, um das Leben zu leben, das ich mir wünsche?« – »Ist der Gedanke, das Gefühl hilfreich, dem Leben einen Schritt näher zu kommen, das ich mir wünsche? Hilft mir der Gedanke, das Gefühl, der Mensch zu sein, der ich gern sein möchte? Hilft mir der Gedanke, das Gefühl dabei, die Beziehungen zu anderen Menschen zu etablieren oder zu vertiefen, nach denen ich mich sehne? Die ich mir wünsche? Hilft mir der Gedanke, das Gefühl, mich mit denjenigen zu verbinden, die mir wichtig sind, oder mich mit demjenigen zu verbinden, was mir wichtig ist?« Sie können diese Frage beliebig kombinieren, variieren. Die innere Antwort, die jedoch immer aufkommen müsste, ist: »Nein.« Hören Sie auf dieses Nein. Das gedachte oder laut ausgesprochene Nein macht einen kognitiven Spalt in Ihnen, ist eine Art Unterbecher Ihrer negativen Gedankenschleifen und unterstützt Sie dabei, der Frage, was Ihnen denn jetzt nützen würde, besser auf die Spur zu kommen. Das Nein definiert eine Differenz, nämlich zwischen dem Automatismus Ihrer Gedanken und Gefühle, die uns in der Negativität, in der Lähmung halten wollen, und der Erkenntnis, dass diese Gedanken und Gefühle nicht hilfreich sind bei der Überwindung der Krise, uns nicht an einen besseren Ort, sondern an einen schlechteren Ort führen beziehungsweise uns verführen, dort zu bleiben, wo wir gerade sind, dies aber der Ort der Krise und der Verzweiflung ist. Lassen Sie entsprechend das erkennende Nein in sich nachklingen, sprechen Sie es laut aus, und lassen Sie es wirken.
  5. Und jetzt wieder eine physiologische Unterbrechung: sechzig Sekunden intensives Lächeln. Keine Sorge, ich möchte nicht, dass Sie lauthals lachen. Ich möchte, dass Sie Ihre Mundwinkel durch Ihre Gesichtsmuskeln so weit nach oben ziehen, wie es eben geht, und Sie in Ihren unteren Augenwinkeln Ihre Wangen sehen. Machen Sie diese Übung unbedingt ohne Spiegel, da wir ansonsten die sechzig Sekunden nicht schaffen, weil wir sehen, wie lächerlich wir dabei aussehen. Lachen an sich ist ein sozialer und empathischer Akt. Auch wenn Ihnen aktuell nicht nach Lachen zumute ist und ein richtiges Lachen den ganzen Körper erfasst, ist es doch sinnvoll, täglich ein paarmal für sechzig Sekunden die Mundwinkel maximal nach oben zu ziehen. Ähnlich wie durch die tiefe Bauchatmung signalisieren Sie Ihrem Körper und Ihrem Gehirn eine Aktivität, die im Widerspruch zu Ihren aktuellen Gedanken und Gefühlen steht, und sorgen dadurch für einen physiologischen Unterbrecher. Durch diese Übung werden immerhin um die zwanzig Gesichtsmuskeln aktiviert, die dem Rest des Körpers Wohlempfinden, Ankunft, Geborgenheit, Sicherheit, Offenheit signalisieren. Das Aktivieren dieser Muskeln sorgt automatisch für die Ausschüttung der Glücks- und Bindungshormone Dopamin und Oxytocin. Gleichzeitig wird das Stresshormon Cortisol abgebaut. Verpassen Sie diese Chance nicht, auch wenn Ihnen das beim Lesen absurd und kontraintuitiv vorkommt. Es muss Sie ja keiner dabei beobachten.
  6. Die folgende Notfallintervention ist wieder ein kognitiver Unterbrecher. Stellen Sie sich die Frage: »Was genau kann ich mir jetzt Gutes tun, damit es mir genau jetzt ein bisschen besser geht?« Achten Sie bitte darauf, dass die Frage nicht von der Lösung Ihrer Krise handelt. Es geht einzig darum, ob Ihr innerer Lebenswächter eine Idee hat, was Sie sich genau jetzt Gutes tun können, um Ihren aktuellen Zustand zu verbessern. An spontanen Antworten kann dann zum Beispiel kommen: ein Spaziergang, ein Glas Wein, ein Ausflug mit dem Fahrrad oder eine Spritztour mit dem Auto. Denken Sie dabei aber immer an die Unterscheidung von »Schmerz vs. Leid« und »Lebenswächter vs. Leibwächter« aus dem Kapitel »Eine Art Vokabeltest«. Ein Spaziergang kann Ihre Trauer-, Katastrophen- oder Krisengedanken verstärken, da Sie beim Spazierengehen noch intensiver in Ihren Grübelschleifen festhängen, auch Alkohol kann den Effekt haben, dass Sie sich dann nur noch hilfloser als zuvor fühlen. Entsprechend würde ich Ihre Fantasie bei dieser Frage gern in eine etwas andere Richtung locken wollen. Präziser müsste die obige Frage nämlich lauten: »Was genau kann ich mir jetzt Gutes tun, indem ich mich von meinen aktuellen Gefühlen und Gedanken ablenke, um mein negatives Gedanken- und Gefühlskarussell für eine gewisse Zeit zu unterbrechen, um mich von meinem eigenen Katastrophen- und Krisenmodus zu erholen? In den Begriffen der ersten Kapitel also das Krisenprogramm meines limbischen Systems im Gehirn als auch meine Körperchemie aus dem Teufelskreis heraushole, dass schlechte Gefühle schlechte Gedanken produzieren und schlechte Gedanken wieder zu schlechten Gefühlen führen. Und sich dadurch negative Gedanken und Gefühle immer gegenseitig hochschaukeln, bis ich ihnen hilflos ausgeliefert bin.« Falls Sie Meditationserfahrung haben: Meditieren Sie. Denn Meditation in ihren unterschiedlichsten Traditionen hat genau dies zum Ziel: Gedanken und Gefühle zu beruhigen, innere Stille und Ruhe zu erfahren und dabei innere Schönheit, innere Größe zu erleben. Falls Sie keine Meditationserfahrung haben, können Sie aber trotzdem etwas machen, was ich die »Meditation des Abendlands« nenne: Schauen Sie sich ein Fußballspiel an, schauen Sie sich einen Film an, treffen Sie sich mit Freunden und sprechen über deren Themen, powern Sie sich körperlich aus, lernen Sie eine Fremdsprache. Ich weiß, jeder Meditationslehrer wird jetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und mir widersprechen wollen, dass ein Fußballspiel anschauen und meditieren völlig unterschiedliche Dinge sind. Wie gesagt: Wenn Sie positive Meditationspraxis haben, meditieren Sie unbedingt. Für alle, die diese Erfahrung und Kenntnis aber nicht haben, möchte ich auf das Zielprinzip der Meditation hinaus: die innere negative Stimme, die Katastrophen- und Krisengefühle beruhigen, das Negativkarussell unterbrechen. Das alles kann Ihnen auch gelingen, wenn Sie sich von Ihren eigenen negativen Gedanken ablenken und Ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes konzentrieren. Beobachten Sie sich dabei, was Sie unterstützt, Ihre eigenen negativen Gedanken- und Gefühlsspiralen zu verlassen, zu vergessen, wenn auch nur für die Dauer Ihrer Ablenkungsaktivität. Es gibt Klienten, die beim Joggen ihre negativen Gedanken und Gefühle vergessen, andere steigern sich beim Joggen noch mehr in ihre negativen Kreisläufe hinein. Ähnlich bei einem klassischen Konzert: Die einen genießen das Konzert, die anderen sitzen in der Philharmonie und denken und fühlen derweil noch intensiver in ihre Krise und Katastrophe hinein. Sie kennen sich diesbezüglich am besten: Entscheiden Sie sich bei dieser kleinen Übung für eine Lebenspraxis, die Sie aus Ihrem Krisendenken und Fühlen herausführt und für die Dauer dieser Aktivität dieses Denken und Fühlen unterbricht. Sie schenken sich dadurch dreißig Minuten, sechzig Minuten, neunzig Minuten oder 240 Minuten Erholung von Ihrem inneren Krisenerleben. Und darum geht es. Auch wenn Sie damit die Krise an sich nicht bewältigen, sorgt eine solche Aktivität trotzdem dafür, dass Sie in eine bessere Gehirnaktivität und eine bessere Körperchemie kommen und Sie dadurch in die Lage versetzt werden, der Krise mittelfristig besser und produktiver beziehungsweise konstruktiver zu begegnen.
  7. Ihr Herz spüren und sehen. Legen Sie Ihre flache rechte Hand auf Ihr Herz, und spüren Sie die Herzschläge, die sich durch Ihre Rippen und Ihre Brust zeigen. Spüren Sie für eine Minute Ihr Herz. Sehen respektive visualisieren Sie Ihr Herz vor Ihrem inneren Auge. Entwickeln Sie ein Gewahrsein Ihres Herzens: »Ich bin mehr als mein Verstand und meine Gefühle. Ich habe ein pochendes Herz, das mich nährt und lebendig hält und mir mit seiner Kraft und Zuversicht jederzeit zur Verfügung steht, mich lebendig, energetisch und tätig hält, auch wenn meine Gedanken und Gefühle aktuell mir eine andere Geschichte zu erzählen versuchen.« Ihr Herz ist Ihr treuer, zuversichtlicher und neugieriger Begleiter, Ihre immerwährende Lebendigkeit über Ihre Lebensspanne. Ihr Herz ist immer für Sie da, arbeitet für Sie, und dieses Herz symbolisiert neben seiner reinen Funktion auch noch Ihre Potenziale des Menschseins, der Empathie der Güte und Weisheit jenseits von Kognition oder Emotion. Fragen Sie sich: »Wie geht es mir, wenn ich mich nur auf die Kraft und die Energie und die Stetigkeit meines Herzens konzentriere? Wenn ich mich ganz diesem pochenden Herzen anvertraue und mich von meinem Herzen und nicht von meinen Gedanken und Gefühlen leiten lasse?« Vertrauen Sie Ihrem Herzen, danken Sie Ihrem Herzen, und erleben Sie dabei, wie Ihre negativen Gedanken und Sorgen für diese Minute in den Hintergrund treten, da Sie sich mit Ihrer Lebendigkeit verbinden.
  8. Dem Verstand danken, aber nicht folgen. Diese Denkfigur ist Ihnen schon im Gehirn- wie auch im Gefühlskapitel begegnet: Hüten Sie sich davor, Ihre Gedanken und Gefühle in den Griff bekommen zu wollen. Negative Gedanken und Gefühle zu unterdrücken, nicht mehr denken oder fühlen zu wollen. Es wird Ihnen nicht gelingen. Diese Gedanken und Gefühle erfüllen eine wichtige Funktion, die evolutionär, neuronal, lebensgeschichtlich wichtig ist. Wichtig heißt aber nicht richtig. Sie können deshalb Ihrem Verstand, Ihren Gefühlen immer danken für die aktuellen negativen Gefühle und Gedanken und ihnen trotzdem nicht folgen. Sie sagen sich dann: »Danke, lieber Verstand, dass du mir negative Gedanken und negative Gefühle sendest, da du mich beschützen willst und grundsätzlich ein alter Angsthase und Katastrophenprophet bist. Aber diese negativen Gedanken und Gefühle sind gerade nicht hilfreich, um meine aktuellen Herausforderungen anzugehen. Sie dürfen gern da bleiben, aber ich werde ihnen nicht folgen. Und jetzt komm, und lass uns Gedanken darüber machen, wie wir die Krise überwinden können.«
  9. Vorauseilender gelungener Rückblick: Nutzen Sie die Imaginationslust Ihres Verstandes, der auch in der Krise auf Denkaufgaben konstruktiv reagiert, einfach weil unser Verstand auf jede Denkaufgabe reagiert. Stellen Sie Ihrem Verstand im konkreten Krisenerleben die Frage: »Wie würde ich auf die kommende Stunde meines Lebens in einer Stunde blicken, was hätte ich dann erlebt und gemacht, wenn diese Stunde eine gelungene und wunderbare, sinnvolle Stunde meines Lebens wäre, die mir hilft, meine Krise zu überwinden und/oder ruhiger, gelassener und zuversichtlicher zu werden?« – Sie springen also eine Stunde in die Zukunft und blicken auf die dann vergangene Stunde (die ja in der Realität noch vor Ihnen liegt) als eine gelungene Stunde zurück und beschreiben sich selbst, wie diese Stunde sinnvoll und gut gewesen wäre. Und zwar in Akzeptanz und Anerkennung Ihrer aktuellen Krise. Sie träumen sich also keine unrealistische Idealstunde zusammen, sondern denken darüber nach, wie diese kommende Stunde in Anbetracht Ihrer Krisensituation trotzdem bestmöglich und sinnvoll zu gestalten ist. Das können Sie auch mit einem ganzen Tag oder einer Woche machen. Dadurch eröffnen Sie sich selbst einen Möglichkeitsraum, diese Stunde, diesen Tag dann enger an das schon gedachte Gelingen zu koppeln und entsprechend auch durchführen zu können, als wenn Sie nur aus Ihrer negativen, belastenden aktuellen Selbstwahrnehmung der Gegenwart Sekunde für Sekunde nach vorn denken.
  10. Kraft einatmen – Belastung ausatmen. Und zum Ende noch einmal die Atemübung vom Beginn des Kapitels. Also wieder fünf Sekunden tiefe Einatmung in den Bauch, fünf Sekunden den Atem halten und zehn Sekunden ausatmen. Einatmen über die Nase, ausatmen über den Mund. Diesmal jedoch in der Variante, dass Sie beim Einatmen an die Energie denken, die Sie gerade benötigen (zum Beispiel Gelassenheit, Ruhe, Frieden, Zuversicht, Kraft, Durchhaltevermögen) und an diese Ressource beim Einatmen möglichst intensiv und »laut« denken, sodass Sie wirklich das Gefühl haben, dass Sie diese Energie mit jedem Atemzug über Ihre Nase in Ihren gesamten Körper aufsaugen und sie Ihnen dadurch als Ressource aktiv zur Verfügung steht. Und umgekehrt beim Ausatmen die Energie verabschieden, die Sie belastet (zum Beispiel Unruhe, Unsicherheit, Trauer, Angst, Panik, Hilflosigkeit). Auch diese Energie denken Sie bitte beim Ausatmen möglichst »laut« und intensiv in sich und spüren, wie sie über die zehn Sekunden des gründlichen Ausatmens durch Ihren Mund, über Ihre Lippen aus Ihrem gesamten Körper entweicht und sich im Raum, in der Luft auflöst und verweht. Auch diese Übung wiederholen Sie zehn- bis fünfzehnmal und integrieren sie in Ihren Alltag. Natürlich müssen Sie dann die Übung Nummer eins nicht noch machen. Ich erwähne nur beide Formen, damit Sie beide Optionen kennen und sich für eine Variante entscheiden. Die gerade vorgestellte ist die kraftvollere. In hoher Belastung gelingt uns aber vielleicht nur die erste Form, weil diese ohne die kognitive Ergänzung einfacher umzusetzen ist. Probieren Sie es immer wieder aus.

Damit sind wir am Ende dieses Kapitels. Was ich mir von Ihnen wünsche: Üben Sie mit diesen Unterbrechungsübungen, spielen Sie mit den Interventionen. Die Kraft dieser Übungen liegt in der Erfahrung. Sie müssen diese also durchführen. Lesen allein genügt nicht. Nicht jede wird für Sie passend sein oder einen Unterschied machen.

Was ich aber ganz sicher weiß: Wir finden alle unser eigenes Set von drei bis vier dieser Übungen, die uns helfen, die uns unterstützen in den kritischen Momenten, wenn uns alles zu entgleiten scheint, wenn uns alles zu viel wird, zu mehr Ruhe, Zuversicht, Ausgeglichenheit zu finden. Auch wenn sich dadurch im Außen erst einmal nichts ändert, sorgen diese Übungen für innere Stabilität, indem jede auf ihre eigene Art von unserer Verschmelzung mit unseren negativen Gedanken, Gefühlen und Körperreaktion wegführt, dadurch ein anderes Erleben ermöglicht und uns immer wieder zeigt: »Ich bin mehr als meine negativen Gedanken und Gefühle.« Und auch wenn dieses andere Erleben dann nur fünf Minuten anhält, sind diese wenigen Minuten ein Geschenk und ein Segen im Sturm unserer negativen Gedanken und Gefühle. Nutzen Sie die Kraft dieser Übungen, integrieren Sie diese in Ihr Leben. Ihr Leben, wird es Ihnen danken. Denn nur aus dieser inneren Beruhigung finden Sie die Kraft und die Ideen für die notwendigen Impulse und Änderungen im Außen.

Im folgenden Kapitel werde ich Ihnen zwanzig Begrifflichkeiten und Begriffspaare in Ihrer Unterscheidung näherbringen, die für die Überwindung der Krise wichtig sind. Auf dieses Kapitel können und sollten Sie immer wieder zurückgreifen, wenn Ihnen im Verlauf des Buches der ein oder andere Begriff unklar ist. Das sind keine Fachbegriffe, sondern Alltagsbegriffe, die wir oftmals synonym nutzen (zum Beispiel Schmerz in der Unterscheidung zu Leid), die aber im therapeutischen Kontext der Krise und ihrer Überwindung, durch die Unterscheidung eine jeweils wichtige Differenzierung in Ihr Denken und Handeln bringen und Sie dadurch befähigt und stärkt, kompetenter mit der Krise und den Herausforderungen Ihrer Krise umzugehen.

Das Kapitel ist lang und herausfordernd. Machen Sie vielleicht jetzt eine Pause, üben Sie die Notfallinterventionen, und starten Sie das Kapitel »Eine Art Vokabeltest« ausgeruht, neugierig, bestmöglich aufnahmefähig und mit neuer Energie.