Dach überm Kopf

JAHRE SPÄTER

Da ist er wieder. Da sitzt und wartet und guckt er. Magnus Simmering, ein Häufchen Hoffnung.

An jedem Donnerstag, nicht weit nach elf Uhr, taucht der Tallstedter Stadtschreiber in der Bibliothek auf. Mit seinem hellen Hut für jedes Wetter. Eine dünne nachgebräunte Ledertasche unterm linken Arm, stößt Simmering die Glastür mit den durchgestreckten Fingern der Rechten auf, lächelt heller als Halogen und würde diesen Auftritt wohl selbst als ›recht schwungvoll‹ bezeichnen. Auf der Schmutzfangmatte bleibt er stehen, um eng am Körper die freie Hand zu heben, und friert so Gruß und Lächeln ein, bis Katja Schumann hinter ihrem Schreibtisch den Blick hebt.

»Guten Morgen«, sagt sie.

»Da bin ich ja!«, trällert Simmering, schreitet auf sie zu und reckt seine Aktentasche in die Luft, als bringe er Katja wie versprochen die Weltformel vorbei. Nimmt eilig Platz auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch, lässt die Verschlüsse seiner Tasche aufschnappen und zieht eine Textseite hervor, um sie Katja zu übergeben.

Und wartet und guckt. Wartet, dass sie liest und lobt, was er geschrieben hat für seine wöchentliche Kolumne im Tallstedter Tageblatt, immer samstags, den ganzen Sommer, zweispaltig neben dem Lokalsport, meistens Handball.

 

Sobald die Begrüßungsreden auf und von Simmering gehalten und die Häppchen hereingerollt waren, stellte sich Katja vor und lud den neuen Stadtschreiber wie alle seine Vorgänger zu einem Besuch der Stadtbibliothek ein, wo sie, selbstverständlich, alle seine Werke ausleihbar präsent habe – wenn die lesenden Bürgerinnen von Tallstedt sie nicht momentan, selbstverständlich, allesamt entliehen hätten.

Simmering schüttelte Katjas Hand, als wolle er die Beweglichkeit von Arm und Schulter einem Härtetest unterziehen, und machte ihr das nicht abzulehnende Angebot, gleich am nächsten Tag zwei weitere Exemplare seines aktuellen Romans für die Stadtbibliothek vorbeizubringen, als Schenkung:

»Persönlich, frühzeitig und mit Vergnügen.«

»Das ist sehr nett«, sagte Katja.

»Aber das sind Sie ja auch«, entgegnete Simmering. »Ich komme um acht Uhr dreißig.«

Die Bücherübergabe am nächsten Morgen, als Katja das

»Das ist für Sie, Frau Schumann«, waren seine Worte, »das ist für Ihre Stadt und Ihre … Ihre Entleiherinnen und Entleiher.«

»Vielen Dank. Darf ich Ihnen vielleicht einen Kaf–«

»Signiert«, unterbrach er, »ich habe beide Exemplare noch gestern Abend signiert. Hoffentlich werden sie sehr oft entliehen. Gerne, mit Milch und Süßstoff.«

 

Seitdem tummelt Simmering sich regelmäßig zwischen den Regalen, zumeist in der Abteilung Küstenbücher, und lehnt nie den Kaffee ab, den Carolin oder Katja ihm anbieten. Wenig Milch, viel Süßstoff, von Zeit zu Zeit ein mürber Keks.

Er recherchiere für sein neues Buch und für die obligatorische Kolumne in der Lokalzeitung, hat Simmering erklärt und kam schon bald auf die Idee, auch einmal über die Bücherei selbst, »diese Schatztruhe für Groß und Klein«, zu schreiben. Ja, was ihm vorschwebe, sei »so ein lustvoller Wochenendtext über den schönen Bestand und die sch-«, er räusperte sich ruckartig, »über die kundige Bibliothekarin«, ja, das wolle er gern schreiben, und selbstverständlich werde er es nicht ohne deren Einverständnis an den Redakteur geben.

»Oh«, hat Katja gesagt. »Nein?«

»Nein! Wenn ich über Sie schreibe, Frau Schumann, sollten Sie doch Gelegenheit haben, meine Buchstaben unter die Lupe zu nehmen, bevor sie gedruckt werden.«

Und weil Katja nur mit geschlossenem Mund nickte, setzte Simmering hinterher:

»Das sollten Sie.«

Wie oft haben Katja und Carolin seitdem gemeinsam zu rekonstruieren versucht, was genau Katjas Kommentar zu Simmerings Zeilen gewesen ist, welche ihrer Formulierungen im Besonderen es ihm derart angetan hat, dass er seither, im ganzen herrlichen Sommer, jeglichen Verbesserungsvorschlag mit ungebrochener Begeisterung annimmt.

»Was du gesagt hast, ist egal«, hat Carolin mit einem Zwinkern behauptet, »aber wie du es gesagt hast …«

»Wie? Wieso wie? Ich hab ganz höflich irgendwas von ›originell‹ gesagt …«

»… ich hab ›originär‹ verstanden …«

»Nee, Caro. Echt? Jedenfalls fand ich’s ja auch schon ziemlich auf den Punkt, aber da–«

»Punktlandung! Du hast behauptet, der Einstieg wär ’ne ›Punktlandung‹, aber der Mittelteil …«

»Weiß ich nicht mehr. ›Kryptisch‹?«

»Dachte ich auch, aber er meinte ja, ›unnötig elliptisch‹, das wäre das beste Feedback, seit seine erste Lektorin gestorben ist, oder?«

»Du meinst, der verwechselt mich mit einer toten Lektorin?«

Lachend schüttelte Carolin ihre perfekte Frisur.

»Lange nicht beflirtet worden, Frau Diplom-Bibliothekarin?«

»Ach komm, Caro, du glaubst nicht ernsthaft, dass der Typ flirtet!«

»Ich nicht. Er schon.«

»Vor allem, Katja, er ist … hehe, er ist doch kein Typ, er ist, uhuhu, er ist doch – der Zauberer.«

Zwar hat der Tallstedter Stadtschreiber mit Thomas Mann nicht allzu viel gemeinsam, doch Carolin als Aufmunterungsbeauftragte schickt öfter mal das montierte Foto als Mailanhang an ihre Chefin, mit der Bildunterschrift Bei der Geburt getrennt: Thomas Mann, das Original, im kalifornischen Garten, beinahe verschmitzt, vor den Palmen leuchtet sein Hut; und daneben Magnus Simmering, siebzig Jahre später, vor der Kulisse des grünen Deiches von Tallstedt, auf seinem Kopf ein Borsalino aus Panamastroh, so weiß wie das weißeste Ei.

Magnus Simmering. So viel Inbrunst unterm Strohhut, so viel unverstellte Leidenschaft für die Bücher und die Buchmenschen. Katja mag ihn, wie sie Spargel mag.

 

Nun, da der Juli schon seine heiße Mitte erreicht hat, ist Schreiber Simmering mit ungewohnt verstockter Miene erschienen und legt mit dem knappsten Gruß seit Amtsantritt einen Text vor, der die Überschrift DIE NATUR DER WÜRSTE trägt:

 

In Tallstedt, hoch im Norden, schauen die Menschen auf ihren Fluss, seit Wasser fließen kann. Alle gärtnern und parken hier vorbildlich ausgeglichen. Sie atmen tief, sie leben gut, sie entscheiden schnell.

Klarer als die Luft, hat mal ein trefflicher Tourist gesagt, sind hier oben nur die Verhältnisse. Und klar war immer schon: Kultur schadet uns nicht, Natur ist uns alles. Besser als drinnen sitzen ist von alters her: draußen grillen, solange es noch schön ist.

 

»Das ist«, erläutert Simmering, indem er beide Arme wie Baggerschaufeln zur Untermalung benutzt, »eine Spitze.«

»Sie meinen, eine Breitseite?«

»Eine Spitze be zett we eine Breitseite. Sie treffen es, wie üblich.«

»Sie … sind enttäuscht, weil bei Ihrer Lesung letzte Woche drei oder vier Plätze frei geblieben sind?«

»Drei od–? Zwölf! Frau Schumann!«

Seine Stimme überschlägt sich beinahe, Katjas Blick huscht zu den tuschelnden Viertklässlern, die Carolin gerade durch die Abteilung mit den Naturbüchern führt.

»Herr Simmering. Ach je …«

Niemals in tausend Jahren hat ein Mann einen Fuß in diese schnell zu vermessende Stadt gesetzt, der ›be zett we‹ sagt anstatt beziehungsweise; nie hat einer einen so weißen Hut bei jedem Wetter durch die kurzen Straßen von Tallstedt getragen; nie hat jemand eine so sommerliche Fülle an Worten gefunden für die Schönheit des Lebens zwischen Kirchturm und Hafen. Dieser Dichter will bester Freund von Fluss und Einwohnern sein, will für ihre gute Luft die besten Vokabeln finden. Und nun das. Zwölf unbesetzte Plastikstühle.

Die Tallstedter, die Simmerings Texte lesen, grüßen ihn beim Einkaufen und besuchen seine Lesungen, wenn das Wetter mitspielt – was hier bedeutet, dass der Regen stärker als der Wind ist. Sollte es allerdings am frühen Abend noch warm genug sein, um im T-Shirt zu grillen, dann tun einige mitunter spontan genau das. Aufgeschlagen auf dem Gartentisch, neben Hüftsteaks, Bügelflasche und Fladenbrotachteln, liegt die Tallstedter Zeitung vom Tage: das Interview mit dem Autor, die Ankündigung seines Auftritts, darunter jedoch vier knappe Zeilen mit ein paar bunten Symbolen und den Wetteraussichten für die

Irgendwie schafft es Katja, Herrn Simmering zu besänftigen. In der dritten Überarbeitung kurz vor Redaktionsschluss ist aus der gekränkten Tirade ein tiefes Loblied geworden auf Holzkohlen, die langmütig glühen, und auf die Halme von frischgemähtem Rasen zwischen nackten Zehen, großen wie kleinen.

Spontan sein, so schließt die Kolumne vom 16. Juli, das ist Drama, das ist Leidenschaft. Carpe diem übersetzen wir hier mit: Auf, Freunde, da ist noch Sonne im Garten! Und sind die Bücher nicht ohnehin schon so staubig, wie auch wir es eines Tages sein werden? Wir können sie doch niemals alle lesen oder uns vorlesen lassen in der Zeit, die uns bleibt. Seien wir nur gewiss: Sie sind auch morgen noch da, im wetterfesten Regal unserer guten Vorsätze, wenn der Wind aus Nordwest schlechtes Wetter zu uns trägt und der Rost nicht mehr glüht wie Würmchen und Geselligkeit.

 

In den folgenden Wochen ignoriert Katja höflich, dass Simmering flirtet, und fühlt sich glaubwürdig geehrt, vorab lesen zu dürfen, was er im Tageblatt und später in Buchform zu veröffentlichen gedenkt. Als Ablenkung ist der Dichter ihr durchaus lieb und willkommen.

Den Höhepunkt des Kultursommers bildet das Bücherfest im September, bei dem auch die Stadtschreiberin oder, wie in diesem Jahr, der Schreiber eine Abschlusslesung hält. Unter dem großen Zeltdach, das Malte Dock und sein Team am Seeufer aufgespannt haben, versammelt sich alles, was Funktion und Bedeutung hat. Simmerings Tallstedter Leserschaft ist so vollzählig wie gespannt angetreten, um zu hören, zu welcher Erzählung, zu welchem Romananfang das Stipendium und der Charakter der Stadt den Autor inspiriert haben.

Weil sie den Text schon bis zum letzten Semikolon kennt, schweifen Katjas Gedanken während der Lesung immer wieder ab. Sie beobachtet, wie interessiert alle zuhören, entdeckt in der Menge die guten Bekannten. Mit einem vertrauten Nicken grüßt sie Steffen Harms am Büchertisch, der albern einen Luftkuss zurückwirft, unbemerkt von seinem Azubi Bastian Gerster, der Magnus Simmerings sämtliche Werke mit Preisaufklebern versieht. Weiter hinten neben Menno und Doro Sievers kleben Imke, Steffi und noch ein paar aus ihrer Abschlussklasse wie eh und je tuschelnd aneinander; die Floristin und der Steinmetz müssen noch beim Friseur gewesen sein, echt schick, Stadtdirektor Kuntze ist brauner als ein Fachwerkbalken, Katjas Mutter hat ihre Sonnenbrille nicht abgenommen, Kollegin Carolin nestelt am Halstuch ihrer Freundin, und Hartwig Gerster niest seine Gräserallergie so leise wie nur möglich heraus.

Einige Reihen weiter vorn, neben Olaf und Annika Berthold, sitzt Jan neben Anna, beide so sommerhell und modisch wie eine Plakatwerbung, als hätte man das Paar aus dem Hafen von Marbella ausgeschnitten. Sie gehören zusammen, verrät Jans Arm um Annas Schulter, sehr zusammen, sagt ihre Hand auf seinem Knie.

Gibt Schlimmeres, denkt Katja, während Simmering am Kapitelende, nach einem perfekt platzierten Satz über die lauten Wasser der Sturmflut, das stille Wasser vom Lesepult in einem Zug leert, woraufhin die Bürgermeisterin persönlich in gebücktem Gang umgehend nachfüllt.

Applaus brandet auf im Festzelt, Simmering muss wohl ans Ende gelangt sein, aber wieso starren dann alle Leute sie an? Katja will selbst ins Klatschen einfallen, hebt den Blick zur Bühne, da steht der Stadtschreiber an dem wackeligen Treppengeländer und streckt die Hand aus, als wolle er die Bibliothekarin zum Tanz bitten.

»Frau Schumann?«, sagt Magnus Simmering mit seinem lyrischen Bariton, »Madame? Ich hab Sie doch nicht verschreckt mit meiner Bitte? Seien Sie doch so gut und kommen für einen Moment auf die Bühne.«

Nun, da die Leute zu klatschen aufhören, spürt Katja, wie sie rot geworden ist, während ihr die Sorge durch den Kopf schießt, für einen solchen Strauß überhaupt keine Vase im Haus zu haben. Dann beginnt Simmering, indem er sowohl Katja als auch sein Publikum im Blick behält, zu sprechen:

»Meine Damen und Herren, Frau Bürgermeisterin. Ich habe mir erlaubt, zum Ende dieses Abends, dieses Kultursommers, meines Aufenthalts in Ihrer Stadt unter allen Buchfreundinnen und Buchfreunden in diesem luftigen Saal eine auf dieses rüstige Podest zu bitten, die mir in den letzten Monaten meines Schaffens zur Seite stand, unschätzbar zur Seite stand.«

Er macht eine Pause, atmet und schaut, atmet und schaut.

»Katja Schumann, Ihrer aller, Tallstedts – und ich darf sagen, einen Sommer lang auch meine – Diplom-Bibliothekarin hat die Zeit gefunden und die Güte besessen, jede einzelne Zeile, die ich seit Mai zu Papier gebracht habe, sei es Kolumne, sei es Romankapitel, zu lesen und«, er hielt inne, »mir ihre Meinung zuteilwerden zu lassen, die ich nicht anders als ehrlich, kundig und wertvoll nennen kann, ungemein wertvoll, ungemein.«

Stadtdirektor Kuntze beginnt schon mal zu klatschen, doch Simmering ist noch nicht fertig: »Schreiben mag leichtfallen, wenn der Nordwind lau durch die Gedanken rauscht, aber selber zu lesen, was man da fabriziert hat … Nein, seien Sie

Katja fühlt sich zunehmend unwohl in ihrer Haut, möchte sich an den Bühnenrand schleichen, doch in diesem Moment spricht Simmering sie direkt an, weich, aber volltönend.

»Sie, liebe Frau Schumann, sind mir Korrektiv und Leitplanke gewesen, gleichermaßen zauberhaft.«

Aus dem Augenwinkel bemerkt Katja, wie Carolin sich in die Hand beißt.

»Sie haben mir, was in Texten stehen sollte und was nicht, was diese Ihre Heimat gut und was sie weniger gut beschreibt, geduldig dargelegt. Ungemein. Ein Tallstedter Buchmensch schlechthin, das sind Sie.«

Gegen das Erröten hilft jetzt gar nichts mehr, da muss sie durch, verstohlen mustert sie das Publikum auf Fremdscham. Und in dem Moment, als Simmering wie Martin Luther King in den Saal ruft: »Katja Schumann ist aus Tallstedt nicht wegzudenken!«, da schaut Katja zu ihrer ersten größten Liebe hinab, zu dem Mann, von dem sie bald geräuscharm geschieden sein wird: Jans Arm immer noch auf Annas Rückenlehne, die andere Hand jedoch, genau wie Annas – auf ihrem Bauch, flach und behutsam. Nasenspitze an Nasenspitze lächeln sie sich zu.

»… kann ich im Interesse meiner Nachfolger nur appellieren«, fährt Simmering fort, »passen Sie gut auf Ihre unverzichtbare Bibliothekarin auf! Stadterklärerin, Fehlerfinderin und darf ich sagen: Lieblingsleserin? Nun denn, dieses Wunderwerk der guten Frau Börner«, er nickt der Floristin zu, »sei Ihnen, liebe Frau Schumann, ein blühendes Dankeschön von einem dankbaren Tallstedter Stadtschreiber.«

»Wie froh ich bin, dieses Amt in einer Zeit bekleiden zu dürfen, in der ich Ihnen gefahrlos die helfende Hand schütteln kann. Frau Schumann, vielen Dank«, er macht eine halbe Drehung zum Bühnenrand, »liebe Menschen von Tallstedt: Es war mir Ehre und Freude.«

Und da niemand sich traut, mit dem Klatschen zu beginnen, fragt er mit ausgebreiteten Armen:

»Ja, will denn niemand das Buffet eröffnen? Ich habe massiv überzogen, Sie müssen umkommen vor Hunger!«

 

In Frau Börners großem Eimer wartet der Riesenstrauß am Seiteneingang auf das Ende der Veranstaltung. So viele Hände sind zu schütteln, so viel Smalltalk liegt zwischen Katja und der festen Nahrung. Ständig drückt ihr einer ein Glas mit Geprickel in die Hand, möchte wissen, wie sie bloß diesen Mann beziehungsweise seine Werke habe verbessern können, ob sie denn mit der Büchereileitung unterfordert sei und wer eigentlich im nächsten Mai als Stadtschreiber in das Gutshaus am Deich einziehen werde: weiblich, prominent, interessant?

Katja nickt und plaudert und lacht, vor allem aber nippt sie und ignoriert eine volle Stunde lang das fordernde Knurren ihres Magens. Immer prostet irgendjemand ihr zu, am Rande nimmt sie wahr, wie ihre Mutter sich verabschiedet, wie Magnus Simmering jedes Buch unendlich gründlich signiert, wie Jesus von Steine-Jochen ein Schulterklopfen für die stimmungsvolle Location kassiert. Als ihr schon leicht übel geworden ist und endlich, endlich niemand mehr zwischen ihr und dem Weidenkorb mit Minibrötchen steht, hält sie darauf zu, streckt die sektflötenfreie Hand nach der Zange voller Fingerabdrücke aus – und rennt jemanden über den Haufen, der, da

»Oh!«

»Ups!«

Seinen Teller hat er noch in der Hand, es liegt nichts mehr drauf. Ein Falafelbällchen ist auf die Schuhspitze des Mannes gestürzt, hat sich auf den Holzbohlen abgerollt, um zwischen Katjas Füßen liegen zu bleiben, von Staub paniert. Auf dem hellblauen Hemd bildet eine Mischung aus Currycreme, Schnittlauch und einem Feldsalatblatt, von dem Dressing trieft, einen satten Fleck.

Katja starrt ihn an, den Fleck, wundert sich beim Anblick des Männerbauches, der sich darunter abzeichnet, dass ihr selbst auch um diese Uhrzeit noch gar nicht kalt ist, und erfasst dann das Gesicht, das zu Teller, Fleck, Bauch und Mann gehört.

Ihr Verstand arbeitet scharf wie Crémant: Sie hat diesen Mann, den sie nicht kennt, schon mal gesehen.

»Tut mir leid mit dem …«, und ihre Augen verengen sich zu einem Schlitz. »Wir kennen uns nicht, aber ich hab Sie schon mal gesehen.«

Der Mann, der recht angenehm gealtert wirkt, runzelt die Stirn, nicht ganz symmetrisch, sein Bart scheint beim Denken zu knistern, dann sagt er:

»Ja! Stimmt! Aber wie-«

»Aaah, Moment!«

Ohne Vorwarnung greift Katja dem perplexen Mann an den Hemdkragen und klappt ihn mit zwei schnellen Handgriffen nach oben.

»So haben Sie ausgesehen! Der Mantel. Wo ist denn der schicke Regenschirm, den Sie mir damals weggekauft haben?«

Er ist einen halben Schritt zurückgewichen, der aufgestellte

»Wieso«, fragt er, »wieso können Sie sich daran erinnern?«

»Pöh, Sie erinnern sich doch auch!«

Den Rest des halbvollen Glases leert Katja, als wäre sie nicht hungrig, sondern durstig zum Buffet gestürzt.

»Ach so, ja. Also: Tut mir leid mit dem Schirm, den Sie wollten!«

»Okay, dann tut’s mir leid mit dem, was Sie essen wollten.«

»Martin von Campen.«

»Katja Schumann.«

»… unverzichtbare Bibliothekarin.«

»O Gott«, sie schlägt beschämt die Augen nieder, »ja, das … das war …«

»Das war sehr freundlich von dem Autor. Vermutlich angemessen, offensichtlich pathetisch, aber definitiv freundlich.«

Martin von Campens Lächeln, findet Katja, ist irgendwie gut auf seinen Bartschnitt abgestimmt.

»Ja? Ja, oder?«

Sie drückt den Rücken durch, ist bis auf den Zentimeter so groß wie von Campen.

»Fand ich auch, irgendwie. Und Sie sind … Sind Sie ein Fan von ihm oder …?«

Er hat eine Lücke neben den Lachshäppchen gefunden, um den Teller abzustellen, und schiebt nun überraschend diskret eine Serviette zwischen Haut und Hemd.

»Nee, Literatur ist nichts für mich, aber ich hatte gehört, das Buffet soll hier sehr gut sein.«

»Echt? Oh, sorry, und ich hab Ihnen den ganzen Salat da …«

»Das, äh, war nicht ernst gemeint, Frau Schumann. Ein … ein Scherz.«

»Ach so? Aah, ich glaube, ich hatte schon mehr hiervon«, sie

»Ich bin eigentlich geschäftlich in Tallstedt«, erklärt von Campen.

Katja lacht auf, am Mousse-au-Chocolat-Tablett drehen sich einige Leute aus dem Tennisclub um.

»Geschäftlich? In Tallstedt? Da haben Sie sich verfahren, hier gibt’s keine Geschäfte. Oder – das heißt, doch, aber die Geschäfte machen die da ganz alleine.«

Sie deutet auf die Dock-Brüder, an die Bühne gelehnt, im Gespräch mit Bürgermeisterin und Stadtdirektor.

»Ja, der Herr Dock, genau, mit dem hab ich … Also, ich wollte vor ein paar Jahren ein bisschen was investieren, da hatte Herr Dock eine schöne Wohnung, gleich da drüben, mit Loggia und Seeblick, und ich war wohl auch eigentlich auf Platz eins der Warteliste, aber dann hat irgendwas gehakt.«

»Ge…hakt?«

»Ich hab’s nicht ganz durchschaut, da ist wohl immer ein Passus irgendwo in der Ausschreibung, dass bei Neubauten die Tallstedter eine Art Vorkaufsrecht haben.«

»Ich … ja? Also, ich bin mit Immobilien nicht so – meinen Sie, es gibt noch Brötchen irgendwo?«

Sie finden Brötchen und ein ganz neues Gesprächsthema, und dann noch eines und zwei weitere, auch Falafelbällchen, unversehrten Feldsalat und Schinkenmelone. Sie steigen auf Rosé um, ihr Sohn will Virologe werden, seine Tochter nach Australien, und reden trinkend und trinken redend inmitten all der spätsommerlich entspannten Menschen. Nach einer Weile stellt sich Magnus Simmering zu ihnen, prostet beiden zu, und Katja sucht in den träger gewordenen Gedanken dieses Abends nach dem, was sie dem Stadtschreiber unbedingt noch

»Mein lieber Herr Simmering!«, der Name hat eine Silbe an den Wein eingebüßt, »wegen dem, was Sie vorhin … Sie meinten, ›unverzichtbar‹ oder so, ja?«

»Aber ja, Frau Schu–«

»Nee, jetzt lassen Sie mal kurz, sonst weiß ich wieder nicht – ich wollte das nämlich – ›nicht wegzudenken‹, sooo, das haben Sie gesagt: Frau Schumann ist hier nicht wegzudenken!«

Ihre Stimme hat etwas Fahrt aufgenommen, ein paar Gäste unterbrechen ihr Gespräch, was Katja bemerkt.

»Ich wollte das noch mal … das können ruhig alle …«

Sie nimmt Simmering seinen Signierfüllfederhalter ab, klopft damit gegen ihr Weinglas, reicht ihn dann an von Campen weiter und hüstelt mit einem Hickser.

»Ähm, hallo, darf ich mal kurz? Ja? Weil der Herr Simmering das vorhin so nett gesagt hat, und die Blumen sind echt schön … Nee, was ich sagen will, als ›Tallstedter Bücherfrau‹ quasi: Ich bin ja schon mein ganzes Leben hier, ich hab so viele Bücher ausgeliehen damals und verliehen dann später an euch und eure Kinder und so, und ich selber, ich hab bei dir, Steffen, ganz viele Bücher und Buchtipps gefunden, die hab ich gern weitergereicht.«

Sie prostet Steffen Harms zu.

»Alter Bücherfreund! Danke für alles, echt! Und ich – nee, nicht klatschen, sonst bin ich raus! – also, hier war jedenfalls immer mein Zuhause, irgendwo zwischen Bücherei und Tennisplatz. Das ist so komisch: Ich kenne hier quasi alles und jeden – also bis auf Herrn … Martin hier, den kenne ich erst

Katja lässt ihr Glas sinken, schaut sich unter den Anwesenden um, es ist ein harter und guter Kern von Tallstedt-Menschen, denen sie das sagen möchte:

»Ich bin wegzudenken. So. Keine Ahnung, für wie lange, aber: Ich bin so was von wegzudenken. Ich bin hier … immer hier gewesen, meine ich, außer im Studium, und jetzt ist es Zeit für was Neues. Zeit zum Wegdenken, sozusagen. Weil … die Heimat geht ja nirgendwo hin. Und was machen wir? Tja …«

Es scheint, als horche sie für einen Moment in das Festzelt, ob sie noch eine letzte Pointe hätte. Dann hebt sie die Arme, will vielleicht alles umfangen und anschließend wegfliegen.

»Aber hey: Prost! Auf gute Zeiten, oder? Und, ui, und jetzt muss ich nach Hause. Wir … man sieht sich.«

Etwas unbeholfen winkt sie in den Halbkreis, dreht sich dann schnell auf dem Absatz um und eilt mit langen Schritten zum Seitenausgang, spricht vor sich hin: »Wo sind denn jetzt meine Blumen? Weiß irgendeiner, wo ich die Blumen hingelegt hab? Caro? Ist Caro noch da? Meine Mama ist aber schon weg, oder? Die waren nämlich echt schön, die Blüm… – Ah! Danke. Das ’s lieb.«

Der Mann mit dem letzten schwarzen Schirm hat die Blumen für sie geholt. Auch ein Taxi ruft er ihr, platziert Katja und den Strauß vorsichtig auf dem Rücksitz, daneben ihre

Auf die Rückseite hat Martin von Campen seine Telefonnummer geschrieben, in des Dichters blauer Tinte: elf einwandfreie Ziffern neben einem eilig skizzierten Schirm unter drei langgezogenen Regentropfen.

*

Google Maps permanent geöffnet, pflügt sie einen Zickzackkurs durch alle Viertel südlich der Altstadt: Milena hat in den Stunden, in denen Amy in der Schule ist und Piet bei der Tagesmutter, unzählige Wohnungen besichtigt und immer noch nichts Passendes gefunden: Die Ausstattung überprüft sie auf Barrierefreiheit, die Lage bewertet sie nach den Zufahrtswegen für Rettungswagen. Das Wichtigste: fußläufige Entfernung zur Prinz-Eugen-Straße und für Amy eine machbare Fahrradtour.

Eine Überraschung soll es werden für Marlies: zwei Zimmer, Küche, Enkelkinder, im Herzen von Münster, zentral, aber ruhig. Doch wie überrascht wird Milena sein, wenn sie schließlich die richtige Wohnung gefunden, wenn sie wunderschöne Fotos von Piet und Amy am kleinen Erkerfenster geschickt haben wird und Marlies nicht viel mehr zu antworten weiß als: ›Ach Mensch.‹

»Ach Mensch, das ist lieb« und »Ach Mensch, das ist ganz lieb gemeint von euch, aber ich will nicht mehr umziehen«.

So ändern sich die Zeiten und die Traurigkeiten: Zerknirscht wird Milena am Abend, während die Kinder zum Nachtisch noch fernsehen dürfen, ihrem Mann in der Küche davon erzählen, wie ihr Plan auf Grund gelaufen ist, und was soll David anderes dazu sagen als:

»Na ja, wer nicht umzieht, wird besucht, oder? Wir fahren

»Aber … jetzt, wo Katschi sie da oben ganz alleine lässt, einfach so, und … und überhaupt wär’s doch viel besser, wenn sie hier wohnt! Dann wär alles … so einfach, weißt du.«

»Erstens: Besser für uns heißt nicht gut für sie. Ich weiß, du weißt es, und ich verstehe, dass du es nicht wahrhaben willst. Zweitens: Deine Schwester lässt eure Mutter nicht im Stich, sondern geht ihren eigenen Weg. Kommt dir bekannt vor? Und du –«

»Kannst du aufhören, so vernünftig zu argumentieren, das ist ja ekelhaft.«

»Weiß ich. Trotzdem. Und, ähm …«

»Was?«

»Willst ausgerechnet du behaupten, es wäre so einfach, aus Tallstedt wegzuziehen?«

Mit einem schmutzigen Teller in der Hand beugt sich Milena tief in die Spülmaschine und murmelt:

»Ich hab unrecht, du hast recht, Herr Sanders, wieder mal, toll. Liebe dich trotzdem.«

»Sorry, wie war das am Ende? Das ganz Leise mit der Liebe?«

»Jaja.«

Sie richtet sich wieder auf, David steht ganz nah vor ihr und sieht ihr in die Augen.

»Ich dich sowieso«, sagt er, und als sie eine Hand auf seine Brust legt, fügt er hinzu:

»Und deine Mutter. Und die lange rote Zunge, die du mir gleich rausstreckst.«

Sie zieht ihre Nasenspitze nach oben, boxt ihm in Zeitlupe grinsend gegen die Schulter, dann legt sie einen Finger an die Lippen und lauscht Richtung Wohnzimmer.

»Meinetwegen«, sagt David, »aber erst rufen wir Oma an und fragen, ob sie am Wochenende schon was vorhat.«

*

Sie spielen nur noch mit den extragroßen Würfeln, die Leon eigens hat anfertigen lassen, doch Curt Haffner ist nun oft nach der ersten Partie schon zu müde und hat es lieber, wenn Leon ihm für eine halbe Stunde aus einem Nachrichtenmagazin oder einem Buch vorliest.

Schon beim schwach durchbluteten Handschlag hat der alte Mann gefragt, ob Leon zufällig was von Stephen King dabeihabe – leider nicht –, denn den habe Anita früher gerne gelesen, wie ihm wieder eingefallen sei, und Haffner selber auch, während er an seinem Arbeitsplatz in der Requisite auf die Umbaupause wartete, in der er die umgestoßenen Flaschen von Mackie Messers Hochzeit einsammeln musste.

Unter der Stehlampe rückt Leon seine Brille zurecht und schlägt den Roman auf, den Schröder ihm empfohlen hat, Doktor Schröder, wie er neuerdings nicht müde wird zu betonen.

»… was Russisches, Herr Haffner.«

»… soso, n…ach.«

Leon liest einfach an der Stelle weiter, an der er das Buch am Abend zuvor beiseitegelegt hat. Nach zehn Minuten ist er auf den letzten Seiten angekommen, seine Stimme hat er runtergedimmt, noch sind Haffners Augen einen furchtsamen Spalt weit geöffnet.

»›So verlebe einer die Tage, die ihm beschieden sind. Hauptsache, Dach überm Kopf, wo’s nicht reinregnet, und was zu

 

Kurz darauf schläft Curt Haffner, ein Kissen auf dem Schoß, und röchelt fast unhörbar.

Wie oft wird er noch schlafen, wenn ihm danach ist, fragt sich Leon – schlafen, um später wieder aufzuwachen, wie oft?

Ein paar Minuten später macht Leon sich auf den Weg ins Medienkaufhaus, wo sich ab heute sein neues Spiel stapelweise verkaufen soll.

*

Die Aufregung macht den Unterschied: sekundenweise kribbelnde Kopfhaut, der hektische Griff nach dem Schlüsselbund, das Abrutschen von dem oft getretenen Pedal, die Vollbremsung am übersehenen Zebrastreifen. Ein leichtes Wackeln der Routinen, der Puls hat gut zu tun.

Wie selten ist es vorgekommen, dass Katja auf dem Weg zur Arbeit nicht im Kopf durchgegangen ist, was sie am Abend essen und dafür auf dem Heimweg einkaufen will, sondern ihre Gedanken einzig und allein um den Arbeitstag kreisen, um das, was sie heute richtig und richtig gut machen will: für sich, für den Vorstand und ein bisschen auch für den Dichter Simmering, auf dessen glühende Empfehlung die Stiftung sie zum Vorstellungsgespräch eingeladen hatte. Seitdem sie den neuen Job angetreten hat, sind schon einige mehr oder weniger berühmte Autorinnen und gelegentlich Autoren in der Villa an der Heilwigstraße zu Gast gewesen. Katja hat die Aufenthalte, die Lesungen, die Pressetermine koordiniert, hat im

Viel schneller als an Durchschnittstagen ist sie durch Hohenfelde gefahren: An diesem aufgeregten Donnerstag wird sie ihre Lieblingsautorin am Hauptbahnhof abholen und zur Villa bringen. Um jeden Preis will Katja sich, die Stiftung, das Haus, die Hamburger Literaturwelt und überhaupt alles von der besten Seite zeigen. Irgendwann in den nächsten Wochen wird sie die Gelegenheit finden, der Autorin zu erzählen, was deren beste Bücher Katja in den schlechtesten Momenten bedeutet haben: wie sie sich festgehalten hat an den Menschen in den Geschichten, sobald ihr die Menschen in der Wirklichkeit abhandenkamen. Wie sie es liebt und genießt, wenn Buchstaben zum ehrlichen Leben erwachen.

Die Morgensonne streift die Uhlenhorster Dachspitzen. Katja hat die Hände vom Lenker genommen und hebt ihren Blick, hört für einen Moment auf zu treten. Das wird ein wunderwarmer Tag.

*

Auf ihrer Chaiselongue kreuzt Marlies die Beine, lugt über den Rand des E-Readers und kratzt sich mit der rechten Hacke am linken Schienbein, dann sucht sie die eben verlassene Zeile.

Schlafen, wenn einem danach ist, liest sie. Einzig vor der Sonne sich verneigen.

Das gefällt ihr, das gefällt ihr sehr.

Gekrault wird nur, was ein Fell hat. Geredet nur mit den Vögeln im Walde. Was braucht der Mensch mehr?

Marlies schließt mit leisem Klappgeräusch ihr elektronisches Buch und lässt den Kopf in Richtung Fenster kippen: Schönes Blau, hell blitzt der späte Sonntagvormittag.

Hat er nicht, aber Katti hat mir was geschickt. Sogar signiert, Dolo, schau.

Ach, ob Marli ihn denn nun, wo er nicht mehr da sei, wirklich immer noch beim Kosenamen rufen müsse.

Du bist doch immer bei mir, Doktor Lothar.

Hierauf wüsste er nichts mehr zu sagen und kraulte rechts den Bart von Ohr bis Kinn.

Frühestens in zwei Stunden kommen Leon und Kim, sie werden Kuchen mitbringen und Obstbrand. Marlies schwingt die Beine von ihrem Leseplatz und greift sich die Jacke für Frühling und Herbst.

Noch mal kurz runter zum See, ein paar Schritte am Ufer entlangspazieren. Vor der Sonne sich verneigen.

*

Klatschnasse Böen peitschen die Küste entlang, und wer irgend kann, bleibt heute im Warmen. Irgendwo in Winterhude leuchtet Leons smartes Display auf: Das Foto seiner jüngeren Schwester ruft an.

»Hey, Kröti.«

»Hey, Lego! Stör ich?«

»Ich baue gerade am Prototypen von Schimper. Flo und Jenny kommen morgen zum Testen.«

»Schimper? Ist das dieser Regenwalderfinder, von dem du erzählt hast?«

»So ungefähr.«

Leon schwenkt die Handykamera kurz auf die Papierfiguren und die kleinen grünen Plastikbäume auf seinem Schreibtisch.

»Schlafen alle. Ich komme gerade vom Kneipenchor. Hey, wir proben seit heute dein Lieblingslied von früher, das ist mega!«

»Welches Lied soll das sein?«

Milena räuspert sich, schließt die Augen und singt:

»Wir haben Angst und sind allein, Gott weiß, ich will kein Engel sein …«

»Das war mein Lieblingslied?«

»Jedenfalls hast du es immer genau dann voll aufgedreht«, antwortet sie augenrollend, »wenn ich versucht habe, diese beknackten Lateinvokabeln zu lernen.«

»Wegen mir warst du so schlecht in Latein?«

»Wegen deiner Boxen war ich irgendwann froh, dass du ausziehst.«

»Hm.«

Ein Grinsen schleicht sich in sein Gesicht.

»Dein Geklimper war auch laut.«

»Geklimper?«

Milena versucht, wütend zu schauen, es gelingt nicht so richtig.

»Na ja, wir waren jung«, sagt Leon achselzuckend im Tonfall, der ihn selbst an seinen Vater erinnert, »Kinder machen halt Krach, oder?«

Milena bestätigt mit heftigem Nicken.

»Amy liebt die Musikschule und wünscht sich ein Schlagzeug.«

»Von wem hat sie das nur?«

»Tja. Sie hat übrigens schon wieder eine Idee für ein Würfelspiel, von der sie dir gleich unbedingt erzählen will.«

»Ja, ich weiß. Aber du würdest sie sehr glücklich machen, wenn du’s dir zu Ende anhörst, Onkel Leon.«

»Na klar.«

»Apropos«, Milena schaut nicht direkt in die Kamera, »du bist doch jetzt angeblich glücklich verliebt – werde ich denn auch noch mal Tante, oder wie ist das?«

»Sag ich dir Bescheid, wenn’s so weit ist.«

»Okay, das heißt aber, ihr wollt Kinder?«, fragt sie.

»Ja.«

»Und?«

»Ja, noch nix ›und‹.«

»Ah.«

»Wir sind beide keine fünfundzwanzig mehr«, sagt Leon.

»Mhm.«

»Ich nehm jetzt so Selentabletten«, fügt er mit gerunzelter Stirn hinzu, »und Kim hat was für die Schilddrüse gekriegt.«

»Hm. Und habt ihr’s auch mal mit Sex probiert?«

»Du bist so blöd, Kröti.«

Das Schwesterlachen platzt in die Kamera, bis er nicht anders kann, als einzufallen, etwas tiefer als sie, nicht ganz so dreckig, aber herzhaft laut. Und wenn seine kleine Schwester das nächste Mal anruft, ist Leons Freundin schon in Woche zwölf.