»Def. Banshee, allgemein: früher ›bean nighe‹, im Volksmund häufig ›Frau aus dem Feenreich‹ oder ›Todesfee‹ genannt; dem Volk der Nocturi angehörig. Sie wird beschrieben als eine Frau mit bleicher Haut und schwarzen Haaren, die das Nahen des Todes erspürt, weshalb man ihr Weinen und Klagen oft in der Nähe von Sterbenden hört. Ihr ist es jedoch nicht erlaubt, in den Kreislauf von Leben und Tod einzugreifen, auch ist es ihr nicht möglich, den Tod ihrer Eltern und Kinder vorherzusehen. Man schreibt den Banshees eine besondere Verbindung zu den Tieren der Nacht zu; sie sind auch in der Lage, Todesvisionen zu empfangen. Ihre stärkste Waffe ist der sogenannte Todeskuss: Eine Banshee kann die Trauer, die sie durch ihre Gabe erfahren musste, an eine andere Person weiterleiten, indem sie ihn auf die Stirn küsst und gleichzeitig sein Herz berührt – diese Fülle an Todesangst und Schmerz führt bei demjenigen unweigerlich zum Herzstillstand. In seltenen Fällen können Mütter die Gabe auch an ihre Söhne vererben, sie werden Bansidhe genannt. Bei männlichen Nachkommen steht die visionäre Gabe im Vordergrund; sie sind weniger empathisch und in ihrem Wesen sehr dominant.«

aus »Untote von A–Z.
Umfassendes Nachschlagewerk paranormaler Wesen«
von Professor Albertus von Knüttelsiel, erschienen 1969

Emma blieb stehen und riss ungläubig die Augen auf. »Sie wollen was?« Die blattlosen Bäume erhoben sich zu beiden Seiten des Waldweges wie eine Armee aus stillen Wächtern. Der gestrige Regen, der sich in den Vertiefungen gesammelt hatte, war zu Eis gefroren und begleitete jeden ihrer Schritte mit einem Knacken und Splittern. Strychnin hoppelte vor ihnen her und schlitterte jauchzend über jede zugefrorene Pfütze, die er entdeckte.

»Mich verbannen«, wiederholte Lilith müde. Die halbe Nacht hatte sie mit Mildred und den Bewohnern des Seniorenstifts in der Küche verbracht und über die Vorladung diskutiert. Dass der Rat der Vier über jemanden Gericht hielt, geschah äußerst selten und nicht einmal der belesene Sir Elliot konnte auf Anhieb sagen, was Lilith erwarten würde.

»Aber weshalb?«, stieß Matt verständnislos aus, wobei seine Atemluft kleine Wölkchen bildete.

»Weil ich dir an dem Abend, als wir meinen Vater befreit haben, von der Welt der Untoten erzählt habe. Leider verstößt das gegen die oberste Regel und wird mit Verbannung bestraft.«

Emma verschränkte wütend die Arme vor der Brust. »Aber du hattest keine andere Wahl. Du musstest dich mit Belial anlegen, einem Erzdämon! Matt einzuweihen war die einzig richtige Lösung. Nur weil er ein Mensch ist, konnte er Belials Einfluss widerstehen.«

Lilith verzog das Gesicht. »Das musst du mir nicht sagen. Mildred befürchtet jedoch, dass der Rat dieses Argument nicht akzeptieren wird. Bei den bisherigen Gerichtsverhandlungen haben sie sich anscheinend streng an die Gesetze gehalten und keine Milde walten lassen.«

Mildred meinte sogar, dass das Urteil meistens schon vorher feststehen würde, doch Lilith hielt es für klüger, es nicht ganz so dramatisch wiederzugeben – Emma und Matt schienen schon schockiert genug zu sein. Sir Elliot hatte in einem seiner Bücher herausgefunden, dass bisher nur ein Mal jemand wegen dieses Vergehens angeklagt und verbannt worden war. Es war eine Frau gewesen, die sich in einen Menschen verliebt und ihm alles über die Welt der Untoten verraten hatte. Leider nutzte dieser das Wissen, um ein Nachschlagewerk über paranormale Wesen zu verfassen, in dem er so gut wie jedes der Geheimnisse preisgab.

»Das ist so was von ungerecht«, schimpfte Emma. »Es kann doch nicht sein, dass ein Gesetz einzuhalten wichtiger ist, als ein Leben zu retten!«

Während sie vorsichtig den vereisten Weg entlangliefen, warf Matt Lilith einen unsicheren Blick zu. »Und was ist mit mir? Muss ich auch vor den Rat?«

Sie schüttelte den Kopf. »Du bist ein Mensch und unterstehst nicht unseren Gesetzen, außerdem wirst du wohl nicht als große Gefahr angesehen. Aufgrund deines Alters und deiner etwas … ähm … sonderlichen Mutter würde dir niemand Glauben schenken, falls du das Geheimnis herumerzählst.«

»Mit anderen Worten: Jeder würde mich für einen durchgeknallten Spinner halten«, brachte er es auf den Punkt. »Aber du bist die Trägerin des Bernstein-Amuletts, du könntest doch einfach gegen deine Verbannung stimmen?« »Offiziell bin ich noch nicht als Führerin der Nocturi eingesetzt und in den letzten Jahren hat Zachary Scrope dieses Amt übernommen. Er und Tante Mildred haben vereinbart, dass ich den Posten erst übernehme, wenn ich dazu bereit bin und besser über die Welt der Untoten Bescheid weiß. Deswegen wird Scrope die Nocturi bei der Gerichtsverhandlung vertreten.«

Emma stöhnte auf, und als sie Matts fragenden Blick bemerkte, erklärte sie: »Scrope ist ein machtgieriger Schleimer. Wahrscheinlich freut er sich schon darauf, Lilith für immer zu verbannen, um die Führung der Nocturi nicht abgeben zu müssen.«

Lilith schluckte schwer. Sie hatte vergangene Nacht zufällig mitbekommen, wie Arthur auch etwas in dieser Art zu Mildred gesagt hatte. So wie die Dinge lagen, sah die Sache nicht besonders gut für sie aus.

»Das heißt, du müsstest Bonesdale für immer verlassen?«, fragte Matt betroffen.

Lilith blickte zu Boden, als sie antwortete: »Sie würden mir mittels Magie sowohl meine Kräfte als auch meine Erinnerung rauben. Selbst wenn wir uns noch einmal begegnen würden, könnte ich mich nicht mehr an euch erinnern. Ich wüsste nichts mehr von Bonesdale, dem Seniorenstift, meiner Tante und meiner Mutter …« Ihre Stimme brach ab und eine Weile liefen sie in bedrücktem Schweigen nebeneinander her.

Sie erreichten ein schmiedeeisernes Tor, das in einer hohen Mauer eingelassen war. Es wurde von steinernen Greifen flankiert, die grimmig in die Runde blickten, und auf den Spitzen der Torsäulen schwebten mit weit ausgebreiteten Schwingen zwei Fledermäuse. Eine massive Kette hielt die beiden Torflügel zusammen und Strychnin fummelte bereits an dem dazugehörigen Vorhängeschloss herum.

»Leider bin ich auf ein Hindernis gestoßen.« Er zog ächzend an der Kette, die sich jedoch keinen Zentimeter bewegte. »Hat Euer Durchlaucht zufällig einen Schlüssel?«

Da sie noch nicht einmal in der Nähe der Burg waren, hatte Lilith nicht damit gerechnet, so früh auf eine Absperrung zu stoßen.

»Da man von der Fähre so einen eindrucksvollen Blick auf Nightfallcastle hat, wollen sich viele Touristen die Burg ansehen«, erklärte Emma, während sie in den weit aufgerissenen Schnabel des Greifs hineinfasste. Er sah so bösartig und erschreckend lebendig aus, dass es Lilith nicht verwundert hätte, wenn er Emmas Hand mit einem beherzten Biss verschlungen hätte. »Die Mauer hält die meisten neugierigen Besucher jedoch davon ab weiterzugehen.«

Sie zog mit triumphierender Miene einen kleinen Schlüssel hervor. »Seht ihr, dank eurer ortskundigen Führerin stellt dieses Tor überhaupt kein Hindernis für uns dar.«

Das Schloss schnappte auf und mit einem schauerlichen Quietschen, das sicherlich im ganzen Wald zu hören war, öffnete sich das Tor.

»Willkommen im Park von Nightfallcastle!« Lilith trat ein und sah sich überrascht um. Der Park bestand aus gedrungenen Bäumen und Büschen, die über und über mit seidenartigen Gespinsten bedeckt waren, sodass sie fast weiß wirkten. Im leichten Wind wiegten sich die hauchzarten Fäden hin und her und glitzerten silbern in der kalten Wintersonne.

»Ach, wie ich diesen Anblick vermisst habe.« Strychnin seufzte auf und warf Lilith einen vorwurfsvollen Blick zu. »Mein früherer Gebieter hatte wirklich Geschmack, so etwas nenne ich ästhetischen Grusel.«

Er war nämlich der Meinung, dass sowohl Liliths Kleidungsstil als auch ihre ordinäre Zimmereinrichtung die hoheitsvolle Gruselatmosphäre vermissen ließen und einer Fürstin der Finsternis völlig unwürdig waren. Vor einigen Tagen wollte er sie noch dazu überreden, wenigstens ein paar Fledermäuse in ihrem Zimmer zu halten.

Lilith berührte neugierig einen Baum am Wegesrand, der von den Wurzeln bis zu den Astspitzen mit dem Gespinst bedeckt war. Zu ihrer Überraschung fühlte es sich nicht klebrig, sondern weich und flauschig an. »Was ist das denn für ein Zeug?«

»Die Gespensterraupen, die dein Großvater extra für diesen Park hat züchten lassen, ernähren sich vom Lebenssaft der Pflanzen und verschleiern dabei den Wald mit ihren Gespinsten.«

Nun ja, das war zwar etwas unheimlich, aber, so musste sich Lilith eingestehen, es sah wirklich schön aus.

Emma zog aus ihrer Jackentasche zwei Bonbons hervor und reichte eines davon Matt.

»Ich hoffe, du magst Kirschgeschmack? Meine Mutter hatte leider keine andere Sorte mehr vorrätig. Diese Bonbons wurden mit einem Hexentrank versetzt. Der Park besitzt nämlich noch eine weitere Sicherheitsvorkehrung: eine Angstschranke. Das ist zwar nur einfache Zauberei, aber sie hält Menschen, die auf die Idee kommen, über die Mauer zu klettern, garantiert davon ab weiterzugehen.«

Matt schüttelte halb fassungslos, halb belustigt den Kopf. »Als du gesagt hast, es wäre nicht so einfach, zur Burg zu gelangen, habe ich eigentlich gedacht, du übertreibst.«

»Und wieso bekomme ich keines dieser Hexen-Kirschbonbons?«, wollte Lilith wissen.

»Die Angstschranke wirkt sich nur auf Menschen und nicht gewandelte Nocturi aus. Sie bekommen urplötzlich das Gefühl, verfolgt zu werden, die Welt um sie herum verdunkelt sich und sie gelangen zu der Überzeugung, dass es ihr sicherer Tod sein würde, wenn sie weitergehen. Wenn du deine magischen Kräfte benutzt, müsstest du die Schranke sogar wahrnehmen können.«

Das ließ sich Lilith nicht zweimal sagen. Wenn man von ihren unfreiwilligen Banshee-Albträumen einmal absah, hatte sich noch nicht oft die Möglichkeit ergeben, dass sie ihre magischen Grundkräfte, die jeder Nocturi besaß, anwenden konnte. Sie schloss die Augen und atmete tief und gleichmäßig ein, genau wie Mildred es ihr beigebracht hatte – alles loslassen und an nichts anderes denken als den Fluss des Atems. Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild des Weges, der sich vor ihnen den Berg hinaufschlängelte. Zuerst nur unscharf, doch je mehr sie sich entspannte, umso mehr Details konnte sie wahrnehmen. Dann sah sie es: Ein nachtschwarzer Schleier lag über dem Weg und verdunkelte ihn. Er schien seltsam lebendig, als würde er aus Abertausenden Würmern bestehen, die sich unaufhörlich umeinander wanden und mit ihren glitschigen blinden Köpfen suchend umhertasteten – wahrscheinlich warteten sie nur darauf, sich um ein Opfer zu schlingen. Der Anblick ließ Lilith erschaudern. Das musste die Angstschranke sein! Doch da war noch etwas anderes. Wie ein schriller Ton bohrte sich ein unangenehmes Gefühl in ihr Bewusstsein, als ob etwas in ihrem Inneren ihr mitteilen wollte, dass noch jemand anderes in ihrer Nähe war. Sie spürte die magische Präsenz von, von … Lilith hatte keine Ahnung! Bis auf die von Gespinsten überzogenen Bäume und die Angstschranke konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken. Vielleicht täuschte sie sich auch? Immerhin war sie im Umgang mit ihren Kräften nicht besonders geübt. Blinzelnd öffnete sie wieder die Augen.

»Und?«, fragte Emma atemlos. »Hast du sie gesehen?«

»Ja, allerdings war es kein besonders schöner Anblick.«

Verstohlen sah sie sich um. Weder ein Tier noch ein Mensch schien sich in ihrer Nähe zu befinden. Sie schüttelte den Kopf und versuchte damit, das ungute Gefühl, das sich ihrer bemächtigt hatte, zu vertreiben.

»Bist du sicher, dass euch die Bonbons gegen die Angstschranke helfen?«, hakte sie nach. Sie wollte sich gar nicht erst vorstellen, wie die beiden von den nachtschwarzen Würmern eingehüllt werden würden. Doch Emma versicherte ihr, dass absolut keine Gefahr bestand, und Matt lutschte so genüsslich an seinem Kirschbonbon, dass Lilith ihm einen neidischen Seitenblick zuwarf.

»Wenn du willst, habe ich hier noch einen Kaugummi.« Er hielt ihr einen Blutkaugummi aus dem »Trick or Treat« unter die Nase.

»Wie alt ist der denn?« Lilith sah skeptisch auf den Kaugummi, der sich gerade langsam nach unten bog.

»Den hast du mir geschenkt, als Emma uns kurz nach unserer Ankunft in der Devilstreet herumgeführt hat.«

»Gut zu wissen, dass du meine Geschenke so zu würdigen weißt.«

»Ich wollte ihn in Ehren halten«, verteidigte sich Matt, »und für einen ganz besonderen Moment aufheben. Man bekommt schließlich nicht jeden Tag so ein tolles Geschenk von der bezauberndsten Banshee in Bonesdale.«

Emma, die hinter Matt stand, presste die Lippen zusammen. Lilith glaubte, Eifersucht in ihren Augen aufflackern zu sehen, und sie versetzte Matt einen bewusst kollegialen Stoß. »Schwätzer!«, sagte sie augenrollend. »Du weißt ganz genau, dass ich die einzige Banshee in Bonesdale bin!«

Der Weg zur Burg zog sich schier endlos den Berg hinauf. Schon nach den ersten Metern hielt Strychnin schwer keuchend inne, hüllte sich in eine Nebelsäule ein und verabschiedete sich mit den Worten, dass er oben auf sie warten würde. Neidisch blickte Lilith auf die sich auflösende Rauchwolke. Es war einer der wenigen Momente, in denen sie gerne mit dem Dämon getauscht hätte.

Als sie endlich auf der Bergkuppe ankamen, waren sie alle erschöpft und außer Atem. Zu allem Überfluss waren Teile des Weges von einer gefährlich rutschigen Eisschicht überzogen, sodass sie nur mühsam vorangekommen waren. Nightfallcastle thronte auf dem höchsten Felsen der Insel und unterhalb der Klippen hörte man das wütende Aufschlagen der Wellen. Ein eisiger Wind zersauste Liliths Haare und zerrte an ihrer Jacke.

Matt legte den Kopf in den Nacken und betrachtete sichtlich beeindruckt die Burg. Über ihnen erhob sich der gezackte Burgturm wie ein verkrüppelter Finger. »Sieht ganz schön bedrohlich aus.«

Lilith schlang fröstelnd die Arme um sich. »Nicht gerade das, was man sich unter einem einladenden Zuhause vorstellt.«

»Dafür ist die Burg so groß, dass du jeden einzelnen deiner Socken in einem eigenen Zimmer deponieren könntest«, wandte Emma ein. »Und wenn Strychnin nervt, kannst du ihn einfach in den Kerker sperren.«

Lilith blickte die Mauer entlang, die wie die Burg selbst aus schwarzem, grob behauenem Stein bestand, und erst bei genauerem Hinsehen erkannte sie, dass Skelettköpfe und aufgerissene Dämonenfratzen hineingemeißelt waren.

»Man könnte meinen, meine Vorfahren litten unter Verfolgungswahn.«

»Der Krieg mit den Dämonen war nicht der einzige«, sagte Emma düster. »Im Laufe der Jahrhunderte kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen unseren Völkern.«

»Was das betrifft, seid ihr den Menschen also gar nicht so unähnlich«, stellte Matt fest.

»In diesem Punkt wohl nicht«, musste Emma zugeben.

»Habt ihr das auch gehört?«, fragte Lilith, während sie herumfuhr und mit besorgtem Blick die Umgebung absuchte.

Matt sah sie erstaunt an. »Was denn?«

Genau wie unten vor der Angstschranke hatte Lilith das Gefühl, dass etwas nicht stimmte … dass sie nicht allein hier oben waren. Sie kniff die Augen zusammen. Der Weg, den man bis zur nächsten Biegung einsehen konnte, war menschenleer und auch zwischen den mit Gespinsten überzogenen Bäumen regte sich nichts. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts entdecken.

»Ich dachte … Ich war mir sicher, dass ich ein ungewöhnliches Knacken gehört habe.«

»Das war wahrscheinlich nur ein Tier«, versuchte Emma sie zu beruhigen. »Lilith, seit Wochen machst du dich damit verrückt, dass Belial dich beobachten könnte oder er dich in Gestalt einer Malecorax verfolgt. Glaub mir, so schnell lässt er sich hier nicht mehr blicken. Er muss erst einmal die Niederlage verkraften, die er dank dir hat einstecken müssen.«

»Tut mir leid, ich leide wohl genau wie meine Vorfahren unter Verfolgungswahn.« Sie holte tief Luft und klatschte dann unternehmungslustig in die Hände. »So, wo geht es denn jetzt in diese angeberisch große Burg hinein?«

Emma führte sie vor ein schweres, mit Eisenbändern beschlagenes Tor, das ebenfalls von zwei Greifen bewacht wurde. In ihren Steinklauen hielten sie gewaltige Speere, die sie vor dem Tor kreuzten und somit den Zugang versperrten.

Strychnin blieb überrascht stehen. »Das Tor ist zu? Zu meiner Zeit war es niemals geschlossen.«

»Hier haben wir das letzte Hindernis«, verkündete Emma. »Doch bei diesem hier kann ich leider nicht mehr behilflich sein.«

Lilith sah sie erstaunt an. »Warum denn nicht?«

»Seit dreizehn Jahren hat es niemand geschafft, an den Wächtern vorbeizukommen.« Sie wandte sich an Strychnin und bat ihn mit zuckersüßer Stimme: »Geh doch mal zu den Greifen und bitte sie um Einlass!«

Während Lilith ihr einen misstrauischen Seitenblick zuwarf, watschelte Strychnin eilfertig auf die Greife zu.

»Hey, ihr zwei alten Steinsäcke, nehmt eure Zahnstocher beiseite, ein mächtiger Dämonengott verlangt einzutreten.«

Im ersten Moment geschah überhaupt nichts, dann erklang ein steinernes Knirschen, das Lilith eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Die Greife wandten dem Dämon ihre Adlerköpfe zu und stellten die Speere neben sich. Strychnin wackelte nervös mit den Ohren und beobachtete die Wächter, die ihn mit ihren toten Steinaugen unverwandt anstarrten. Als er schließlich einen zaghaften Schritt auf das nun ungeschützte Tor zumachte, rissen sie ihre Speere in einer überraschend schnellen Bewegung herum und richteten sie auf seinen Hals. Der Dämon schrie auf und schielte auf die beiden Speerspitzen, die sich tief in seine Haut bohrten.

Lilith schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. Eine gelbe Flüssigkeit rann an Strychnins Hals herab: Dämonenblut.

»‘schuldigung, ihr zwei holden Greife«, wimmerte er, während seine Hautfarbe im Sekundentakt von Grün zu Braun wechselte. »Wenn … wenn ich es mir recht überlege, will ich gar nicht rein.« Er schnappte einige Male nach Luft, dann kippte er wie ein gefällter Baum ohnmächtig um.

Die Greife verharrten noch einen Augenblick, dann richteten sie ihre Blicke wieder nach vorne und versperrten mit ihren gekreuzten Speeren das Tor. Sofort eilten Matt und Lilith zu Strychnin und zogen ihn vom Tor weg.

»Strychnin?« Sie ging in die Knie und musterte ihn besorgt. »Wie geht es dir?«

Blinzelnd öffnete er die Augen. »Haltet Euch von denen fern, Lilith«, flüsterte er. »Die sind böse.«

»Ist gut, ich werde ihnen nicht zu nahe kommen.« Sie tätschelte liebevoll seine pummelige Hand. Es war das erste Mal, dass er sie nicht mit einem seiner selbst ausgedachten Titel angesprochen, sondern ihren richtigen Namen benutzt hatte. Der Angriff der Greife musste ihn wirklich völlig aus der Fassung gebracht haben.

Sie fuhr zu Emma herum und funkelte sie wütend an. »Du wusstest, dass sie ihn angreifen würden, oder nicht?«

Emma hob beschwichtigend die Hände. »Es ist doch überhaupt nichts passiert. Er ist ein Dämon, sie konnten ihn nicht ernsthaft verwunden. Du hast mir selbst erzählt, dass er praktisch unkaputtbar ist.«

Lilith spürte, wie sie eine Welle des Zorns überrollte. »Es ist grausam und gefühllos, jemanden in so eine Falle laufen zu lassen – egal, ob es für ihn lebensgefährlich ist oder nicht. Strychnin ist ohnmächtig geworden vor Angst!«

»Meine Güte, er ist ein Dämon! Sie sind hinterlistige, verschlagene Wesen, die nur ihren eigenen Vorteil im Sinn haben. Man darf ihnen niemals vertrauen! Doch anstatt auf der Hut zu sein, verhätschelst du ihn wie ein kleines Kind.«

»Du entschuldigst dich jetzt gefälligst bei ihm!«, zischte Lilith. Ihr wurde unglaublich heiß, als hätte sie hohes Fieber, und dunkle Punkte begannen vor ihren Augen zu tanzen.

»Oder was?«, entgegnete Emma angriffslustig, anscheinend nicht bereit, sich von Lilith vorschreiben zu lassen, was sie zu tun hatte.

Die Punkte vor Liliths Augen schienen sich zu verdichten. Plötzlich war es, als wäre die Welt um sie herum in einen schwarzen Nebel gehüllt. Alle Geräusche waren verschwunden, Emmas wütendes Keuchen, das Pfeifen der Winterböen und das Brechen der Wellen unterhalb der Klippen waren einer absoluten Stille gewichen. Stattdessen hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf, die nicht ihre eigene war. Zwing sie dazu – sie hat es verdient! Sie muss für ihr Verhalten bestraft werden!

Das kann ich nicht tun, widersprach Lilith in Gedanken, sie ist meine beste Freundin!

Sie hätte es verdient, dass du sie ebenfalls zu den Wächtern schickst – damit sie am eigenen Leib erfährt, was sie Strychnin angetan hat. Tu es, Lilith, übernimm die Macht über sie!

Die Wut über ihre Freundin brannte in ihren Adern wie Feuer und setzte in ihrem Inneren etwas Dunkles, ungeheuer Machtvolles frei. Ja, sie würde Emma dazu zwingen! Lilith öffnete den Mund …

»Sie hat recht!«, sagte Matt in diesem Moment, trat neben Lilith und legte ihr in einer beruhigenden Geste die Hand auf die Schulter. »Du solltest dich bei ihm entschuldigen, Emma.«

Emma löste ihre verschränkten Arme und ließ sie seitlich herabsinken. »Aber …«, setzte sie an.

»Ich weiß, dass deine Familie durch die Dämonen schon viel Leid erfahren musste«, fiel Matt ihr ins Wort, »und du deswegen nicht gut auf sie zu sprechen bist, ihr alle hier in Bonesdale hasst die Dämonen deswegen. Aber bitte versteh auch uns – wir kommen aus einer anderen Welt und für uns war dein Verhalten gerade nicht besser als das eines verschlagenen Dämons.«

Für lange Zeit sagte Emma nichts, dann nickte sie langsam. »Für euch muss das wohl wirklich etwas … extrem gewirkt haben«, meinte sie und starrte verlegen auf ihre Schuhspitzen. »Wisst ihr, noch heute muss meine Mutter weinen, sobald sie von ihrer Schwester redet, die damals beim Kampf um das Schattenportal ermordet wurde. Und viele Hexen, die ich kenne, wurden verrückt oder bösartig, da der Dämon, dessen Zauberkraft sie sich zunutze gemacht hatten, die Kontrolle übernommen hat. Vielleicht habe ich deswegen meine Emotionen gegenüber Strychnin nicht besonders gut im Griff.«

Sie holte tief Luft und wandte sich an den Dämon, der sich mittlerweile wieder erholt hatte und sie verunsichert anblinzelte. »Ich hätte dich nicht zu den Wächtern schicken dürfen, das war nicht richtig und es tut mir wirklich leid.«

»Vergeben und vergessen, Freundin der Ladyschaft! Im Grunde ist ja nichts passiert. Natürlich hätte ich die beiden Wächter mit einem Fingerschnipsen außer Gefecht setzen können, ich wollte nur nicht den Besitz meiner Herrin beschädigen«, versicherte er selbstbewusst.

Matt und Emma schüttelten schmunzelnd die Köpfe, nur Lilith starrte wie betäubt ins Leere.

Was war gerade eben mit ihr geschehen? Sicher, Emmas Verhalten war falsch gewesen und sie hatte allen Grund dazu gehabt, wütend auf sie zu sein – aber hätte Matt sie nicht im letzten Moment aufgehalten, hätte sie sich von ihrer Wut zu etwas Unverzeihlichem hinreißen lassen. Dabei war es nicht das erste Mal gewesen, dass sie diese dunkle, machtvolle Stimme in ihren Gedanken gehört hatte. Damals, als ihr der Londoner Juwelier De Vries das Bernstein-Amulett hatte stehlen wollen, war sie auch so wütend geworden, dass alles um sie herum in diesem dunklen Nebel verschwunden war. Die Stimme hatte ihr geraten, sie solle De Vries befehlen, ihr das Amulett zurückzugeben, und sie hatte den Rat befolgt. Es war ihr damals wie ein Wunder erschienen, dass der Juwelier seine Meinung geändert und ihr das Amulett ausgehändigt hatte. Seither war ihr nichts Vergleichbares mehr widerfahren, weshalb sie dieses seltsame Erlebnis fast schon wieder vergessen hatte, doch nun begann sie sich zu fragen, was De Vries wohl zu diesem jähen Meinungswechsel bewogen hatte. Ob diese Stimme etwas damit zu tun hatte? Lilith war sich sicher, dass so etwas eigentlich nicht zu den Fähigkeiten einer Banshee gehören sollte …

»Du sagst überhaupt nichts. Bist du noch böse auf mich?«, fragte Emma mit schuldbewusster Miene.

»Natürlich nicht«, beeilte sich Lilith ihr zu versichern. »Es tut mir leid, dass ich so sauer geworden bin. Ich hätte schließlich auch an das Schicksal deiner Familie denken müssen.«

Etwas packte Lilith und Emma unsanft an den Kniekehlen und jauchzte: »Gruppenknuddeln!«

Emma warf einen scharfen Blick nach unten. »Ich warne dich, Dämon – wenn du nicht in den nächsten drei Sekunden mein Bein loslässt, befördere ich dich mit meinem Fußkatapult in Richtung der Klippen.«

Enttäuscht ließ Strychnin wieder los. »Dann sind wir wohl noch nicht so weit, hm?«

»Nein, ich schätze, dafür benötigen wir noch ein paar Hundert Sitzungen.«

»Wie kommen wir denn nun in die Burg hinein?«, wechselte Matt das Thema. »Wie es nicht funktioniert, wissen wir ja jetzt.«

Emma wies auf eine Tafel, die neben dem Tor in der Mauer eingelassen war.

»Laut dieser Inschrift müssten wir problemlos in die Burg hineinkommen, da wir die letzte Erbin der Nephelius-Dynastie bei uns haben.«

In respektvollem Abstand zu den Wächtern trat Lilith an die Tafel heran, entfernte einige verirrte Gespinste und beugte sich über die bronzenen Schriftzeichen.

»So ein verfluchter Mist!« Sie rang verzweifelt die Hände. »Diese doofen Runen. So langsam habe ich den Eindruck, die verfolgen mich.«

»Sieh es doch als Übung an!«, schlug Emma vor. »Setz dich nicht unter Druck und lass dir Zeit, dann klappt das schon.«

»Meine Mutter wollte eigentlich, dass ich vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause bin, aber das wird dann jetzt wohl nix«, frotzelte Matt, wofür Lilith ihm einen bösen Blick zuwarf.

»Gut, mal sehen.« Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. »Das dichte Tor zur Pflege von gefährlichen Konkurrenten, bis irgendwas Dingsbums einen Nephelius … Samen? … sieht, der …«

Emma unterbrach sie mit einem verlegenen Hüsteln. »Vielleicht sollte doch ich die Inschrift übersetzen?«, schlug sie vor.

»Na schön!« Lilith zuckte mit den Schultern und trat zur Seite.

Ohne jede Anstrengung verlas Emma in feierlichem Ton:

»Das Tor geschlossen zum Schutz vor Feind und Gefahr

Bis die Wächter werden Nephelius’ Erbe gewahr

Tritt ein, Nephelius, nur Mut

Sie erkennen dein edles Blut!

Doch nur Einigkeit kann passieren

Einzig das geknüpfte Band kann dominieren

Verbunden wie Tod und Leben, Tag und Nacht

Feinde der Nephelius gebet acht!«

Lilith verzog das Gesicht. »Und ich dachte, da steht was Interessantes drauf.«

»Aber begreifst du denn nicht, was das bedeutet? Du bist die Enkelin des Barons und somit seine Erbin. Dich werden die Wächter einlassen.«

»Ich soll vor diese angriffslustigen Steinmonster treten?« Lilith fasste sich automatisch an ihren Hals. Auf die Erfahrung, zwei Speere an ihre Kehle gedrückt zu bekommen, konnte sie gerne verzichten.

»Aber dir wird überhaupt nichts passieren«, meinte Emma im Brustton der Überzeugung. »Damit die Burg niemals in fremde Hände gerät, haben deine Vorfahren diesen Zauber als Sicherheitsvorkehrung schon vor vielen Jahrhunderten gleich nach der Erbauung anbringen lassen. Doch du musst überhaupt keine Angst haben. Tritt ein, Nephelius, nur Mut – sie erkennen dein edles Blut!«

»Schon«, antwortete Lilith gedehnt und vergrub ihre Hände in ihren Jackentaschen. Diese Sache war ihr nicht ganz geheuer.

»Geht nicht zu den Wächtern«, mischte sich Strychnin ein und schürte damit ihre Bedenken. »Ihr habt doch gesehen, wie unberechenbar die sind.«

Unsicher wandte sich Lilith an Matt. »Was meinst du denn dazu?«

Er wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Im Gegensatz zu Strychnin weißt du, was dich im schlimmsten Fall erwartet. Wenn du auf der Hut bist und die Wächter tatsächlich ihre Speere auf dich richten wollen, könntest du noch rechtzeitig wegspringen.«

Damit hatte er nicht ganz unrecht. Abgesehen davon war sie die Enkelin des Barons und die Inschrift besagte eindeutig, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Wahrscheinlich ging sie tatsächlich keine große Gefahr ein, wenn sie es wagte …

»Also gut, ich mache es.«

»Ich bin so gespannt!« Emma hüpfte vor Freude auf und ab. »Gleich werde ich eine der Ersten sein, die zum ersten Mal seit dreizehn Jahren Nightfallcastle betritt. Das ist so aufregend.«

»Warte noch einen Moment!« Matt nahm seinen Schal ab und wickelte ihn Lilith mehrmals um den Hals. »Zur Sicherheit. Er ist zwar nicht aus Eisen, aber so bist du wenigstens etwas geschützt.«

Lilith lächelte ihn dankbar an, dann ging sie langsam auf das Tor zu. Während sie sich Schritt für Schritt näherte, versuchte sie, Strychnins unheilvolles Wimmern hinter sich zu ignorieren. Schon von Weitem waren ihr die Greife groß und eindrucksvoll erschienen – nun, da sie direkt vor ihnen stand, überragten ihre massigen Löwenkörper sie um einige Haupteslängen und mit Schaudern betrachtete sie die vor Kraft strotzenden Körper, krallenbewehrten Tatzen und spitzen Schnäbel. Ein vielstimmiges Knacken ließ sie zusammenzucken und ängstlich auf die Greife starren – bis ihr klar wurde, dass sie nur auf eine gefrorene Pfütze getreten war. Wie ein zersplitternder Spiegel war das Eis unter ihren Füßen in hundert Einzelteile zerbrochen.

Lilith sah wieder auf, atmete tief ein und trat entschieden auf das Tor zu.

»Ich … ich bin eine Nephelius-Erbin«, sagte sie und ihre Stimme klang dabei alles andere als selbstsicher, »und möchte Nightfallcastle betreten.«

Die Greife erwachten zum Leben.

Liliths Herz klopfte ihr bis zum Hals. Plötzlich überkamen sie Zweifel, ob sie bei einem Angriff der Greife tatsächlich schnell genug reagieren konnte …

Mit einem steinernen Knirschen wandten die Wächter Lilith ihre Adlerköpfe zu und stellten die Speere, genau wie bei Strychnin, neben sich. Der entscheidende Moment war gekommen.

»Du weißt doch: Nur Mut, Nephelius!«, rief ihr Emma zu.

Strychnin dagegen stieß ein tief empfundenes Schluchzen aus, gefolgt von einem halb gemurmelten: »Elender Dämonenrotz, wenn sie stirbt, muss ich ins Schattenreich zurück.«

Liliths Beine fühlten sich steif an, als sie einen weiteren Schritt auf das Tor zumachte. Ihre Augen huschten so schnell zwischen den Wächtern hin und her, dass ihr schwindelig wurde. Noch immer starrten sie Lilith unentwegt an und schienen jede ihrer Bewegungen zu verfolgen, doch offenbar hatten sie nicht vor, Lilith aufzuhalten.

Sie hob ihre Hand. Langsam, ganz langsam näherten sich ihre Finger dem Riegel, der das Tor verschlossen hielt. Liliths Herzschlag beschleunigte sich noch einmal: Gleich würde sie die Burg ihrer Vorfahren betreten, das frühere Zuhause ihrer Mutter!

Zuerst hörte Lilith das Knirschen – erst dann nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Die Speere sausten von beiden Seiten auf sie zu.

Es ging so schnell, dass sie nicht einmal Gelegenheit hatte zurückzuzucken. Mit einem pfeifenden Geräusch näherten sich ihr die Speere und der Luftzug streifte über ihr Gesicht.

Dann verharrten die Wächter wieder in ihrer steinernen Regungslosigkeit. Lilith nahm die gekreuzten Speere vor ihren Augen nur verschwommen war und taumelte, immer noch starr vor Schreck, zurück.

Nur langsam sickerte die Erkenntnis dessen, was geschehen war, in ihr Bewusstsein: Die Wächter hatten ihr den Zutritt verweigert.