Zu Gott fällt mir nichts ein. Ostdeutschland ist aber voll von Kirchen. In der Grundschule wurden Zettel verteilt. Zwei Drittel der zweiten Klasse, es war 1993, kreuzten an, evangelisch zu sein. Man hätte noch »katholisch« ankreuzen können oder »gar nichts«. Für »jüdisch« war kein Kreuzchen vorgesehen. Ich glaube, weil niemand geglaubt hat, dass es hier noch Juden gibt. Und ohne Kästchen, auf dem man ein Kreuz machen kann, gibt es sie dann auch nicht. Meine Mutter hat das der Klassenlehrerin gesagt, und die hat gesagt, dass ihre Kinder dann am besten den »Ethikunterricht« besuchen sollten. Damals hatte ich keine Ahnung, warum meine Mutter ein Kästchen für die Juden auf dem Zettel vermisste, sie erzählte es uns erst viel später. Da nur die Familie meines Vaters in Erscheinung trat, war das, was ich wusste, dass dieser Teil der Familie in Kirchen rennt. Zu Weihnachten hauptsächlich.
Und es gibt Volkshäuser. Da feiern wir Fasching, Kirmes mit Tanzkapellen, das, was »noch erlaubt« ist. Heute gibt es Jugendweihe. Wir sind 14 Jahre alt. 1999. Am Morgen lege ich die einzige Schallplatte auf, die ich besitze, auf einem aus Sentimentalität gekauften Plattenspieler. Die Platte ist aus der Stadtbibliothek ausgeliehen. Unsere Englischlehrerin |146|Dr. Andrea Linhart hat uns auf Janis Joplin gebracht. Sie liebt Janis Joplin. Wir haben Summertime, Mercedes Benz und Bobby McGee ein ganzes Jahr behandelt. Leistungskurs. Auf dem Lehrplan stand es nicht. Janis Joplin.
Meine Mutter möchte Mercedes Benz und Summertime auf eine Kassette überspielt haben. BASF-Kassetten sind die besten. Ich mache für alle Mixtapes: hauptsächlich Hendrix, Joplin, Cash. Rest vergessen. Knüpfe an eine Zeit an, die ich verstehen kann. Take another little peace of my heart …
Und vor dem Volkshaus, groß, grau, Grabstein, stehen Mädchen in Ballkleidern und daneben, eigene Gruppe, dünne Jungs in Anzügen mit breiten Schulterpolstern, als hingen sie noch am Bügel. Ich trage ein cremefarbenes Kostüm aus dem Otto-Katalog, 70 Mark. Meine Schuhe sind golden und haben Klettverschlüsse, Reno, 20 Mark. Die Strumpfhose hat eine Laufmasche. Das ärgert mich. Bitte seht mir nicht an, woher ich komme. Lasst mich fortgehen aus der Jugend. Lasst mich in Ruhe. Try just a little bit harder.
Immer wenn ich in einen Supermarkt ging, wurde ich von einem Ladendetektiv verfolgt. Ich fühlte mich schon durch den Umstand beschämt. Ich konnte mich auch nicht mehr konzentrieren. Einmal verfolgte mich ein Ladendetektiv von der Salatbar über den Käsestand bis zur Fischtheke. Das war in einer Karstadt-Lebensmittelabteilung, da, wo man wirklich aufpassen muss, was man kauft. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Nicht mehr rechnen. Ich musste rechnen, weil es die letzten 20 Mark waren, die ich hatte. Ich bin fast wahnsinnig geworden. Man versucht dann so breitbeinig und luftig zu laufen, wie es nur geht, wie jemand, der nichts zu verstecken hat. In der Süßigkeitenabteilung fummelte er |147|hinter mir an den Nimm Zwei herum. Er hatte keinen Einkaufskorb und Nimm Zwei kaufte hier schon längst niemand mehr. Ich glaube, es war an einer Kühlbox, in der frische Ravioli lagen, als ich ihn angesprochen habe. »Bin ich denn so auffällig?«, fragte ich ihn. Nein, nein, sagte er, alles ganz zufällig, Einbildung. Ich glaube, er war neu. Jedenfalls dachte ich, dass ich ihm gern eine reinhauen würde, einfach nur weil er mich für so dumm hielt, einerseits, andererseits, weil er offenbar dachte, dass ich nicht weiß, was ganz unten ist. Dass ich wegen meiner billigen Turnschuhe und des grauen Fruit of the Loom-Kapuzenpullovers der Prototyp eines Diebes sei. Ich hatte Angst, es wirklich zu sein. Ich wollte besser sein. Ich wollte nicht von einem Ladendetektiv verfolgt werden. Vor allem dann nicht, wenn man wirklich konzentriert rechnen muss, was man kauft. Ob das der Grund ist, warum man sich auf Markenklamotten verlässt? Der Ladendetektiv verfolgt einen dann nicht, nehme ich an.
Es ist April 1999, ein Nachmittag, an dem der Nebel verschwindet, weil es jetzt regnet. Das Volkshaus ist auf einem Hügel gebaut. Warum auch immer. Drum herum Felder. Von den oberen Stufen der Treppe schaut man in das Tal, ein Dorf, rote Dächer, etwas weiter ein Kirchturm, alles normal.
Ein Bus hält vor dem Eingang, Türen auf, Türen zu, niemand steigt aus, niemand ein. Wer sollte hier aussteigen, also dort einsteigen, um hier auszusteigen, wo es nichts gibt außer der Bushaltestelle? Trotzdem fährt dreimal täglich ein Bus hier hoch. Jedenfalls: Die Bushaltestelle ist neu, aus Glas.
Busfahrer sind hier entweder auf eine geisteskranke Art unfreundlich oder depressiv. In unserem Schulbus hat der Fahrer einen Zettel an die Schutzscheibe hinter seinem Sitz |148|geklebt, auf dem in Regenbogen-Clipart-Typo zu lesen ist: »Das Leben ist nicht nur schlecht, es hat auch seine Schattenseiten.« Da starrt man morgens drauf und überlegt, ob der Satz Sinn ergibt, und darf dann in die Schule. Zynismus wird oft mit Intelligenz verwechselt. Und die neuen Bushaltestellen sind doof. Egal.
Da kommt Frau Reiher. Sie ist klein, trägt ein graues Kostüm. – »Wir sehen hier das Modell Jasmin, ein elegantes Kostüm im Arbeiterlook für die vielseitige Frau, pflegeleicht elegant. Auch Sie können frühlingsfroh aus der Spezialverkaufsstelle HO Stalinallee, Berlin, herauskommen. Nur … hineingehen müssen Sie erst einmal.« – Jugendweihe ist nichts für Atheisten, es sei denn, Atheisten feierten mit Kinderchor und Blaskapelle im Volkshaus ihren Eintritt in den Atheismus, und das tun sie ja nicht. Soweit ich weiß.
Im Volkshaus wohnt die DDR, deren Vergoldung mit Fernsehshows und lustigen Büchern gerade erst begonnen hat. Inzwischen hat sie die Fata Morgana eines süß-unbeholfenen Staates, in dem es keine Bananen gab. Was mich betrifft, interessiere ich mich ausschließlich für das Geld. Das bekommen wir von den Verwandten, die zahlreich eingeladen sind. Was aber überhaupt nicht einleuchtet, ist die Tatsache, dass die Jugendweihe als ein sozialistisches Ritual überlebt hat, dass sich aber kein Schwein für den Schriftsteller Peter Hacks interessiert oder wenigstens für Filme wie Paul und Paula oder Filme von Konrad Wolf. Solche Sachen sind wie vom Erdboden verschluckt, und ich selbst bin da nur durch Zufall drauf gestoßen, weil um 2 Uhr morgens mal im MDR so eine Doku lief.
|149|Nadine sagt: »Ich hab die Tarotkarten dabei.«
Jacqueline sagt: »Ich hab mir geschworen, ich hör auf mit Rauchen, wenn die drei Mark kosten, dann, wenn sie vier Mark kosten und jetze sind’s fünf. Hallo?«
Simon sagt: »Na, ihr Freaks. Übrigens, heute Geburtstag vom Führer. Sag mal, was sind das denn für Botten?«
Ich: »Reno.«
Christian: »Gib mal.«
Ich ziehe einen Schuh aus und gebe ihn ihm. Keine Ahnung, warum ich so dämlich bin, ich würde gern dazugehören. Christian nimmt Anlauf. Der goldene Schuh fliegt in einem wunderschönen Bogen, blitzt einen Moment in der Sonne und landet irgendwo im Acker. Lachen sich alle kaputt. Ich bin eigentlich dankbar, weil: goldene Schuhe, keine Ahnung, was ich da gedacht habe, wahrscheinlich hab ich mich auf den Rat der Verkäuferin bei Reno-Schuhdiscount verlassen. Barfuß vor hundert Menschen auf die Bühne zu gehen, das ist, wie im Ethikunterricht seine Hobbys vor der Klasse pantomimisch darzustellen. Kackepissefotzearschschwimmen? Man muss jetzt so tun, als ob man’s nicht merkt.
Simon klopft Christian auf die Schulter. Simon hat keine Glatze, er hat so eine schneidige Heinrich-Himmler-Frisur, wasserstoffblond gefärbt, und trägt normalerweise Dr. Martens, eine graue Bomberjacke von Alpha Industries, Polohemden von Fred Perry und eine kleine runde Brille von Fielmann. Er ist überdurchschnittlich gut ausgestattet. Was ihn zu einer Art Anführer macht. Er ist meist gut gelaunt, und die Lehrer lieben ihn. Die meisten haben nur die Fliegerjacke von Alpha Industries. Am Tag der Jugendweihe trägt er einen cremefarbenen Anzug mit schwarzen Nähten, |150|der nach Eisverkäufer aussieht. Der Neonazistil ist der klassischste, den man im Osten finden kann. Ziemlich teuer, gute Qualität. Jedes Jahr gleich, keine Mode, es ist eine Uniform. Der Rest kauft bei H&M oder bestellt aus dem Otto-Katalog. Fast alle haben wir die gleichen Jacken und Fruit of the Loom-Pullover. Individualität ist nur eine kurz anhaltende Fiktion. Den durchschnittlichen Neonazi gibt es nur, weil er sich anders kleidet. Meine Theorie ist, dass der Neonazi nur eine Moderichtung der Neunziger im Osten ist. Ich meine damit nicht die Extremisten und Gewaltprolls aus der Hauptschule, die jedes Jahr Demos gegen Juden und Homosexuelle veranstalten. Ich meine nicht diejenigen Glatzen, denen man ins Hirn geschissen hat, die uns am Abend mit Baseballschlägern von der Bushaltestelle an hinterherlaufen. Wir haben uns nur aus Angst in die Hosen gemacht, einen fleißigen Gemüsevietnamesen hat es sein Gehirn gekostet, das lag auf der Straße. An unserem Dorfgymnasium trägt praktisch jeder Junge mit spätestens 14 Alpha Industries. Das nimmt man genau. Billige Kopien gelten nicht. Auf den Dörfern hat das nichts mit Feindbild zu tun. Es ist erst mal nur die Randzonenmode für den Mann. Identität, die man annimmt, wenn man sie anzieht. Unsere kleinen Neonazis unter Simon haben Brillen und Wirbel am Hinterkopf. Sie mögen Mathe. Während ihre Väter immer noch den Verlust ihrer Männlichkeit im Vergleich zu ihren westlichen Pendants betonen, werden die Söhne, um gar nicht erst angezweifelt zu werden, äußerlich gewaltbereit mit Stahlkappen in den Schuhen. Mode als Verteidigung.
»So, Alter, viel Spaß aufm Acker. Den holste jetzt wieder zurück. Spinnst wohl!« Dass Simon, in seiner Bomberjacke |151|und mit seiner Heinrich-Himmler-Frisur, seinem Untergebenen befiehlt, meinen Schuh vom Acker zu holen, auf dem, es ist ja Frühling, gerade ein zweites Mal die Gülle ausgefahren wird, ist überhaupt nicht mehr merkwürdig. Ich kann es aber immer noch nicht fassen. Seit einem Jahr geht das so. Damals klingelte das Telefon, und meine Mutter teilte uns mit, dass ihre Mutter tot sei. Aha. Selbstmord. Aber sie war schon alt. Und immer schwierig. Hatte es auch schwer, als Adoptivkind, als Jüdin, überhaupt irgendwie.
Da saßen sie: die schönen, tragischen Hünniger-Kinder, nahmen jetzt in der ersten Reihe Platz.
Simon sitzt in Geschichte neben mir, und als der Geschichtslehrer fragt, wie es dazu kommen konnte, dass die Juden verfolgt werden konnten, da sagt Simon, dass die Juden halt auch immer so geldgierig seien und ehrgeizig und man sie an komischen Namen und an der großen Nase erkenne. Und dann guck ich Simon an und Simon mich und Simon sagt: »Ja, nicht du, die anderen. Also früher. Manche von ihnen. Glaube ich.«
»Ne, Simon, das stimmt nicht.« Seine Mutter ist Deutschlehrerin, Frau Ostermann.
Volkshaus: Christian stapft im Güllefeld herum und sucht einen goldenen Schuh. Opas rücken an, Schiebermützenmeer, graue Anoraks, Hände am Rücken weggesteckt. Sie sehen immer ein bisschen aus wie teilweise gelähmte Triceratops. Auf dem Asphalt liegt etwas, das da nicht hingehört. Mit dem rechten Fuß ganz bisschen Anlauf genommen und über den Bordstein gestupst, so, is wieder sauber, Fuß auf die dritte Stufe der Treppe stellen und mit dem Taschentuch |152|Schuh abreiben. Ordnung muss sein. Haus betrachten, guck an. Wunderschön. Was wir da wieder geschafft haben. Volkshaus, Kirche des Ostens. Es ist, als hätte der Sozialismus das religiöse Gefühl irgendwie absorbiert, und was von ihm blieb, das sind nun diese Betbrüder. Übel. Diese Schmachterei. Na gut, eines Tages werden wir wie sie sein. Ist das Leben nicht eigenartig?
Frau Reiher nennt uns Jugendweihe-Jugendliche, klingt wie ein Amtsbegriff. Frau Reiher hat das eingeführt, sie hat für alles eine Art Amtsbegriff. Jugendweihe-Jugendliche, ehrenamtlich befugt, ich verspüre den starken Wunsch, auf den Acker zu laufen und zu kotzen.
Meinem Großvater geht es auch so, er kommt deshalb nicht. Vor ein paar Jahren war Schlachttag auf dem Hof meiner Großeltern, und an dem Tag habe ich alles verstanden. Die Ostdeutschen, ihren Glauben, Morphium, wie man ein Kaninchen schlachtet und die Stasi.
Als er ganz früh am Morgen dem Kaninchen mit der Hand das Genick brach, kam ich zufällig aus dem Haus. Bemerkt hat er mich nicht. Er stand mit dem Rücken zu mir, ich konnte nur das Kaninchen sehen. Ein Bluttröpfchen hing an der Nase. Dann hat er das Tier an den rostigen Nagel gehängt: Messer, Fell am Kaninchenschwanz aufschneiden, Fell zum Kopf hin abziehen. Bauch auf, Gedärme fallen in den Eimer. Der Eimer ist grün. Rote, dicke Schnur hängt herunter, wird abgeschnitten, fällt in den Eimer. Grüner Eimer wird an die Seite gestellt. Kaninchen ganz dünn geworden. Blut krabbelt zum Gully.
»Huch«, sagte mein Großvater, als er sich umdrehte, mich bemerkte, sich dann hinunterbeugte und im grünen Eimer zu |153|wühlen begann. »Na, was sagst du dazu? Eine schöne Leber.« Auf dem Land werden Tiere geschlachtet. In der Stadt werden sie gestreichelt. Auf dem Land hat das Kaninchen den Job, fett zu werden. In der Stadt hat das Kaninchen einen Namen.
Auf dem Land ist die Nacht schwarz. Nichts trennt dich von Tieren. Über den Hof rennt ein Marder und wühlt in den neuen Forsythien, Katzen. Hunde bellen irgendwo. Dann knacken die Balken. Das Holz arbeitet, sagt Opa. Scheunen mit Fachwerkmauern. Eine Festung. Morsche Balken, rostige Maschinen, altes Spielzeug, Matratzen. Herumgeschlichen, zitterndes Licht aus der Taschenlampe, etwas gefunden, vergessen, was. Draußen wachsen die Weintrauben, drinnen die Schweine. Im Sommer steigen wir auf den Heuboden, beobachten von dort den Hof, obwohl da gar nichts zu beobachten ist, die Katze vielleicht. Hinter den Scheunen die Hühner, der Gockel pickt Birgit in den Arsch. Land eben.
»Kräfte, die wir nicht kennen …« Diese Worte darf man auf dem Hof nicht aussprechen, ohne dass man von einem Hohngeschrei überfallen wird. Es gibt keine Kräfte, die wir nicht kennen. Bei dir piept’s wohl.
Auf dem Bauernhof anwesend: Großvater, Großmutter, Onkel, Tante, meine Cousine Carolin, zwei Katzen, ein Schwein, sechs Kaninchen, Hühner.
Carolin hat eine Zahnspange. Die legt sie am Abend in eine rosa Plastikdose. Das ist etwas Besonderes.
Der Hof liegt in einem Dorf: Zwei Straßen, Friedhof, Kirche und eine Kneipe gibt es, mit Saal dahinter, für alles, was anliegt zwischen Geburt und Tod.
|154|An Stalingrad, sagt mein Großvater, kann er sich nicht mehr erinnern. Auch nicht an die Gefängnisse. Er redet nicht gern darüber. An einem Nachmittag hat mein Vater am Tisch trotzdem gefragt. Er solle doch einmal den Enkeln erzählen, wie das war: Krieg, Stalingrad, Gefangenschaft. Birgit verdreht die Augen. Michel muss lachen.
»Ja, ach, nö, Peter«, beginnt er, »in Stalingrad sind die Toten am Boden festgefroren. Und als sie uns geschasst haben, sind die meisten verreckt, weil’s nüscht zu fressen gab. Oder wenn du zum falschen Zeitpunkt gefurzt hast.«
»Ich glaube, das reicht«, sagt meine Mutter.
»Du, Opa, Buchenwald ist doch gleich hier hinter dem Wald, wie kann man da nichts merken?
»Aufn Buchenwald ist ja keiner hingegangen, da war was, das wusste man schon. Arbeitslager für Diebe, Kommunisten, mehr konnte ja keiner wissen, weil: Wer da in die Pilze gegangen ist und zu nah dran kam, wurde sofort gekascht.«
Dann erzählt er eine Geschichte, in der er Adolf getroffen hat. Mein Großvater war Chef der LPG. Es gibt ein kleines Bücherregal, es steht ganz weit hinten in der Ecke der Diele. Da steht ein dickes Lexikon über Abzeichen und Orden, Bildbände zu Stalingrad, verschiedene Bildbände: Bildband Der II. Weltkrieg, Bildband zu Adolf Hitler, Bildband Panzer im II. Weltkrieg, Bildband Der Nationalsozialismus in Bildern, daneben die Musikkassetten von den Flippers und viele CDs mit lachenden blonden Frauen, die immer Marianne heißen und ein Dirndl tragen.
Im Krieg waren nur noch Frauen auf dem Hof. Das muss schon ein seltsames Bild gewesen sein: im ganzen Dorf nur Frauen. Bis die Russen kamen.
|155|Sie sagten, dass da endlich ihre Befreier gekommen seien. Die Deutschen müssen immer befreit werden. Also, sie sagten erst hinterher, dass sie befreit werden mussten, auf Rettung warteten vor dem Tyrannen.
Als die russische Armee gerade das Dorf befreite, da sahen die Offiziere den Bauernhof. Und zogen da ein. In die gute Stube, gaben von dort ihre Kommandos. Man habe so seine lieben Sorgen mit denen gehabt. Die Stube sei ja sonst nur am Sonntag genutzt worden. Die Russen hätten ja noch nicht einmal die Schuhe ausgezogen. Die Russen hätten alle Vorräte für den Winter aufgegessen. Die Russen hätten sich überhaupt nicht benehmen können.
Nach den Russen kam die DDR und alle wurden Kommunisten. Großvater leitete die LPG, hatte beste Drähte in die Partei. War fleißig. Aber die Kinder wurden alle getauft und am Sonntag gingen alle in die Kirche. Als der Sozialismus wieder eingepackt wurde, da gehörten meinem Großvater plötzlich Hunderte Hektar Wald, Feld, Wiese.
Wir knüpfen jetzt gern an andere Zeiten an. Deutsch? Das ist Bauhaus. Deutsch? Golden Twenties in Berlin. Deutschland? Einig Mutterland. Ausrutscher passieren.
Großmutter kommt an diesem Morgen aus dem Haus gelaufen. Ich spiele im Hof mit dem Jagdhund. Er will nicht hören. Er will nicht durch den Reifen springen. Ball and chain.
Sie winkt mich zu sich. Wir gehen den Hügel hinauf zum Friedhof. Es ist das einzige Ziel im Dorf, außer der Kneipe. Der Konsum hat geschlossen. Neben dem Friedhof steht die Kirche. Schlau ist das, alles auf einen Fleck zu packen. Ein Spielplatz ist da auch, der hat eine Schaukel.
|156|Großmütter machen sich immer Sorgen. Meine Großmutter spielt Lotto. Am Abend schaut sie fern, um zu sehen, ob sie gewonnen hat. Ganz unauffällig, während sie Großvater ein Brot schmiert und die Rinde abschneidet, weil dem Stalingrad-Großvater die Rinde zu hart ist. Dann gibt sie Opa eine Spritze mit Morphium und er schläft.
Auf dem Friedhof nimmt sie eine Gießkanne, füllt Wasser hinein, schleppt sie zu einem großen Grab aus grauem Stein, rupft Unkraut raus, gießt die Stiefmütterchen. »Wenn du stirbst«, sage ich, »kann ich deine Kommode haben?«
Vom Friedhof geht meine Großmutter in die Kirche, um eine Kerze anzuzünden und den lieben Gott um Gesundheit und die richtigen Lottozahlen zu bitten. Ich warte vor der Kirche, rupfe Löwenzahn, irgendwo steht da etwas auf Latein, das wirkt bei jedem, der es nicht versteht.
Großmutter hofft auf die Lottozahlen, und sie hofft auf den lieben Gott, und beides bedeutet hier das Gleiche, nämlich gar nichts. Und im Ernst: Ich glaube nichts. Wer glaubt denn? Hörst du eine Geschichte, fragst du als Erstes, ob sie wahr ist. Ich weiß nicht, wie das ist, zu glauben. Ich würde gern an etwas glauben. Wer glaubt, ist bescheuert. Es ist schwer, zu glauben. Würde ein Ufo auf dem Feld landen, würden wir vorbeigehen oder wir würden glauben, bei Versteckte Kamera zu sein. Hey, Leute, hier verarscht uns wer. Das Fernsehen oder das Wetter. Oder zu viel Kaffee getrunken oder sonst was. Ich denke an so etwas wie das nächste Jahr. Wenn ich beten könnte, ich würde beten.
Als wir vom Friedhof zurückkommen, steigen meine Eltern aus ihrem Opel Vectra aus, und Birgit und Michel sind schon bei den Kaninchen und streicheln sie.
|157|Es sind auch andere gekommen. Heute ist Schlachttag, da wird das Schwein mit einem Bolzenschussgerät in den Kopf geschossen, und dann wird es mit kochendem Wasser übergossen, so dass man die Borsten abreiben kann. Und dann alles so wie beim Kaninchen. Es sind aus dem Schlachthaus zwei Schlachter gekommen. Sie essen schon Kuchen. Zwei alte Männer sind da, wir sagen Onkel, sind aber nicht verwandt mit ihnen.
Meine Tante hat schon ein Buffet aufgebaut: ein Berg Schinkenröllchen, ein Berg Hähnchenschenkel, ein großer Topf Chili con Carne, eine Pyramide Hawaii-Toast, sieben Bleche Kuchen, eine Schwarzwälder Kirschtorte.
Meine Mutter sagt: »Na, das wird heute eine große Runde.«
»Ja, wir sind acht Leute. Meint ihr, das reicht?«, sagt meine Tante. »Die Mutter isst ja sowieso nichts, die geht lieber beten. Deine Tochter schleppt sie nun auch schon mit.«
Meine Tante meint, dass uns der liebe Gott nicht schützen könne, wohl aber zum Beispiel das neue Geländefahrzeug mit Stahlstangen vor der Motorhaube. Logisch. Unfälle? Da würde der liebe Gott, selbst wenn er wollte, nichts dran ändern. Und wie ihr das auf die Nerven gegangen sei früher, der Gang zur Kirche und immer singen.
Viel Wichtigeres geschah nämlich auf Erden, im Dorf, auf den Straßen: eigenes Land, Pralinen, leise Autos, Landrover und Mercedes-Benz, die auf den Hof kamen. Oh Lord, harte Währung, harte Fakten. Der Hof ist gleich nach der Wende modernisiert worden, aber er sieht trotzdem noch historisch aus.
Wir durften im neuen Benz mitfahren. Aber uns ist gleich schlecht geworden. Es roch nach Gummi und Reinigungsmitteln. |158|Es wurden dann immer Kaugummis verteilt, bevor wir in eines der neuen Autos stiegen.
Die Feste werden so rauschhaft, als müssten wir etwas nachholen. Es gibt immer so viel zu essen, dass alle schon ziemlich dick geworden sind. Das neue Angebot muss man wahrnehmen, nichts unversucht lassen, für jede Neuheit aufgeschlossen sein. Schließlich hat man viel zu lange entsagen müssen und in einem Land des Wartens gelebt. Überhaupt absurd, erinnern sich die Erwachsenen schmunzelnd, dass es zwölf Jahre gedauert hat, bis ein Auto gebaut war. Dass einem schließlich beim Geknattere der ersten Fahrt die Tränen kamen und es sich anfühlte, als seien Geburtstag und Weihnachten zusammengefallen. Das kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen, wie das war. Das war im Sommer 1993, als sich das keiner mehr vorstellen konnte.
Wir essen und alle reden über Geld. Und wie schlecht die Verhältnisse sind. Es gibt drei Themen am Tisch: Geld, Angebote bei Rewe und Krankheiten. Plötzlich hat jeder Zucker. Insulin ist längst so berühmt wie Micky Maus. Und wer nicht Diabetes hat, der hat praktisch keine Frisur. Gelenkschmerzen, Atemnot, Schwächeanfälle im Sommer, pfuschende Ärzte, falsche Medikamente und unvergleichlich hartnäckige Schmerzen werden wie Motorleistungen verglichen.
Mein Vater sagt, dass der Mangel nicht nur schlecht gewesen ist, dass Überfluss und zu viel Konsum blöd und faul machen und dass wir nur dafür gut sind, Geld auszugeben für Quatsch, den niemand braucht und der sich obendrein durch schlechte Qualität auszeichnet. DDR, das sei Vorfreude als Dauerzustand gewesen. Warten, ohne zu wissen, ob es sich lohnt – das sei doch wie Weihnachten gewesen.
|159|»Ach Peter«, sagt seine Schwester und zieht den Namen in die Länge, als müsse sie ihn über den Tisch reichen, »das ist doch gar nicht wahr.« Mein Vater verliert in drei Sekunden zehn Kilo Gewicht. Er hat nicht recht.
Jeder stochert auf seinem Teller, und es ist eine Weile still, bis meine Tante sagt: »Aber wir haben jetzt eine Fritteuse. Rommelsbacher FR 1.«
Nachdem das Schwein geschlachtet und Wurst gekocht war, saßen wir wieder am Tisch, und es gab ein neues Buffet. Der alte Nachbar von gegenüber war dazugekommen. Es wurde sich nach Gesundheit und Wohl der Kinder erkundigt und nach den Geschäften. Er habe sich ja nun selbständig gemacht und verkaufe ja nun »über tausend Computerschriften«. Foelkel war ohne Zweifel ein sehr schlechter Unternehmer, das schwerfällige A, das er vor seinem Haus über einer Sandsteinmauer aufgestellt hatte, ragte zwei Meter in die Luft und leuchtete in der Nacht. Der breitbeinige Buchstabe stand da, ein Koloss von Rhodos, und außer den Nachbarn hatte von seinem Geschäft noch niemand gehört.
Meine Tante verließ den Tisch, sie sorgte sich um den spezifisch ländlichen Dorfcharme, den sie bedroht sah von einer großen Leuchtreklame. Aber heutzutage darf man ja keinen mehr zu etwas zwingen.
Jetzt stehen wir schon brav auf der Bühne, und Frau Reiher sagt noch kurz ins Mikrofon, dass wir nun Abschied nehmen müssen von der schönen Kindheit und dann mal los ins Leben und noch irgendeinen Quatsch, für den sie ausgepeitscht werden sollte.
|160|Und dann sehe ich das, was ich am Sozialismus wirklich liebe. Drei gigantische Kronleuchter, an denen Hunderte Glasstäbchen hängen, könnte auch eine optische Täuschung sein, damit muss man rechnen. Im Osten ist die Holzwand dann doch nur Tapete, der Marmorboden aus Stein und Wollpullover aus Man-weiß-es-nicht, etwas, das kratzt und Allergien auslöst. Der Kronleuchter ist schön. Das Schönste daran ist, dass man nie nah genug herankommen wird, um zu sehen, ob es wirklich Kristalle sind oder Glas oder Plastik. Egal. Hauptsache, es funkelt. Wir sind jetzt sozialistisch getauft. Auf der Urkunde, die wir bekommen, steht in Fraktur »Urkunde«, kleiner gedruckt der Name, darunter Fantasiestempel, krikelkrakel, fertig.
Vor ein paar Tagen standen zwei schöne Frauen vor mir in der Fußgängerzone, ich war mal bei Pimkie drin, und als ich rauskam, standen die da und fragten, ob ich schon mal über Gott nachgedacht hätte. Tja, Gott, also Gott, ja, noch gar nicht so richtig, sagte ich, nachgedacht jedenfalls nicht. Gab es den denn etwa? Ob ich einer Kirche angehöre, fragten sie. Na ja, das Einzige, sagte ich, was bei Kirche sofort vor mir auftaucht, das ist die Inquisition. Aha, falsche Antwort. Sie seufzten nämlich ausgiebig, schauten sich an, nickten. Sie sprachen mit amerikanischem Akzent, hatten lange lockige, extrem gepflegte Haare, Gesichter, Körper.
Wie bitte? Ob ich gestresst sei? O ja, sicher, sehr, sagte ich und genoss den besorgten Blick der beiden. Dann solle ich doch mal mitkommen. Das war so irre, weil die ein gelbes Zelt direkt vor dem Nationaltheater aufgebaut hatten, was bisher nur Bratwurstverkäufern erlaubt gewesen war. Vor dem gelben Zelt stand einer und verkaufte ein Magazin. Der |161|sah fertig und traurig aus und hatte total fettiges Haar. Im gelben Zelt war alles gelb. Zwei Plastikröhren sollte ich halten, und dann sagte die Frau: »Viel zu tun in der Schule? Streit mit den Eltern?« Mir schien, dass sie sich damit sehr gut auskannte.
Meine Mutter steht unter der Dunstabzugshaube in der Küche und brät Reis an. »Mama, kann ich morgen zu Scientology?«
»Hä?«
»Mach doch mal die scheiß Lüftung aus!«
»Was ist denn?«
»Hörst du mich?
»Ja.«
»Hörst du mir zu?«
»Langsam machst du mich meschugge. Nu red.«
»Ich würd gern mal zu einem Vortrag von Scientology, die waren sehr nett. Die haben einen Stresstest gemacht«, sage ich.
»Und was kam dabei heraus?«
»Tja, dass ich sehr gestresst bin.«
»Und?«
»Die haben morgen so ein Treffen, mit allen Interessierten. Kannst du mich hinfahren?«
Meine Mutter macht erst mal das, was sie immer, immer, immer macht, wenn sie etwas nicht ganz verstanden hat: Sie geht ans Bücherregal, kommt mit dem Lexikon zurück und blättert. »Nö, Scien…, ne, steht hier nicht drin. Was soll das sein?«
»Die haben ein gelbes Zelt.«
»Dein Vater ist Kommunist und ich, na, weißt schon. Reicht dir das nicht?« Sie klappt das Buch mit einem lauten |162|Knall zu. Ja, genau, ich bin Ostdeutsche und Jüdin und sonst nichts.
Das Problem mit der Judensache war, dass von uns jedenfalls niemand wusste, was man als Jude nun zu tun hatte. Hat natürlich keiner je eine Synagoge von innen gesehen. Nicht einmal von außen. Es hatte nur diesen Anruf gegeben, und danach hieß es, deine Großmutter hat sich umgebracht, und wir sind Juden. Der Anruf kam von Frau Blümchen. Die heißt wirklich so. Und die Großmutter hieß Lore Wünsch. Wir sind dann nach Flensburg gefahren, da hat sie gewohnt. Und stehen vor einer Wiese. Wir sind gleich raufgerannt und haben uns hingelegt, es war noch warm und das Gras sehr gepflegt. Frau Blümchen sagte dann, dass da meine Großmutter liegt, unter dem Gras, und wir sind ganz schnell wieder aufgestanden. Sie übergab uns ein Kästchen mit Ketten und alten Schlüsseln und eine kleine Menora, die alt und wertvoll aussah, aber innen hohl und ganz billig war. Der Abschiedsbrief ist datiert auf den 3. Oktober 1994.
Ich fand das Datum irgendwie kitschig. Sie war 1984 ausgereist, sie sagte, die DDR zu verändern, das wäre wie Revolution auf der Titanic. Sie war in der SED und hat für die Zeitung geschrieben. Die SED mochte sie nicht und hat sie irgendwann rausgeschmissen. Die Zeitung auch. Move over.
Meine Großmutter kam als jüdisches Hausmädchen 1931 schwanger nach Deutschland und putzte in Berlin bei einer bürgerlichen Familie. In dem Haus wurde das Kind geboren. Während des Krieges verschwand sie und versteckte sich irgendwo, keiner weiß mehr. Nach dem Krieg hatte sie ganz weißes Haar und besuchte die Familie und ihre Tochter, die nicht mehr wusste, dass das ihre Mutter war. »Lore, du siehst genauso aus wie dein Vater«, sagte sie, und Lore guckte den Mann |163|an, den sie für ihren Vater hielt. Da saß ein blonder Mann mit Scheitel, roten Wangen und blauen Augen. Ihre Augen waren schwarz und ihre Haare auch und ihre Haut ganz weiß. Tell Mama.
Als ich in die Aula des Schiller-Gymnasiums gehe, habe ich die Jugendweihe schon vergessen und wundere mich über gut angezogene Schüler, die jedenfalls keine Dr. Martens und auch keine Fred-Perry-Polohemden tragen. Das Schiller-Gymnasium ist in der Stadt, die Lehrer sollen in Ordnung sein. Es gibt hier sogar Schachgruppen und Astronomiegruppen. Etwa 500 Schüler laufen nervös vor dem Mikrofon auf und ab. Als er hereinkommt, stehen alle auf, um einen Blick auf ihn zu werfen. Ich glaube, wir bewundern ihn. Sein Name ist Revolution. Friedrich Revolution Schorlemmer.
Ich habe mir ein Notizheft gekauft. Als er zu reden beginnt, wird es ganz still im Saal. Sprich zu uns, Friedrich Schorlemmer, sag, was es zu tun gibt, peitsch die Menge auf, halte uns in Bewegung. Gib uns einen Grund.
Er redet dann über Gedichte. Okay. Er sagt: »Wenn Sie raus in die Welt gehen, haben Sie immer ein Gedicht im Kopf!« Und? War das alles? Ja, das war alles.
Dann geht er von der Bühne, und die Lehrerinnen werfen sich auf ihn. Blumenstrauß. Orden.