Baum-Kolumne.jpgKapitel 1
Eine Stimme in der Nacht

„Surprise!“

Die Stimme dröhnte in mein Ohr und weckte mich aus einem tiefen Schlaf. Ich blinzelte und versuchte zu sehen, wer zu dieser Nachtstunde meinen Namen rief, doch es war stockfinster in der Hütte meiner Familie. Ich konnte die Hand nicht vor den Augen sehen.

Einen Moment lang lag ich da und lauschte dem Pochen meines Herzens in meiner Brust. Hatte ich geträumt? Es war mir alles so real erschienen.

„Surprise!“

Die Stimme war jetzt noch lauter und eindringlicher als zuvor. Ich setzte mich auf: „Ja? Wer ist da? Was willst du?“

Die Stimme war männlich, stark und tief. „Verlass das Haus. Wenn du nicht weggehst, wirst du sterben.“

Ich öffnete meinen Mund um etwas zu antworten, aber ich konnte keinen Ton herausbringen.

„Surprise! Du musst weggehen. Sofort!“

Der Befehl war so laut und dringend, dass der Boden unter mir zu beben schien. Ich hatte den Eindruck, das ganze Dorf müsse jeden Moment herbeigelaufen kommen um zu sehen, was da in unserer Hütte vor sich ging. Aber niemand sonst schien die Stimme zu hören. Das Schnarchen meines Vaters zeigte mir, dass er immer noch schlief. Auch meine Mutter und meine Schwester Maria rührten sich nicht.

Ich war fünfzehn Jahre alt und noch längst nicht bereit, die Welt auf eigenen Füßen zu erkunden. Doch ich wusste, ich durfte diese kräftige, befehlende Stimme nicht ignorieren. Ich sprang auf, zog mich schnell an und ging hinaus in die afrikanische Nacht. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte oder was mit meiner Familie geschehen würde. Ich wusste nur, dass mein Leben in Gefahr war.

Seit dieser Nacht vor über 25 Jahren bin ich nie wieder zu meinem Dorf zurückgekehrt, und ich habe auch meine Eltern nie wieder gesehen.

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Ehe ich mit meiner Geschichte fortfahre, möchte ich ein wenig mehr über mich erzählen. Ich bin in einem ärmlichen Dorf namens Cachote im ländlichen Mosambik aufgewachsen. Als Kind war ich sehr arm, und ich hatte noch nie etwas von Jesus Christus gehört.

Obwohl ich heute glaube, dass Gott selbst in jener so lange zurückliegenden Nacht zu mir gesprochen hat, kann ich nicht den geringsten Grund sehen, warum er auf so dramatische Weise in mein Leben hätte eingreifen sollen. Ich weiß nur, dass er es tat.

Meine Eltern waren Zauberdoktoren, wie schon meine Großeltern vor ihnen. Meine Mutter und mein Vater behaupteten, mit uralten Geistern in Verbindung zu stehen, die weise und mächtig wären. Ihre Macht sah ich manchmal, aber als weise hätte ich sie überhaupt nicht bezeichnet. Stattdessen schienen sie gemein und launisch zu sein. Sie liebten die Rache und hetzten Nachbarn gegeneinander auf. Es schien ihnen auch nichts auszumachen, dass meine Eltern sie benutzten, um mit dem Unglück anderer Leute Geld zu verdienen.

Leider war das die einzige geistliche Realität, die ich kannte, auch wenn ich mich nach etwas anderem sehnte. Für mich war klar, dass diese kümmerlichen Geister, die meine Eltern durch ihre magischen Gesänge herbeiriefen, nicht die Welt um mich herum geschaffen hatten. Sie hatten weder den mächtigen Löwen, noch das gefährliche Krokodil, den dichten Dschungel, der unser Dorf umgab, oder gar die hellen Sterne, die den nächtlichen Himmel über mir bedeckten, geschaffen.

Manchmal, wenn ich zu diesen Sternen aufschaute, erfüllte mich ein Gefühl der Ehrfurcht und des inneren Friedens, das mich für einen Augenblick der Probleme des Lebens in meinem ärmlichen Dorf enthob. Doch ich schaute nicht oft genug nach oben.

Trotz des Ansehens, das meine Eltern als Zauberdoktoren genossen, war meine Familie bettelarm. Aber das waren alle anderen in meinem Dorf ja auch. Alle Kinder, die ich kannte, lebten in kleinen Hütten mit ein oder zwei Räumen, die aus Stroh und Lehm gebaut waren. Nachts schliefen wir auf dünnen Strohmatten, die wir auf dem nackten Erdboden ausrollten. Unsere Mütter kochten das Essen – wenn es etwas gab – auf einer Feuerstelle aus Steinen, die unsere Hütten mit Rauch erfüllte. Diese Feuerstelle war nachts und im Winter unsere Wärmequelle. Dann kauerten wir uns so nah ans Feuer, dass unsere Beine von den glühenden Holzstückchen, die in unsere Richtung heraussprangen, angesengt wurden.

Wie die anderen Familien in unserem Dorf verbrachten wir die meiste Zeit draußen. Wir gingen nur hinein um zu schlafen oder wenn es regnete, um nicht so nass zu werden, aber wir „wohnten“ nicht in unseren Häusern, so wie es in der westlichen Welt üblich ist.

Manchmal, wenn es nicht genug geregnet hatte um Nahrungsmittel anzubauen – oder wenn es zu viel geregnet hatte –, mussten wir zum Überleben die Blätter von Maniok- oder Kürbispflanzen essen. Wie man sich vorstellen kann, schmeckten sie furchtbar. Aber ich war oft so hungrig, dass ich froh war, wenigstens sie zu bekommen.

Eine andere „Mahlzeit“, die ich hasste, war ein Gericht, das meine Mutter „Hühnereintopf“ nannte, auch wenn es überhaupt kein Huhn enthielt. In Wirklichkeit war es nur heißes Salzwasser. Huhn oder jede andere Art von Fleisch war für meine Familie ein seltener Luxus. Wenn wir das Glück hatten, Fleisch zu bekommen, dann handelte es sich um ein winziges Stück, etwa so groß wie eine Fingerspitze – aber wir durften es nicht essen. Stattdessen mussten wir es uns unter die Nase halten, um den Duft vor jedem Schluck Salzwasser einzuatmen. So sollte der „Eintopf“ Geschmack bekommen, aber das funktionierte natürlich nicht. Auf diese Weise schlürften wir unseren Eintopf Schluck für Schluck, und ganz zum Schluss durften wir das winzige Stück Huhn oder Ziegenfleisch essen.

Im Oktober und November plagte uns der Hunger am meisten, denn dann waren die Vorräte der letzten Ernte aufgebraucht und es war schwierig, im Dschungel etwas Essbares aufzutreiben. In ihrer Verzweiflung wagten einige dann den dreistündigen Marsch zum Shire-Fluss, in dem es von Krokodilen nur so wimmelte, um Wasserlilienknollen zu sammeln. Es war ein gefährliches Unterfangen und viele wurden von den Krokodilen getötet. Sie hatten einen schnellen, gewaltsamen Tod dem langsamen, qualvollen Sterben durch Verhungern vorgezogen.

Mein Dorf bestand aus einem kleinen Kreis von Hütten auf einer Lichtung im Dschungel von Mosambik. Ich war das jüngste von sieben Kindern, und wir lebten in einer Welt weit weg von Dingen wie Telefon oder Fernsehen. Wir hatten kein fließendes Wasser oder Strom. Die nächste Klinik war fast einen ganzen Tagesmarsch entfernt. Zwei meiner Schwestern waren gestorben, ehe meine Eltern Hilfe holen konnten. Sie hatten die Geister um Heilung angefleht, aber das hatte nichts bewirkt. Es gab keine Straße zu unserem Dorf – nur ausgetretene Buschpfade. Zu dem Zeitpunkt, als die Stimme mich rief, meine Familie zu verlassen, waren Maria und ich die beiden einzigen Kinder, die noch zu Hause lebten, weil wir die jüngsten waren.

Wie ich meinen Namen bekam

Ich werde oft gefragt, wieso ich „Surprise“ („Überraschung“) genannt wurde. Der Grund war, dass ich mit einer kleinen Strähne weißem Haar geboren wurde. Meine Eltern waren überrascht, als sie das sahen, und so bekam ich meinen Namen. Westler lächeln oder lachen oft, wenn sie meinen Namen zum ersten Mal hören. Aber in Afrika ruft der Name Surprise keine solche Reaktion hervor, denn Namen haben dort fast immer eine bestimmte Bedeutung.

Eigentlich wollten meine Eltern mich „Try“ („Versuch“) nennen, denn sie hatten versucht, noch einen Jungen zu bekommen. Aber als sie diese weißen Haare sahen, haben sie sich anders entschieden. Vielleicht dachten sie, dass es eine Art Omen war, das mich als ein besonderes Kind auszeichnete, mit Kräften, die ich gebrauchen könnte um das Familiengeschäft weiterzuführen. Doch Gott hatte etwas anderes für mich geplant.

Mein Vater war groß und hager, und seine Haare standen in alle Richtungen ab. Er hatte ein gutes Herz und brachte oft Kinder mit nach Hause, die verwaist waren, und auch andere Kinder, die er vor verschiedenen Notlagen gerettet hatte, in die man im Dschungel oft geriet. Er nahm einen Jungen namens Jalenti auf, der im Alter von zwei Jahren verwaist war, als sein Vater an Lepra starb. Der arme Jalenti hatte ebenfalls die Lepra, und wir mussten ihm einen Unterschlupf im Wald bauen, um uns selbst vor der Krankheit zu schützen. Violette Flecken bedeckten seine Haut und sein Haar fiel in Büscheln aus, sodass er auf dem Kopf große kahle Stellen hatte. Es war meine Aufgabe, ihm sein Essen in den Dschungel zu bringen und dann an einer Schnur zu ziehen, damit er wusste, dass er kommen und es holen konnte. Leider nahm Jalentis Leben ein tragisches Ende. Er hatte Medizin bekommen, um die Lepra zu behandeln, und starb, als er die gesamte Menge auf einmal trank.

Die Tatsache, dass mein Vater Jalenti aufnahm, war ein Zeichen für seine Freundlichkeit. Und doch war er, wie die meisten Väter in meiner Kultur, für seine eigenen Kinder eine eher unnahbare Autoritätsperson.

Meine schönsten Erinnerungen an ihn haben alle mit dem Fischfang zu tun. In den Jahren, in denen es genug geregnet hatte, dass der nahe gelegene Fluss ausreichend Wasser führte, nahm er oft seinen langen konga-Korb und wir wanderten gemeinsam durch den Dschungel. Ich kann mich erinnern, wie ich versuchte, mit ihm Schritt zu halten, während er auf den Fluss zuhielt, bekleidet mit dem traditionellen kaplana, einem bunten Tuch, das um die Hüfte gebunden wurde. Wir hatten einander zwar nicht viel zu sagen, aber ich war einfach glücklich mit ihm zusammen zu sein. Natürlich gab es noch einen weiteren Grund für mein Glück: Wenn wir Fische fingen, würden wir nicht Maniokblätter oder „Hühnereintopf“ zum Abendessen bekommen.

Ich verbrachte auch Zeit allein mit meiner Mutter. Wir suchten tief im Dschungel nach Kräutern, die sie und mein Vater für ihre magischen Elixiere und Pulver gebrauchen konnten. Einige der Kräuter, die meine Mutter und ich auf diesen Ausflügen sammelten, wurden sofort verwendet, andere wurden getrocknet und in runden Körben aus Schilfrohr unter dem dalimba meiner Eltern aufbewahrt, einer Art Bett, dem einzigen Möbelstück in unserer Hütte.

Meine Mutter war eher stämmig gebaut und hatte eine hellere Haut als mein Vater. Sie trug ihr Haar mit einem Stück Stoff zurückgebunden, und sie war über und über „tätowiert“. Das bedeutete, dass ihre Haut am Bauch, an den Armen und an den Oberschenkeln eingeritzt worden war, um sie schöner aussehen zu lassen. Alle älteren Mädchen und Frauen in unserem Dorf hatten ähnliche Tätowierungen. Einmal kam ich aus dem Dschungel zurück und sah, wie meine Mutter einem Mädchen im Teenager-Alter eine Schönheitsbehandlung zukommen ließ, die darin bestand, die Haut auf ihrem Bauch einzuritzen. Das Mädchen hatte offenbar große Schmerzen und biss auf einen Stock, den sie sich zwischen die Zähne geklemmt hatte, um nicht zu schreien. Sogar im Dschungel gab es das Wetteifern um Aufmerksamkeit, und die Mädchen waren bereit zu leiden, um sich attraktiver zu machen.

Meine Mutter war über die Angewohnheit meines Vaters, unangekündigt Gesellschaft mit nach Hause zu bringen, gar nicht glücklich. Sie hatte schon genug Mühe, die hungrigen Mägen ihrer eigenen Kinder zu füllen. Sie mochte es auch nicht, dass mein Vater trank. Er kam oft spät abends nach Hause, völlig betrunken von irgendeinem Gebräu aus der Gegend, und rief den Namen seiner verstorbenen Schwester. „Fina! Fina!“, rief er dann. Das ärgerte meine Mutter nur noch mehr. Sie hatte den Eindruck, dass mein Vater sie immer zu ihrem Nachteil mit seiner toten Schwester verglich, die er beschrieb als „die fürsorglichste Person, die ich je gekannt habe“.

Das Leben war schwer für meine Mutter. Sie verzichtete manchmal auf Nahrung, damit ihre Kinder etwas zu essen hatten – und sie hatte keine Hoffnung, dass sich die Umstände jemals verbessern würden.

Meine Mutter und mein Vater stritten sich ständig. Ich werde es nie vergessen, wie meine Mutter, als ich noch sehr klein war, den Maisstampfer nach meinem Vater warf und ihn so hart an der Stirn traf, dass das Blut über sein Gesicht strömte. Ich lief schreiend weg und versteckte mich unter dem Bett. Ich fand, dass mein Vater an allem schuld war, und wollte meiner Mutter sagen, dass wir weglaufen und woanders ein neues Leben anfangen könnten. Doch wo? Und wie? Es war unmöglich, also hielt ich den Mund. Genau wie meine Mutter hatte ich resigniert und mich auf ein Leben ohne Hoffnung eingestellt.

Die „Diebe“ fernhalten

Die meiste Zeit verbrachte ich damit, unser kleines Feld zu bewachen, auf dem wir Maniok, Mais und andere Pflanzen anbauten. Ich tat, was ich konnte, um Vögel, Affen und andere Schmarotzer fernzuhalten. Jeden Nachmittag nach der Schule und an den Wochenenden und Feiertagen ging ich auf die Felder, saß wartend unter dem Unterstand, den mein Vater gebaut hatte, und wedelte mit den Händen und schrie alle Diebe an, die sich zeigten. Wir hatten versucht, die Vögel mit einer Vogelscheuche fernzuhalten, aber sie fielen nicht darauf herein. Im Gegenteil, sie setzten sich noch oben drauf und schienen sich über unsere Versuche, sie zu verscheuchen, lustig zu machen.

Die Affen waren noch mutiger und richteten auch noch mehr Schaden an als die Vögel. Anders als die Vögel fraßen sie noch nicht einmal alles, was sie abrissen. Zum Beispiel konnte es sein, dass ein Affe sich einen Maiskolben unter den Arm klemmte und dann einen anderen sah, der ihm besser gefiel, sodass er den ersten fallen ließ und nach dem zweiten griff. Dann ließ er den zweiten auch fallen und nahm einen dritten und so weiter, bis schließlich ein großer Teil der Ernte zerstört worden war.

Einmal erfanden meine Freunde Divane, Albana und ich einen cleveren Trick, um die Affen zu überlisten. Wir fingen einen von ihnen und malten ihn mit Holzkohle an, sodass sein Fell ganz schwarz war. Dann ließen wir ihn wieder zu seinem Rudel laufen. Anscheinend hatten die anderen Affen vor ihm Angst und rannten davon. Unsere Felder ließen sie dann zumindest für eine Weile in Ruhe.

Die Vögel und Affen zu verscheuchen war eine mühsame Arbeit. Mir war heiß und ich wurde müde und durstig. Aber ich faulenzte nicht, denn ich wusste, dass mein Vater mir sonst eine ordentliche Tracht Prügel verabreichen würde. Es gab allerdings eine Sorte von Eindringlingen, die ich nicht fernhalten konnte, so sehr ich es auch versuchte: die mabobo, die gelben Heuschrecken. Wenn sie kamen, wussten wir, dass wir ein langes, hartes, von Hunger geplagtes Jahr vor uns hatten. Wir konnten sie schon aus weiter Ferne kommen sehen, Schwärme von Heuschrecken, die den Himmel verdüsterten und alles auf ihrem Weg verschlangen. Sie waren imstande, unsere Felder innerhalb von Minuten kahl zu fressen – und das taten sie auch. Wir versuchten, sie daran zu hindern, indem wir mit Grasbündeln auf sie einschlugen, aber unsere kümmerlichen Waffen waren gegen eine solche Überzahl wirkungslos.

Ich hasste die Heuschrecken, nicht nur weil sie unsere Ernte stahlen, sondern auch weil sie einen üblen Gestank verbreiteten. Es war mir unbegreiflich, wie andere Dorfbewohner solche widerlichen Viecher essen konnten, aber das machten manche.

Ich hatte allerdings nichts dagegen, Baummaden zu essen. Sie kamen immer im Frühling, und die Schreie bestimmter Vögel im Dschungel kündigten uns an, dass sie da waren. Diese Maden tauchten immer dann auf, wenn der Hunger am größten geworden war, und sie waren oft das Einzige, was uns vor dem Hungertod bewahrte. Sie schmeckten ganz gut, aber mein liebster Leckerbissen kam etwas später im Jahr: die Termiten.

Die meisten Amerikaner und Europäer können sich nicht vorstellen Termiten zu essen, aber sie sind durchaus nahrhaft und sehr proteinhaltig, und viele Kinder in Afrika essen sie. Wenn die Zeit der Termiten kam, versammelten sich die Bewohner meines Dorfes nachts um ein großes Lagerfeuer, um sie anzulocken. Mit Wasser gefüllte Töpfe und Pfannen wurden in einem Graben um das Lagerfeuer herum aufgestellt. Vom Licht angezogen flogen die Termiten zum Feuer, wo sie dann von der Hitze überwältigt wurden und in unsere Gräben fielen. Bei Tagesanbruch kamen wir heraus und sammelten unsere Beute ein. Das war jedes Mal ein freudiges Ereignis! Für uns war es etwa so, wie am Weihnachtsmorgen die Geschenke zu öffnen.

Wir jagten auch Ratten und Mäuse, indem wir in der Erde nach ihnen gruben. Meine Mutter zerlegte sie und tat sie in den Eintopf. Obwohl wir uns über jede Art von Fleisch freuten, fand ich es immer unangenehm, nach Ratten zu graben. Einer meiner Onkel verlor einmal einen Finger, weil er von einer Schlange gebissen wurde, als er nach den Nagern grub. Seine Horrorgeschichte fiel mir immer ein, wenn ich meine Hand in ein Loch steckte und nach etwas Felligem fühlte, das meiner Familie als Nahrung dienen konnte.

Als Kind hatte ich ständig Angst davor zu sterben, und die meisten meiner Freunde teilten diese Angst. Das war auch kein Wunder! Wir waren umgeben von Löwen, Leoparden, Hyänen, verschiedenen Arten von Schlangen, Spinnen und Mücken. Und dann gab es noch die anderen Zauberdoktor-Konkurrenten und ihre Flüche.

Die Gefahr lauerte immer vor unserer Tür – im wahrsten Sinne des Wortes. Einmal kamen wir morgens aus unserer Hütte heraus und sahen direkt vor uns einen Leoparden auf dem Ast eines Baumes sitzen. Wir rannten wieder hinein und machten die Tür zu in der Hoffnung, dass sie stabil genug war, um die Raubkatze aufzuhalten, falls sie vorhatte, uns zum Frühstück zu verspeisen. Mein Vater schaffte es, den Leoparden zu verjagen, indem er einige glühende Holzstücke in seine Richtung warf. Wir hatten zwar Angst, dass er zurückkommen würde, doch zum Glück passierte das nie.

Die wilden Tiere waren nicht die einzige Gefahr, der wir ausgesetzt waren. Wenn das Gras hoch und kräftig gewachsen war, mussten wir uns vor den maphangas in Acht nehmen, Fremden, von denen gesagt wurde, dass sie Menschen raubten und als Sklaven nach Malawi verkauften. Ich selbst habe sie nie gesehen, aber ich hatte trotzdem große Angst vor ihnen. Meine Mutter sagte mir, dass sie lange Rastalocken hätten, und wenn irgendjemand, auf den diese Beschreibung passte, versuchen würde sich mir zu nähern, sollte ich sofort um Hilfe schreien.

Zum Zauberdoktor bestimmt?

Von meiner Geburt an hofften meine Eltern, dass ich die Familientradition fortsetzen und Zauberdoktor werden würde. Ich litt an Asthma und anderen körperlichen Beschwerden, und als meine Eltern nach einem Heilmittel für mich suchten, sagten ihnen „die Geister“, dass ich krank war, weil ich mich ihnen nicht ausgeliefert hatte. Sobald ich das täte, sagten sie, würde ich geheilt sein.

Meine Familie war schon seit Generationen im Geschäft der Zauberei tätig. Mein Großvater hielt Giftschlangen, um sie in den Zauberritualen einzusetzen. Er starb, als er von einer dieser Schlangen gebissen wurde. Meine Kindheit war voller seltsamer spiritueller Erfahrungen und geistlicher Bedrückung. Es war die einzige Art zu leben, die ich kannte.

Meine Eltern machten ziemlich gute Geschäfte. Jeden Tag kamen Menschen zu unserem Haus, viele weinend, weil sie verzweifelt einen Ausweg aus einer hoffnungslosen Situation suchten. Es konnte sein, dass ein Kind erkrankt war oder dass die Affen ihre Ernte gestohlen hatten. Meistens brachten sie ein wenig Maismehl oder ein Huhn für meine Familie, aber sie mussten immer auch etwas Geld geben. Meine Eltern sagten ihren „Kunden“ dann, dass sie das Geld an ihrem Körper reiben sollten, so wie man sich unter der Dusche mit Seife abreibt. Dann nahmen sie das Geld, legten es in eine Muschel und rochen daran. Dabei gaben sie merkwürdige Laute von sich – „hi, hi, hi“ – und begannen dann, mit verstellter Stimme zu reden.

Der „Rat“, der dann erteilt wurde, war fast immer gleich und nutzte die Ängste der jeweiligen Person aus. Jemand hatte sie verflucht. Der Tod stand nahe bevor. Die Geister waren zornig und mussten beschwichtigt werden. Wenn die Leute diese beängstigenden Neuigkeiten erfuhren, waren sie meistens bereit, alles zu tun, was meine Eltern von ihnen verlangten.

Hatten meine Eltern wirklich besondere Kräfte oder waren sie nur Scharlatane? Die Antwort lautet: beides. Vieles von dem, was sie taten, war ganz einfach Trickserei. Aber ich weiß auch, dass sie aufrichtig an die Geister glaubten, und ich habe viele seltsame Dinge gesehen, die ich nur durch das Übernatürliche erklären kann.

Es passierte mir mehrmals, dass ich den Eindruck hatte über dem Fußboden zu schweben, wenn ich versuchte nachts einzuschlafen. Ich kämpfte und strampelte und versuchte, wieder auf den Boden zu kommen, aber ich schien in der Luft zu hängen. Passierte das wirklich oder träumte ich nur? Alles, was ich sagen kann, ist, dass es für einen kleinen Jungen zumindest wirklich erschien – und äußerst furchterregend war. Als ich später meinen Eltern davon erzählte, wurden sie ganz aufgeregt und begannen, auf den Trommeln zu schlagen, mit denen sie sonst immer die Geister riefen.

Sie glaubten auf jeden Fall, dass die Welt der Geister real war, aber sie begingen auch Betrug. Um ein Beispiel für ihre Trickserei zu nennen: Sie wiesen ihren Kunden an, so lange in eine mit Wasser gefüllte Schüssel zu starren, bis er das Gesicht seines Feindes sehen würde – also denjenigen, der einen Fluch auf ihn, seine Ernte oder seine Kinder gelegt hatte. Und innerlich aufgewühlt von Zorn und Furcht schaute er tatsächlich so lange hinein, bis er das Gesicht einer Person sah, die ihm aus dem Wasser entgegenblickte – und natürlich war es das Gesicht von jemand, den er zu sehen erwartete. Jener Nachbar, der ihm einen seltsamen Blick zugeworfen hatte. Oder eine Person, die er aus irgendeinem Grund nicht mochte.

Meine Eltern fragten dann: „Willst du, dass diese Person lebt oder stirbt?“ An diesem Punkt war der Kunde so aufgebracht, dass er fast immer antwortete, sein Feind solle sterben. Als Nächstes wurde ihm dann ein Stock gegeben, an dem eine Nadel befestigt war. Mit diesem Stock sollte er sich an seinem Feind rächen, indem er auf das Bild im Wasser einschlug. In den meisten Fällen nahm er den Stock und fing an, brutal auf das Wasser zu schlagen, das sich langsam rot färbte. Wenn sich das Wasser mit dem „Blut“ verdunkelte, wurde die Attacke meistens noch intensiver. Der Kunde hieb und hackte mit hasserfülltem Eifer auf das Wasser ein und versuchte so seinen Feind buchstäblich in Stücke zu hacken.

Doch im Wasser war kein Blut. Der Stock, an dem die Nadel befestigt war, war von einem Mbela-Baum geschnitten worden, und meine Eltern wussten, dass dieser das Wasser rot färben würde.

Und dennoch lag in diesem Schwindel eine magische Kraft. Manchmal wurde der Feind tatsächlich krank oder starb sogar. Ich glaube heute, dass es an dem Glauben der Kunden meiner Eltern lag. Sie wollten es so sehr, dass es tatsächlich eintraf.

Jeden Tag bei Sonnenuntergang, kurz bevor es im Dschungel stockdunkel wurde, ging meine Mutter hinaus und schnitt etwas von dem Gras entlang der Pfade ab, auf denen ihre Kunden täglich gingen. Dann verbrannten meine Mutter und mein Vater das Gras im Feuer in der Mitte unserer Hütte und baten die Geister, den Menschen, die auf diesen Pfaden gingen, noch mehr Probleme zu geben. Denn wenn die anderen mehr Probleme hatten, bedeutete das für sie bessere Geschäfte. Dass die Leute im Dorf glücklich und ohne Probleme lebten, war das Letzte, was meine Eltern wollten. Manchmal nannten sie auch die Namen von bestimmten Leuten und baten die Geister, sie zu unserer Haustür zu bringen. Am nächsten Tag kamen jene, deren Namen genannt worden waren, und jammerten und weinten über die Bürden, die sie zu tragen hatten.

Ein elendes Leben

Ich selbst war bedrückt und unglücklich, und ich weinte oft. Ein Grund für meine Misere war meine Schwester Maria. Ich dachte, dass Maria besser wäre als ich, und deswegen mochte ich sie nicht. Sie war der Star der Familie, das wussten wir beide. Sie war hübsch und sie war sehr gut in der Schule. Obwohl meine Eltern nicht lesen und schreiben konnten, wussten sie doch, dass Maria eine bessere Schülerin war als ich. Das konnte man ganz leicht erkennen, wenn man sich unsere Hausaufgaben ansah. Ihre Handschrift war sauber und leicht zu entziffern. Meine Aufgabenblätter sahen aus, als wäre ein in Tinte getauchter Tausendfüßler darüber gekrochen.

Ich war eifersüchtig, und deshalb behandelte ich sie schlimm. Als wir klein waren, stritten wir uns oft, und mein Vater war immer auf ihrer Seite, was für mich meistens eine gehörige Tracht Prügel bedeutete. Einmal band er mir Hände und Füße zusammen und legte mich in die heiße Sonne, wo mich die roten Ameisen beißen sollten. Zum Glück kam meine Mutter vorbei und band mich los. Danach hatten meine Eltern wieder einen furchtbaren Streit miteinander.

Ich hatte auch große Angst vor den seltsamen Dingen, die ich sah und erlebte. Eines Tages war ich mit meinen Freunden auf dem Heimweg von der Schule, als wir einem jungen Mann begegneten, der direkt auf uns zukam. Ich dachte, er würde uns ausweichen, aber er ging mitten durch uns hindurch. Ich konnte einen kalten Schauer fühlen, als diese geisterhafte Person anscheinend durch meinen Körper hindurchging. Dieses Erlebnis machte mir große Angst, aber meine Freunde hatten es anscheinend noch nicht einmal bemerkt.

Meine Eltern waren auch überhaupt keine Hilfe, was meine Ängste anging. Im Gegenteil: Wenn ich ihnen von beängstigenden Dingen erzählte, die ich gesehen oder gespürt hatte, legten sie eine Decke über mich und fingen an die Trommeln zu schlagen, womit sie die Geister bewegen wollten, sich durch mich zu manifestieren. Sie schlugen mich auch mit einer Peitsche aus Pferdehaaren oder sie hauten mir mit einem Holzlöffel auf den Kopf. Wenn ich vor Schmerzen weinte, trommelten sie noch lauter und schlugen mich heftiger, weil sie dachten, die Geister würden anfangen durch mich zu reden. Manchmal verbrachte ich die ganze Nacht unter dieser Decke, verängstigt, unter Schmerzen und leise betend – zu wem, wusste ich nicht –, dass das alles aufhören würde.

Meine Mutter und mein Vater sangen Lieder über mir, die überhaupt keinen Sinn ergaben: „Der Baum des Vogels, der Löwe schläft.“ Sie sangen die gleichen Worte immer und immer wieder, während sie auf die Trommeln schlugen. Wenn es überhaupt nicht mehr auszuhalten war, fing ich an, mich unter der Decke zu bewegen, als hätte ich die Kontrolle über meinen Körper verloren. Ich wusste, dass meine Eltern dann glauben würden, ich erlaubte den Geistern, die Kontrolle zu übernehmen. Das brachte mir eine Erleichterung, weil meine Eltern dann aufhörten, mich mit dem Pferdeschweif oder dem Holzlöffel zu schlagen.

Wie man sieht, hatte ich keine glückliche und unschuldige Kindheit. Ich war unglücklich und lächelte nur selten. Meine Mutter sagte mir oft: „Lache heute nicht, sonst wirst du morgen weinen.“ Auch wenn ich manchmal Grund zum Lachen hatte, fürchtete ich es zu tun. Mein Leben war ein Leben der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung – bis die Stimme mich in jener Nacht aufweckte.

Das Abenteuer beginnt

Als ich aus dem Haus schlüpfte, hatte ich keine Ahnung, wo ich hingehen sollte.

Dann fiel mir Gafar ein, mein bester Schulfreund. Er war ein fröhlicher Junge, der oft lächelte und ein angenehmes Wesen hatte. Er war ein Jahr älter als ich und auch größer und kräftiger, das bedeutete, er wäre ein guter Begleiter auf einer gefährlichen Reise ins Unbekannte. Er redete gerne über alles Mögliche und hatte ein Geschick dafür zu bekommen, was er wollte. Auf dem langen Nachhauseweg von der Schule überredete er oft Fremde, uns Wegzehrung zu geben, indem er ihnen erzählte, ohne ihre Hilfe würden wir vor Hunger sterben. Seine Bettelkünste würden sich nützlich erweisen.

Ich beschloss, direkt zu seinem Haus zu gehen.

Die Hütte seiner Familie lag etwa zwei Kilometer entfernt von unserer, doch als ich durch die Dunkelheit schlurfte, erschien es mir viel, viel weiter. Ich seufzte erleichtert auf, als ich sie endlich vor mir auftauchen sah.

Ich wartete einige Augenblicke draußen und versuchte zu überlegen, wie ich Gafars Aufmerksamkeit erlangen könnte, ohne den Rest der Familie aufzuwecken. Schließlich beschloss ich, seinen Namen zu rufen und auf das Beste zu hoffen.

„Gafar!“, flüsterte ich.

Keine Antwort.

„Gafar!“, versuchte ich es wieder, diesmal ein wenig lauter.

Nichts.

„Gafar!“

Ich hörte, wie sich drinnen jemand bewegte, und hoffte, es wäre nicht Gafars Vater. Einige Sekunden später erschien mein Freund im Türrahmen, eingewickelt in seine Schlafdecke. „Was machst du hier?“, fragte er.

Wir redeten im Flüsterton. „Ich muss weggehen“, sagte ich und erzählte ihm von der Stimme, und was sie mir gesagt hatte.

Gafar sagte nicht, dass ich verrückt wäre oder dass ich nach Hause gehen sollte. Stattdessen tat er, was ich erwartet hatte. „Ich komme mit dir“, sagte er.

Er verschwand in der Hütte und kam einige Minuten später wieder heraus, angezogen und mit seinem Schulranzen auf dem Rücken. Gemeinsam gingen wir in den Dschungel.