Baum-Kolumne.jpgKapitel 2
Verirrt

Obwohl ich so tat, als wäre ich mutig, fand ich es mitten in der Nacht im Dschungel beängstigend.

Seltsame Geräusche erfüllten die Luft, als Schleiereulen und andere Nachttiere einander etwas zuriefen. Insekten schwirrten um meinen Kopf herum. Farne und andere Pflanzen schleiften an meinen Waden. Mehrmals stolperte ich über einen umgefallenen Baumstamm. Und ich fing an, in jedem Baum große Raubkatzen zu „sehen“.

Zuerst flüsterten Gafar und ich aufgeregt miteinander.

„Wer hat denn zu dir gesprochen?“

„Ich weiß nicht. Ich glaube, es war ein sehr mächtiger Geist.“

„Und du traust ihm?“

„Ich bin sicher, er sagte die Wahrheit.“

„Und er sagte, dass du sterben würdest …“

„… wenn ich nicht fortginge, ja.“

Die erste Stunde lang ungefähr war Gafar gut aufgelegt, wie immer. Doch als die Nacht fortschritt, wurden wir beide immer stiller. Ich wusste, dass er sich fragte, ob er das Richtige getan hatte, indem er mitgekommen war, und ich selbst war mir auch nicht mehr so sicher. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich die Stimme gehört hatte. Aber hätte es nicht auch ein böser Geist gewesen sein können, der mich hereinlegen wollte? Vielleicht wollte mich der Geist hierher bringen, weg von zu Hause, um mich zu töten. Ich fühlte, wie Mund und Kehle trocken wurden.

Aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr wurde mir klar, dass diese Stimme anders war. Ja, sie hatte sehr drängend geklungen, aber es war auch eine gewisse Freundlichkeit in ihr gewesen – eine Freundlichkeit, die mir bei den Geistern, die durch meine Eltern sprachen, nie begegnet war. Ich war mir sicher, dass die Stimme die Absicht hatte mich zu retten und nicht mir zu schaden.

Nichtsdestoweniger war ich erleichtert, als ich schließlich die Sonne als riesigen roten Ball am Horizont aufgehen sah. Ich hatte das Gefühl, die Nacht hätte eine ganze Ewigkeit gedauert. Doch die Sonne brachte andere Probleme mit sich.

Hitze. Brennende, feuchte Hitze.

Als die Sonne halb am Himmel hochgestiegen war, waren sowohl Gafar als auch ich schweißgebadet. Ich war auch erschöpft und benommen durch den Schlafmangel.

Plötzlich packte Gafar meinen Arm und riss mich nach hinten. „Pass auf!“, schrie er und zeigte auf den Boden direkt vor uns.

„Was ist los?“

„Schlange!“

Ich hielt den Atem an und stand völlig still. Ich konnte nur Blätter, Ranken und Pflanzen sehen, die wie immer den Boden des Regenwaldes bedeckten.

Nach einer Weile entspannte ich mich und fing wieder an zu atmen.

„Wo ist sie hin?“, keuchte ich.

Gafar schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Sie war genau hier.“

Die Blätter raschelten, und eine kleine Eidechse rannte vor uns über den Pfad.

„Vielleicht ist es doch keine Schlange gewesen“, gab Gafar zu. „Aber ich fand, es sah aus wie eine Mamba.“ Trotz der Hitze lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter. „Erinnerst du dich, was mit …“, begann Gafar.

„Ja, ich erinnere mich“, unterbrach ich ihn und warf ihm einen Blick zu, der besagte: „Wie kannst du nur diese Frage stellen?“

Es war erst ein Jahr her, dass einer unserer Klassenkameraden von einer Schwarzen Mamba gebissen worden war. Eine Gruppe von uns war in den Dschungel gegangen, als einer der Jungen plötzlich vor Schmerz aufschrie. Wir anderen liefen ihm sofort zu Hilfe, aber als wir die blutigen Wunden an seinem Bein sahen – und die davoneilende Mamba –, wussten wir, dass wir nichts tun konnten. Der Junge wand sich in Schmerzen und Angst, während dicke Tränen über seine Wangen liefen.

Einige der Kinder rannten zurück zum Dorf, um seine Familie zu holen, während die übrigen bei ihm blieben und ihm sagten, alles würde gut werden, obwohl wir wussten, dass das nicht stimmte.

Als die Erwachsenen aus dem Dorf uns erreicht hatten, war der Junge bewusstlos, innerhalb einer weiteren halben Stunde war er tot.

Gafar und ich wanderten still weiter, verfolgt von unseren Erinnerungen und Ängsten. Wir wussten beide, dass der Regenwald voller Schlangen war wie die Schwarze Mamba und die noch gefährlichere Puffotter. Doch nach einiger Zeit wurde unser Durst größer als unsere Angst.

„Surprise?“, sagte Gafar.

„Ja?“

„Wir haben kein Wasser mitgenommen.“

„Das macht nichts“, sagte ich aufmunternd. „Wir können Wasser aus dem Fluss trinken.“

„Aber was ist mit den Krokodilen?“

Ich zuckte mit den Schultern und ging weiter.

In den Seen und Flüssen um unser Dorf herum gab es oft Nilkrokodile, und sie konnten sich ausgesprochen gut verstecken. Sehr oft sah man sie erst im Wasser lauern, wenn es schon zu spät war. Und sobald sie einen mit ihren mächtigen Zähnen gepackt hatten, war nichts mehr zu machen. Ich erschauerte bei dem Gedanken.

Nach einigen weiteren Stunden des Marschierens in der sengenden Sonne begannen Gafar und ich zu denken, dass wir einen schrecklichen Fehler begangen hatten. Wir hatten nichts zu essen. Moskitos und Steckmücken ärgerten uns ohne Unterlass. Und die Sonne brannte erbarmungslos auf uns herab.

Wir beschlossen schließlich, uns zu setzen und erst einmal unsere Lage zu beurteilen.

„Lass uns nach Hause gehen“

Nach einigen Minuten ergriff Gafar das Wort. „Ich denke, wir sollten nach Hause gehen“, sagte er. Er klang ein wenig abwehrend, als ob er erwartete, dass ich protestieren würde. Aber ich hatte dem nichts entgegenzusetzen.

„Ja“, nickte ich. „Wir sollten nach Hause gehen.“

„Aber was ist mit der Stimme?“, fragte er.

„Die Stimme befahl mir wegzugehen, und das habe ich getan“, antwortete ich. „Vielleicht ist die Gefahr jetzt vorbei und ich kann wieder nach Hause.“

Erleichterung zeichnete sich in Gafars Blick ab. „Lass mich noch ein wenig ausruhen“, sagte er. Wir wurden still und innerhalb von Minuten waren wir beide eingeschlafen.

Als ich aufwachte, stand die Sonne hoch am Himmel, aber sie näherte sich schon dem westlichen Horizont. Wir mussten uns aufmachen, wenn wir vor Dunkelheit zu Hause ankommen wollten. Gafar war auch wach, und ich konnte sehen, dass er das Gleiche dachte.

Wir standen auf und staubten uns ab. Obwohl ich es gewohnt war, nicht zu essen, brannte mein Magen vor Hunger. Ehe ich irgendetwas anderes tat, musste ich etwas zu essen finden. Es dauerte nicht lange, bis wir einen Mangobaum fanden, von dessen Zweigen mehrere runde, gelbe Früchte hingen. Gafar und ich grabschten die Mangos mit beiden Händen und verschlangen sie. Ich fand, es waren die besten Mangos, die ich je gegessen hatte. Wenn ich gewusst hätte, wie viele davon ich in den nächsten Wochen noch essen würde, wäre ich wohl nicht so begeistert gewesen.

Gestärkt durch unsere Mango-Mahlzeit gingen mein Gefährte und ich den Weg zurück, den wir gekommen waren. Wir waren uns einig, welchen Weg wir einschlagen mussten. Keiner von uns zweifelte daran, dass wir in die richtige Richtung gingen. Wir gingen, bis die Sonne zu sinken begann, aber wir hatten immer noch nicht den schmalen Trampelpfad erreicht, der direkt zu unserem Dorf führte.

„Wir werden bestimmt vor Dunkelheit zu Hause sein“, sagte ich, in dem Bemühen, mich selbst davon zu überzeugen. „Wir müssten den Pfad jeden Moment erreichen.“

„Na klar“, grinste Gafar. „Wir sind schon fast zu Hause.“

Aber weit gefehlt. Eher schien der Pfad zu unserem Dorf völlig wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Es ist leicht, im Dschungel die Orientierung zu verlieren. Die Bäume, Ranken und andere Pflanzen wachsen so dicht, dass sie zu einem riesigen Labyrinth werden. Es gibt keine herausstechenden Orientierungspunkte, und alles sieht schließlich gleich aus. Wir hatten uns hoffnungslos verirrt.

Wir kamen an einem Baum vorbei, der uns bekannt vorkam. Waren wir heute hier nicht schon einmal vorbeigekommen? Ich war mir sicher, diese Ranke, diesen blühenden Strauch wiederzuerkennen. Was ging hier vor? Wir wanderten doch immer geradeaus, warum schienen wir also im Kreis zu gehen?

Ich weiß die Antwort darauf bis heute nicht.

Die nächsten zwei Wochen irrten Gafar und ich im Dschungel umher. Ich aß so viele Mangos, dass ich am Ende ihren Anblick nicht mehr ertragen konnte. Zum Glück gab es im Dschungel noch reichlich andere Nahrungsmittel. Wir fanden wilde Bananen und ab und zu eine Yamswurzel oder andere Wurzeln. Wir aßen Termiten, Käfer, Maden und andere Insekten. Da wir am Rand des Regenwalds aufgewachsen waren, wussten wir, dass wir grellbunte Insekten oder solche mit einem Stachel meiden mussten. Wir wussten auch, dass wir Pflanzen mit weißen oder gelben Beeren, oder deren Blätter in Dreiergruppen wuchsen oder die durch Dornen geschützt waren, aus dem Weg gehen mussten. Pilze ließen wir komplett links liegen. Wir wussten, dass einige Pilze tödlich waren, und wir wollten auf keinen Fall ein Risiko eingehen.

Wir tranken Wasser, wo immer wir es fanden. Wir schöpften es mit der bloßen Hand aus Schlammlöchern. Morgens tranken wir den Tau, der sich auf den Pflanzen am Dschungelboden gesammelt hatte. Einige Pflanzen gaben etwas Wasser ab, wenn man sie drehte und wrang wie einen Schwamm. Aber das war kaum ausreichend, um unseren Durst zu stillen.

Ein Fluss musste überquert werden

Wir wussten, dass in der Nähe ein größerer Fluss war, aber wir haben ihn nie gesehen.

Das bleibt für mich eines der größten Rätsel unserer Wanderschaft. Jahre später, als ich anhand einer Karte versuchte, den Weg nachzuvollziehen, den Gafar und ich gegangen waren, war es offensichtlich, dass wir an irgendeiner Stelle den Shire-Fluss hätten überqueren müssen. Der Shire ist einer der Hauptzuflüsse des Sambesi, und er ist selten schmaler als fünfzig Meter.

Doch wir haben ihn überhaupt nicht gesehen. Ich kann nicht erklären, wie das möglich ist, aber ich weiß, dass es so war.

Nachts schliefen wir oft auf Bäumen, wobei wir uns an den Ästen festbanden, um nicht herunterzufallen. Wir dachten, das Risiko, vom Baum zu fallen, wäre besser als das Risiko, von einem Raubtier getötet, von einer Giftschlange gebissen oder von einer Horde Ameisen zu Tode gestochen zu werden.

Ich staune immer noch darüber, dass sich keiner von uns beiden ernsthaft verletzte oder krank wurde. Malaria war eine Gefahr. In Mosambik stellt diese Krankheit ein riesiges Problem dar, jedes Jahr sterben Tausende Kinder daran. Gafar und ich wurden ständig von Moskitos belästigt und sehr oft gestochen, aber keiner von uns bekam auch nur das geringste Fieber. Wir wurden auch von dem schmutzigen Wasser, das wir tranken, nicht krank. Das Wasser, das wir tranken, war sicherlich völlig verseucht mit darmschädigenden Bakterien und Parasiten, aber es machte uns überhaupt nichts aus. Offensichtlich hielt Gott seine schützende Hand über uns.

Das Schlimmste an dieser Wanderung war das Verlorensein. Ich vermisste meine Familie und sogar meine Schwester Maria. Ich fragte mich, was wohl aus ihnen geworden war, ob sie noch am Leben waren und mich suchten. Ich machte mir auch Sorgen, dass Gafar und ich den Rest unseres Lebens in der Wildnis verbringen würden, ohne jemals wieder mit einem anderen Menschen zu reden. Als ich feststellte, dass wir uns verirrt hatten, fürchtete ich mich zunächst. Doch die Angst wurde sehr bald von der Einsamkeit überschattet – einer Einsamkeit, die sich ganz tief, dunkel und überwältigend anfühlte.

Ein neuer Anfang

Doch am vierzehnten Tag unserer Wanderschaft, am späten Nachmittag, erblickte ich etwas in der Ferne. „Schau!“, rief ich Gafar zu und zeigte auf eine einige Hundert Meter entfernte Lichtung im Dschungel.

„Häuser!“, schrie er. „Menschen!“ Wir fingen an zu rennen, so schnell wir konnten.

Auf unserer Wanderung hatten wir die ganze Tete-Provinz von Mosambik durchquert, bis nach Vila Nova da Fronteira, einer Stadt an der Grenze von Malawi. Als wir aus dem Dschungel herausstolperten, sahen wir zu unserer Überraschung einen älteren Mann, der am Rand der Lichtung stand. Durch seinen weißen Bart und das buschige weiße Haar sah er aus wie ein Wilder. Aber ein freundliches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, als er uns erblickte, und er hob seine Hand zum Gruß.

„Ich bin froh, dass ihr endlich da seid, Jungs“, rief er uns entgegen. „Ich habe auf euch gewartet.“