Die Tatsache, dass ich ein solches Massaker und so viel Bosheit mit angesehen hatte, veränderte nach jener Nacht meine Beziehung zu Jesus. Schon vorher war Jesus bei Weitem das Wichtigste in meinem Leben gewesen. Doch nachdem ich diese furchtbaren Dinge erlebt hatte, hatte ich den Eindruck, dass nichts anderes mehr zählte. In meinen Augen war alles, was das irdische Leben zu bieten hatte, lediglich eine Illusion, die jederzeit zerplatzen konnte, und alles, was ich nicht für Gott tat, war reine Zeitverschwendung.
Ich beschloss deswegen, meinen Beruf als Krankenpfleger aufzugeben und mich ganz dem vollzeitlichen Dienst zu widmen. Durch Gottes Gnade hatte ich als Prediger des Evangeliums immer viel Gunst bei den Menschen gehabt, sogar als knapp zwanzigjähriger Jugendlicher. Als ich in die Dörfer gegangen war um zu predigen, hätten die Leute mich wegen meiner Jugend nicht beachten können. Doch stattdessen behandelten sie mich mit Respekt und hörten interessiert, was ich zu sagen hatte. Sogar in den Gemeinden, die ich besuchte, zollten mir Männer und Frauen, die viel älter waren und Christus schon viel länger gefolgt waren als ich, Achtung und Respekt. Allerdings waren meine Kenntnis und mein Verstehen des Wortes Gottes immer noch sehr mangelhaft, und deshalb sehnte ich mich danach, mehr zu wissen. Ich wollte auf eine Bibelschule gehen.
Eines Nachts, als ich vor Gott wartete, hatte ich plötzlich den Eindruck, dass er mich nach Südafrika schicken wollte. „Südafrika, Herr?“, fragte ich. Dort war ich noch nie gewesen und ich war auch nicht sonderlich darauf erpicht, dorthin zu gehen. Ich hatte von der Apartheid gehört und wusste, dass Schwarze in Südafrika oft schlecht behandelt wurden.
Johannesburg, schien er zu sagen – mehr nicht.
In den darauf folgenden Tagen betete ich oft um weitere Instruktionen, aber ich erhielt keine. Gleichzeitig wurde der Eindruck, ich solle nach Johannesburg gehen, immer stärker. Ich kannte dort niemand; hatte keine Ahnung, wohin ich gehen sollte, wenn ich einmal dort wäre. Aber ich wusste, dass ich gehen sollte, und so nahm ich einfach an, dass Gott sich um alles Übrige kümmern würde. Es war, als wollte er, dass ich ihm immer nur für den nächsten Schritt vertraute, und ich hatte schon gelernt, dass man sich völlig auf ihn verlassen kann.
Im Vertrauen auf Gott kaufte ich also meine Tickets. Ich hatte genug Geld für einen Flug nach Maputo und ein Bahnticket von dort nach Johannesburg. Ich verabschiedete mich von meinen Freunden und brach auf, um ein neues Kapitel meines Lebens aufzuschlagen.
Der Zug fuhr am frühen Morgen des 3. Januar 1990 in Johannesburg ein. Beim Anblick der Hochhäuser, die im Schein der Morgensonne glitzerten, blieb mir der Mund offen stehen. Ich war schon vorher in größeren Städten gewesen, aber so etwas hatte ich noch nie gesehen. Nachdem der Zug angehalten hatte, blieb ich einige Minuten wie angewurzelt auf meinem Sitz und ließ die Größe dieser riesigen Stadt aus Glas und Stahl auf mich wirken. Schließlich wurde mir bewusst, dass ich als Einziger noch nicht ausgestiegen war, und so schnappte ich die kleine Reisetasche, die ich bei mir trug und in der sich all mein Hab und Gut befand, und ging die Stufen hinunter … Gott allein wusste wohin.
Vom Bahnhof aus wanderte ich die Straße hinunter, bis ich an eine Kreuzung kam. Sollte ich nach rechts oder nach links gehen? Ich beschloss rechts abzubiegen. Ich ging auf den von Menschen wimmelnden Bürgersteigen, vorbei an Geschäften und Restaurants voller Kunden. In den Schaufenstern wurde eine unglaubliche Vielfalt teurer Waren ausgestellt. Die neusten Automodelle rollten an mir vorbei, während ich innerlich betete und Gott bat mir zu zeigen, wohin ich gehen sollte.
Ich gelangte zu einer weiteren Kreuzung, blieb kurz stehen um zu entscheiden, welche Richtung ich einschlagen sollte. Während ich noch da stand, kam ein Mann auf mich zu und fragte mich in perfektem Portugiesisch, ob er mir weiterhelfen könnte. Wieder einmal war Gott mir vorausgegangen, so wie an jenem Tag, als ich aus dem Dschungel gestolpert und von Herrn Lukas empfangen worden war. Diesmal schickte er mir Jim Teckleyberg.
Jim war ein starker Christ, der in der Gegend eine Farm besaß. Er nahm mich mit zu sich nach Hause und stellte mich seiner Frau und seinen Kindern vor. Er arrangierte auch, dass ich nach Durban reisen und dort zu einem Vorstellungsgespräch an der Bibelschule der Kwasizabantu Mission gehen konnte, und er finanzierte großzügig meine Ausbildung.
Als ich zu dem Vorstellungsgespräch fuhr, wusste ich noch nicht, dass die Schule nur englischsprachige Schüler aufnahm. Da ich kein Englisch sprach, würde ich demnach automatisch abgewiesen werden. Doch das wusste ich nicht, und so ging ich trotzdem zum Einstellungsgespräch mit dem zuständigen Pastor Fun Sabise.
Pastor Sabise erhob sich zur Begrüßung, als ich in sein Büro geleitet wurde. „Bitte nehmen Sie Platz, Herr …“
„Sithole“, antwortete ich. „Surprise Sithole.“
„Surprise?“, sagte er. „Das ist ein ungewöhnlicher Name.“
Ich lachte und erklärte, wie ich zu dem Namen Surprise gekommen war.
Er befragte mich über meine Familie, meine Herkunft, meine Schulbildung und den Grund, warum ich auf die Bibelschule gehen wollte. Etwa fünfzehn Minuten lang unterhielten wir uns sehr angenehm. Ich hatte den Eindruck, dass es ganz gut lief.
Am Ende unserer Unterredung sagte er: „Sie sprechen sehr gut Englisch. Wo haben Sie es gelernt?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die ganze Zeit über hatte ich gemeint, wir sprächen Portugiesisch! Ich konnte nur lachen. Gott hatte mir die Sprache geschenkt, als ich sie brauchte. Was für ein erstaunlicher Gott! Er versorgt uns mit allem, was wir nötig haben!
Was die Schule anging, so liebte ich es, mehr über das Wort Gottes zu lernen. Es fiel mir nicht schwer, die Bibel zu studieren, und ich schnitt sehr gut ab. Die Jahre, die ich dort verbrachte, waren eine wunderbare Zeit, in der ich die Weisheit von Männern und Frauen, die schon lange Jahre mit Gott unterwegs waren, begierig in mich aufnahm. In der Bibelschule schenkte mir der Herr auch noch die Sprache der Zulus, und ich fuhr auf mehrere Einsätze als Übersetzer mit, obwohl ich weder Englisch noch Zulu in einer Schule gelernt hatte. Gemeinsam mit den anderen ging ich oft zu nahe gelegenen Städten und Dörfern und durfte viele wunderbare Taten Gottes bezeugen.
Nach meiner Zeit in der Bibelschule erwog ich eine Weile, mich dem Dienstteam einer Gemeinde anzuschließen. Es gab viele relativ wohlhabende Gemeinden in Südafrika, und finanziell wäre es mir um einiges besser gegangen, wenn ich diesen Weg eingeschlagen hätte. Aber mein Herz streckte sich aus nach den Menschen in den abgelegenen Dörfern, die nie die Möglichkeit haben, von Jesus zu hören, es sei denn, jemand geht hin und erzählt ihnen von ihm. Aus diesem Grund fing ich wieder an, das zu tun, was ich auch schon in Malawi und Mosambik getan hatte: Ich ging von Farm zu Farm und von Dorf zu Dorf, um das Evangelium zu predigen und Gemeinden zu gründen.
Täglich legte ich weite Strecken zu Fuß zurück. Meistens hatte ich keinen Schlafplatz, und so verbrachte ich die Nacht draußen auf den Feldern, unter einem Busch oder wo ich sonst einen Lagerplatz finden konnte. Ich tröstete mich oft mit den Worten Jesu: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Matthäus 8,20).
Es machte mir nichts aus, unter freiem Himmel zu schlafen. Was ich manchmal schwierig fand, war der Mangel an Nahrung. Die meiste Zeit überlebte ich von weggeworfenen Essensresten. Manchmal musste ich zuerst die Ameisen abkratzen, ehe ich hineinbeißen konnte. Ich fegte sie weg und sagte zu ihnen: „So, jetzt ist das hier mein Essen. Ihr könnt euch etwas anderes suchen.“ Die Ameisen, die nicht auf mich hörten, wurden zu einer Extra-Portion Protein. Ich gebe zu, dass ich so manche halb verdorbenen, widerlich aussehenden Essensreste gegessen habe, um meinen knurrenden Magen zu füllen, aber Gott segnete mich jedes Mal, und sie schmeckten richtig gut, wenn ich sie erst einmal im Mund hatte.
Manchmal fand ich Obst und Gemüse, das auf die Straße gefallen war, wie zum Beispiel Zuckerrohr, Papayas und Tomaten. Es gab noch einige andere Delikatessen, die hin und wieder meinen Gaumen erfreuten, wie zum Beispiel das Löwenfleisch, das man mir einmal schenkte, nachdem einige Farmer eine dieser Bestien erschossen hatten, die ihrem Dorf zu nahe gekommen war. Doch trotz der Versorgung des Herrn war ich dadurch, dass ich jeden Tag weite Strecken zu Fuß zurücklegte, nach einer Weile sehr erschöpft. Durch den Mangel an Wasser war ich so geschwächt und dehydriert, dass ich oft an Nasenbluten litt. Doch ich tat Gottes Werk, und deshalb war ich glücklich, auch wenn sich die Leute manchmal über mich lustig machten, weil ich so arm war.
Während meiner Reisen durch Südafrika hatte ich meine erste Begegnung mit Dämonen. Ich traf einen Mosambikaner namens Shouva, der, wie ich selbst, aus einer Familie von Zauberdoktoren stammte, aber dann Jesus Christus als seinen Herrn und Erlöser angenommen hatte. Als ich ihn kennenlernte, war er erst seit etwa einer Woche Christ. Er war ein sehr ruhiger, sanfter Bursche und ich mochte ihn sofort.
Eines Tages, als wir gemeinsam beteten, trat ihm plötzlich Schaum vor den Mund, als ob er gerade ein Stück Seife verspeist hätte. Ehe ich ihn fragen konnte, was mit ihm los war, fiel er hin und begann sich auf dem Boden hin und her zu rollen, Grasbüschel auszureißen und zu schreien: „Nimm deinen Freund weg! Nimm deinen Freund weg!“ Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, aber es gefiel mir überhaupt nicht.
Als er schließlich wieder aufstand, starrte er mich aus wilden, blutunterlaufenen Augen an. Er zitterte am ganzen Leib und ich war sicher, er würde mich jeden Moment angreifen. Er muss verrückt sein, dachte ich. Wenn ich mich nicht von ihm entfernte, war ich in Gefahr. Ich erwog zu fliehen. Wir waren auf die Spitze eines kleinen Bergs geklettert, um Zeit allein mit dem Herrn zu verbringen, deshalb würde es mir nichts bringen um Hilfe zu schreien.
Doch dann erinnerte mich Gott an etwas: Shouva hatte mir erzählt, dass er, als seine Mutter gestorben war, den Strohkorb, den sie als Zauberdoktorin benutzt hatte, als Erinnerung behalten hatte. Anscheinend hatte er unwissentlich dämonische Einflüsse in sein Leben eingeladen, die sich jetzt durch ihn manifestierten.
Anstatt also davonzulaufen, streckte ich meine Hand zu ihm hin aus. „Im Namen von Jesus, komm heraus!“, rief ich. Er stolperte rückwärts. Ich sagte es noch einmal: „Im Namen von Jesus, komm heraus!“ Obwohl ich ihn nicht berührt hatte, fiel er nach hinten um und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf. Dann streckte er seine Arme aus – und schien einzuschlafen. Ich stand da und starrte auf ihn herab, und fragte mich, ob er plötzlich aufspringen und mich angreifen würde. Stattdessen schlief er friedlich einige Minuten lang; dann öffnete er die Augen, räusperte sich und setzte sich hin.
„Was ist passiert?“, fragte er. Er hatte keine Erinnerung an sein seltsames Verhalten. Ich sagte ihm, dass Gott ihn sehr liebe und dass ich bei ihm bleiben und mit ihm beten würde, so lange er wollte. Später wurde Shouva ein starker Leiter der Gemeinde in Südafrika.
Nicht lange danach kam ich aus einer Schule, in der ich gepredigt hatte, und sah zu meiner Verwunderung ein weißes Ehepaar mittleren Alters auf mich zukommen. Die Frau war eine freundlich aussehende, etwas rundliche Dame, und der Mann an ihrer Seite, von dem ich annahm, dass es ihr Ehemann war, war dünn, sehr groß und hatte einen Bart. Die Frau umarmte mich freundschaftlich und ihr Mann tat das Gleiche.
Ich war sehr verwundert.
„Ich heiße Annalie“, sagte sie.
„Und ich bin Gart“, lächelte der Mann. „Gart Nell.“
„Surprise Sithole“, stellte ich mich vor.
„Wir sind sehr erfreut, deine Bekanntschaft zu machen, Surprise“, sagte Annalie.
Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie überrascht ich von ihrer Freundlichkeit war. Schließlich waren wir in Südafrika, Anfang der 1990er-Jahre, als die Apartheid immer noch das Land regierte. In jenen Jahren bewegte sich das Land zwar auf Heilung zu, aber in Südafrika wurden sehr viele Gewalttaten begangen, sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern der Apartheid. Weiße Menschen waren in den schwarzen Gebieten des Landes nicht immer sicher, und umgekehrt auch. Es war ungewöhnlich, ein weißes Ehepaar in einer schwarzen Township zu sehen, und dass sie auf einen Schwarzen zugingen und ihn umarmten, war geradezu skandalös.
„Wir haben dich über Jesus reden hören“, sagte Annalie. „Bist du denn Christ?“
„Ja, ich bin ein Evangelist“, erklärte ich.
Annalie berührte den Arm ihres Mannes. „Wir auch“, sagte sie.
„Richtig“, nickte ihr Mann.
„Wohnst du hier in der Gegend?“, fragte Annalie. Ihr Gesicht strahlte Begeisterung aus. In ihren Augen lag ganz viel Sanftheit und ihre Nähe hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich wusste sofort, dass diese beiden lieben Leute mit dem Geist Gottes erfüllt waren.
„Ich wohne eigentlich nirgendwo“, sagte ich. „Ich reise von Stadt zu Stadt und erzähle den Menschen von Jesus.“
„Aber wo lebst du denn?“, hakte sie nach.
Ich zuckte mit den Schultern. „Im Busch.“
„Du schläfst im Freien?“, fragte Annalie.
„Ja, genau.“
Sie blickte zu Boden und ich dachte, sie würde anfangen zu weinen – besonders als sie die zerlumpten, ausgetretenen Schuhe an meinen Füßen sah. Sie konnte es nicht wissen, aber die Schuhe waren in Wirklichkeit gar nicht so alt. Christliche Freunde hatten mir über die Jahre sehr oft neue Schuhe geschenkt, aber wenn man jeden Tag zehn bis fünfzehn Meilen über raues Gelände läuft, dann nutzen sie sehr schnell ab.
Sie tauschte einen vielsagenden Blick mit Gart, und er nickte. „Warum kommst du nicht mit zu uns nach Hause?“, fragte sie. „Sehr viel Platz haben wir nicht, aber du kannst mit meinem Sohn das Zimmer teilen.“
„Aber, aber …“, stotterte ich, nicht sicher, wie ich darauf reagieren sollte. „Sie kennen mich doch gar nicht und …“
„Und?“ Sie lächelte.
„… und ich bin schwarz.“
„Das sehen wir“, lachte Gart. „Wir sehen auch, dass du ein Diener des Herrn bist, und es ist uns eine Ehre, wenn du bei uns wohnst.“
Ich protestierte, weil ich befürchtete, sie könnten Schwierigkeiten bekommen, wenn ich bei ihnen wohnte – aber sie ließen sich nicht beirren. Und natürlich war die Aussicht auf ein weiches, warmes Bett zum Schlafen für mich einfach herrlich.
„Hast du irgendwelche … ähm … Kleidungsstücke oder …?“, fragte Annalie.
„Nur das, was ich anhabe“, antwortete ich, „und meine Bibel.“
„Na, dann komm“, sagte Gart. „Wir bringen dich nach Hause.“
Ich kletterte auf den Rücksitz ihres Jeeps, und wir fuhren los zu ihrem Haus, das nicht sehr weit entfernt lag. Sie wohnten in Malalane, einer kleinen Stadt direkt am Tor zu Südafrikas berühmtem Krüger-Nationalpark. Der Krüger-Nationalpark ist eines der größten Naturreservate der Welt und erstreckt sich über siebentausend Quadratmeilen. In ihm leben unzählige Tierarten wie zum Beispiel Büffel, Elefanten, Impalas, Giraffen, Leoparden, Löwen, Nashörner, Gnus und Zebras.
Ich nehme an, verglichen mit dem Lebensstandard der anderen weißen Südafrikaner war ihr Haus wirklich nicht sehr groß, aber mir erschien es wie ein Palast. Wie herrlich, ein Dach zu haben, das den Regen abhielt, und Wände, die mich vor dem Wind und den wilden Tieren schützten, die eventuell Lust auf einen kleinen Mitternachtssnack hatten!
Ihr Sohn Rehgart, damals elf Jahre alt, war ein reizender Junge, den es überhaupt nicht störte, sein Zimmer mit mir zu teilen. „Super!“, sagte er, als sein Papa ihm eröffnete, er habe einen neuen Zimmergenossen. „Hey, Surprise, magst du Kricket?“
„Damit kenne ich mich nicht so gut aus“, gab ich zu.
„Ich bringe es dir bei“, sagte er. „Du wirst es mögen!“ Und so fühlte ich mich umgehend zu Hause, als ob ich schon immer Teil der Familie gewesen wäre.
Am gleichen Abend kochte Annalie ein köstliches Abendessen, während Gart ein Bettgestell und eine Matratze hereinbrachte, die sie noch im Lager hatten. Ich vermutete, dass es nicht das erste Mal war, dass sie jemanden zu Gast hatten. Wie herrlich war es, mich abends in ein Bett zu legen, nachdem ich geduscht hatte und mich frisch und sauber fühlte. Es war so viel angenehmer, als unter einem Baum oder einem Stück Plastikplane aufzuwachen!
Die zwei Jahre, die ich bei Annalie und Gart lebte, waren eine ganz besondere Zeit für mich. Die Liebe, die Annalie mir entgegenbrachte, war die stärkste Liebe, die ich je von einem anderen menschlichen Wesen erfahren hatte, und ich liebte sie wie meine eigene Mutter. Es machte ihr besondere Freude, wenn sie andere trösten, ermutigen oder wieder aufrichten konnte. Ihr Leben war gekennzeichnet von Freundlichkeit und Sanftmut, und ihr Lächeln erwärmte außer meinem auch noch viele andere Herzen. Ihr Lieblingsthema war Gnade, ein Thema, über das sie ein tiefes Verständnis besaß und das sie beispielhaft lebte. Egal worüber wir sprachen, wir kamen am Ende immer wieder auf das Thema der Gnade zurück.
Als ich bei Annalie und Gart wohnte, diente mir ihr Heim als Stützpunkt, während ich fortfuhr, in den umliegenden Dörfern zu predigen. Manchmal begleitete mich Annalie und chauffierte mich von Ort zu Ort, was alles sehr viel einfacher und besser machte. Gemeinsam reisten wir quer durch Südafrika, bis nach Beira in Mosambik und Nairobi in Kenia, predigten das Evangelium und erzählten jedem, den wir trafen, von der Liebe Jesu.
Währenddessen merkte ich überhaupt nicht, dass inzwischen die Nachricht in der Nachbarschaft die Runde gemacht hatte, dass die Nells einen schwarzen Mann beherbergten.
Ich verbrachte nicht viel Zeit in ihrem Haus, weil ich normalerweise unterwegs war und predigte. Doch eines Nachmittags war ich zufällig zu Hause, als Rehgart von der Schule nach Hause kam. Er stürmte ins Haus, knallte mit der Tür und warf seinen Schulranzen auf den Boden. „Jetzt reicht’s mir!“, rief er wütend. „Ich halte das nicht länger aus!“
„Was hältst du nicht länger aus?“, fragte ich und trat aus dem Schlafzimmer.
Er errötete, als er mich sah. „Oh, Surprise, ich wusste nicht, dass du zu Hause bist.“
„Worüber bist du so verärgert?“, fragte ich. „Möchtest du darüber reden?“
„Nein, ist schon in Ordnung“, er schüttelte den Kopf. „Es ist nichts von Bedeutung.“
„Bist du sicher? Darf ich mit dir beten?“
„Ach, Surprise“, sagte er und kämpfte mit den Tränen, „einige Kinder in der Schule sagen so schlimme Sachen über dich!“ Er stampfte zum Sofa, warf sich hinein und kreuzte die Arme vor der Brust. „Es tut mir leid. Ich wollte dir nichts davon erzählen“, sagte er.
Ich setzte mich neben ihn. „Was sagen sie denn über mich?“, fragte ich.
„Dass sie nicht verstehen, wie ich es ertragen kann, mit dir im gleichen Haus zu wohnen“, sagte er. „Sie sagen, du wärst schmutzig und würdest bestimmt stinken.“
„Und was sagst du dazu?“
„Ich sage ihnen, dass du nicht stinkst, dass du der sauberste Mensch auf der Welt bist. Aber dann beschimpfen sie mich …“
Ich bekam den Eindruck, dass er ständig unter Hänseleien und Mobbing zu leiden hatte. Er versuchte, mich zu verteidigen, sich gegen seine Peiniger zu wehren, aber sie waren in der Überzahl. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: „Das tut mir leid.“
„Es ist ja nicht deine Schuld“, antwortete er. „Sie sind einfach nur so … so dumm.“
„Sie können nichts dafür“, sagte ich. „So sind sie halt aufgewachsen. Doch vielleicht habe ich doch Schuld. Vielleicht sollte ich gehen.“
„Gehen?“ Er schaute mich wütend an. „Kommt nicht in Frage! Du gehörst zur Familie. Du gehörst hierher.“
Einige Tage später, gegen Abend, war ich im Haus und las in der Bibel, als ich im Hinterhof laute Stimmen vernahm. Ich ging hinaus, um zu sehen, was los war.
Ein untersetzter Mann mit einem runden Gesicht stand auf der anderen Seite des Zauns und lieferte sich mit Annalie ein heftiges Schreiduell. Nun, eigentlich war es eher so, dass der Mann schrie, während Annalie versuchte, wie es ihre Art war, ihn freundlich zu beruhigen.
Mit hochrotem Kopf starrte er Annalie wütend an und ließ einen Strom obszöner Schimpfwörter heraus. „Bitte“, sagte sie, „es gibt keinen Grund, diese Art von Sprache zu verwenden.“
„Ich werde so reden, wie es mir passt“, schoss er zurück. „Ihr Leute seid dabei, diese Nachbarschaft zu zerstören, und wir werden nicht einfach dastehen und zusehen, wie das geschieht.“
„Wir?“, fragte Annalie.
„Wir alle!“, brüllte er. Ehe er das weiter ausführen konnte, sah er mich im Türrahmen stehen. „Da ist er ja!“ Er zeigte auf mich. „Sie können ihm sagen, dass er hier nicht willkommen ist.“
Annalie stützte die Hände in die Hüften. „Ich habe wirklich versucht, vernünftig mit Ihnen zu reden, Sir, aber jetzt gehen Sie zu weit.“
„Sagen Sie mir nicht …“
„Es geht Sie überhaupt nichts an, wen wir in unserem Haus aufnehmen. Guten Tag.“
Er war noch nicht fertig, aber Annalie drehte sich auf dem Absatz um und stürmte ins Haus zurück, wobei sie seine Wut noch anfachte, indem sie mich beim Arm nahm und mich nach drinnen führte. „Sie sagen ihm besser, dass er sich in Acht nehmen soll!“, drohte er noch.
„Ich sagte: Guten Tag!“, erwiderte Annalie und schloss leise die Tür.
Der Mann fuhr fort, uns lautstark zu beschimpfen, mit Beleidigungen und Drohungen – und vor allem mit Flüchen. Dass er den Namen des Herrn missbrauchte, störte mich dabei am meisten.
Gart war im Zimmer gewesen und hatte Rehgart bei einer Hausaufgabe geholfen, doch jetzt standen beide im Türrahmen und sahen besorgt aus. „Was war denn da los?“, fragte Gart.
„Wir müssen beten“, antwortete Annalie. Alle vier gingen wir auf die Knie und beteten zum Herrn, während der wütende Nachbar weiter laut schreiend Beschimpfungen und Drohungen gegen uns ausstieß. Wir beteten um Bewahrung, Mut und Kraft, und wir dankten Gott für diese Gelegenheit, seine Liebe zum Ausdruck zu bringen. Wir beteten auch für alle, die andere nur wegen ihrer unterschiedlichen Hautfarbe hassten, und baten den Herrn sie zu segnen und sie in sein Reich zu bringen. Wir erinnerten uns an die Szene im Himmel, die in der Offenbarung beschrieben wird:
Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen, und riefen mit großer Stimme: Das Heil ist bei dem, der auf dem Thron sitzt, unserm Gott, und dem Lamm! (Offenbarung 7,9–10)
Als wir fertig gebetet hatten, war der wütende Mann des Ganzen anscheinend überdrüssig geworden und war dorthin zurückgegangen, wo er hergekommen war. Gart sagte an diesem Abend nicht viel mehr dazu, aber ich fand später heraus, dass er zu allen Leuten in der Nachbarschaft gegangen war, um sie darüber zu informieren, dass er es nicht zulassen würde, dass irgendjemand seine Frau oder seinen Gast bedroht. Gart war ein freundlicher, gutmütiger Mann, aber er hatte eine Kraft und Robustheit, die er durch das schwierige Leben als Missionar im afrikanischen Busch erworben hatte. Er war nicht die Art von Mann, mit dem man Lust hatte sich anzulegen.
Ich selbst war sehr viel besorgter um Annalie und Gart, als um mich. Sie waren wie Eltern für mich und es brach mir das Herz zu sehen, was sie meinetwegen durchmachen mussten. Aber sie waren fest entschlossen, mich weiter zu unterstützen und wollten nichts darüber hören, dass ich weggehen wollte. Ich bin sicher, dass ich nie in allen Einzelheiten erfahren werde, was sie aufgrund ihrer Liebe zu mir alles erleiden mussten.
Einmal nahm Annalie mich mit, um in einer Gemeinde in Komatipoort ihr Zeugnis zu geben. Als wir am Eingang der Gemeinde ankamen, verwehrte uns einer der Ordner den Zugang. „Es tut mir leid“, sagte er, „aber er muss draußen warten.“
Annalie lächelte zuckersüß: „Wie bitte?“
„Schwarze haben keinen Zutritt zur Gemeinde“, erklärte er und nickte in meine Richtung.
„Ach, aber Surprise ist ein guter Freund von mir“, sagte sie. „Für ihn können Sie doch sicher eine Ausnahme machen.“
Ich wollte keine Probleme, deshalb drehte ich mich um und wollte gehen, aber Annalie packte mich am Ellbogen, um mich aufzuhalten. Was sie damit in Wirklichkeit sagte, war: „Wenn er nicht hinein kann, dann gehe ich auch nicht hinein.“ Aber sie machte es auf eine so charmante Weise, dass es nicht zu einer unschönen Konfrontation kam. Am Ende gab die Gemeindeleitung nach, und ich konnte am Gottesdienst teilnehmen. Wahrscheinlich war ich der erste schwarze Mann, der je diese Gemeinde von innen gesehen hat.
Jeden Tag stand die gesamte Familie um vier Uhr morgens auf und verbrachte mindestens eine Stunde im Gebet. Eines Morgens, als wir in der Nähe des Computers beteten, erschien plötzlich ein Satz auf dem Bildschirm:
Ich möchte euch meine Treue, meine Freundlichkeit, meine Liebe lehren.
Wir waren erstaunt. Keiner von uns hatte diesen Satz zuvor geschrieben, und es gab keinen ersichtlichen Grund, warum eine solche Botschaft plötzlich auf dem Bildschirm erscheinen sollte. Gott selbst hatte uns einen Liebesbrief geschrieben.
In jenen Tagen dachte ich viel über die Liebe nach. Ich war jetzt Ende zwanzig und fing an darüber nachzudenken, wie schön es wäre, eine Frau zu finden, mit der ich mein Leben und meinen Dienst teilen könnte. Jeden Dienstag traf sich eine Gruppe von Leuten in Garts und Annalies Haus, um für spezielle Anliegen zu beten und zu fasten. Wir schrieben unsere Anliegen auf ein Stück Papier und legten es auf den Tisch. Dann nahm jeder eines dieser Anliegen und brachte es vor den Herrn. An einem Dienstag schrieb ich: „Bittet Gott darum, mir eine Frau zu schicken.“
Gart nahm mein Anliegen, las es und warf es schnell in den Papierkorb, der in der Nähe stand. „Surprise hat heute Morgen kein Anliegen“, neckte er mich.
„Doch, habe ich“, sagte ich. „Ich möchte, dass ihr dafür betet, dass Gott mir eine Frau schickt.“
„Weißt du was“, sagte Gart, „ich glaube, du solltest nach einer Frau mit dem Namen Tryphina suchen. Und wenn du sie gefunden hast, dann weißt du, dass du deine Frau gefunden hast.“ Er wollte mich nur auf den Arm nehmen, und das dachte ich auch. Wir merkten gar nicht, dass Gott durch ihn redete.