SECHSTER TEIL
ALS ZOFIA AUF das rostige Gartentor und die Treppe mit den sieben gleich großen Stufen zurannte und vor dem Haus stand, in dem ihre Familie endlich so etwas wie Sicherheit empfunden hatte und den Alltag genoss, kamen ihr in der Haustür zwei Männer mit einer Bahre entgegen, auf der ein Toter lag, zugedeckt. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was war Normalität? Als so etwas in Kolumbien passiert war, wo sie vor allem auf der Flucht gewesen waren – vor der lebenslangen Gefängnisstrafe in Schweden, vor dem Todesurteil der polnischen Mafia, vor dem Todesurteil des Weißen Hauses, vor dem Todesurteil der südamerikanischen Drogenkartelle – , da hatte sie das Fehlen von Normalität akzeptiert, das Anormale. Es sogar erwartet. Aber hier in ihrem Haus in Enskede, nur wenige Kilometer vom Stockholmer Stadtzentrum entfernt, wo sie aufgewachsen war, hier hatte sie sich erlaubt, an die Normalität zu glauben. Also war sie jetzt nicht schockiert, dafür hatte sie schon zu viel gesehen, zu lange in der anderen Welt gelebt, aber sie war verzweifelt. Die Jungen. Ihre Jungen! Wo in Gottes Namen waren ihre beiden Kinder? Wie ging es ihnen? Was …
»Hier drin, Zofia. Aber gehen Sie nicht durch die Küche, die Kollegen sind da noch nicht fertig.«
Sie saßen im Wohnzimmer. Mit halbvollen Saftgläsern und je einem Stück von dem Apfelkuchen, der vom Vortag noch übrig geblieben war. Rasmus und Hugo. Und ihnen gegenüber saß Ewert Grens mit einem völlig demolierten Gesicht.
»Ich vermute, noch ungefähr eine halbe Stunde. Dann haben Sie Ihre Ruhe.«
Der Kommissar schenkte sich das Glas bis zum Rand mit Orangensaft voll, lächelte den beiden Jungen zu und ging dann in die Küche, während Zofia sich auf das Sofa setzte und die Arme um die beiden legte, sie an sich drückte und sie auf die Stirn, die Wangen, die Ohren und die Augen küsste, bis sie protestierten und sie gezwungen war, die beiden loszulassen, wenigstens ein bisschen. Sie wollte sie doch trösten. Oder wollte sie sich selbst trösten?
Mariana und Sven saßen noch am Küchentisch, wo er sie zurückgelassen hatte, sie kritzelten in ihre Notizblöcke und erhoben sich hin und wieder, um zusammen mit einem Kriminaltechniker irgendein Detail zu untersuchen.
»Mir ist noch etwas eingefallen, als ich da drüben bei den Jungen gesessen habe. Und es hat mit Hugo zu tun.«
Grens zog den dritten Küchenstuhl zu sich heran und fuhr fort.
»Er hat mir erzählt, dass er gehört habe, wie das Phantombild telefoniert hat. Also, ich meine den Toten.«
»Er hat ihn gehört?«
»Als der Dreckskerl sich hier an den Küchentisch gesetzt und darauf gewartet hat, dass Zofia Hoffmann nach Hause kommt. Da hat er offenbar jemanden angerufen. Jemanden aus der Organisation.«
»Erinnerst du dich an Billy, unser frisch eingestelltes Wunderkind, Ewert? Der das gemacht hat, wozu keiner von uns auch nur annähernd in der Lage gewesen wäre – einen Code zu programmieren und das Telefon zu entschlüsseln, das in den Klamotten des Flüchtlingspärchens gesteckt hat? Ich habe ihn angerufen, als ich auch die anderen Techniker benachrichtigt habe. Er war hier, während du dich um die beiden Jungen gekümmert hast. Ist mit Blaulicht zurückgerast, um eine ordentliche Analyse des Telefons durchzuführen, das dem Toten gehörte. Aber seine erste Einschätzung ist negativ. Wir müssen uns wohl darauf einstellen, dass wir weder Nummer, Ort noch Zeitpunkt bekommen, nicht für ausgehende Gespräche und auch nicht für eingehende.«
»Dann reden wir mit Hugo.«
»Kann er das, Ewert?«
»Er kann, Sven. Oder hast du einen besseren Zeugen?«
Sie gingen zu dritt ins Wohnzimmer, die drei saßen auf dem Sofa und tranken Saft, als würden sie gemütlich bei einem Nachmittagskaffee beisammensitzen. So hätte es für jemanden ausgesehen, der in diesem Moment an der Tür geklopft und hereingekommen wäre. Nicht wie zwei kleine Jungen, die sich gerade von einem Schock erholten, nachdem sie sich vor einem Mörder im Keller versteckt und diesen dann tot auf dem Boden in ihrer Küche angetroffen hatten.
»Es tut mir leid, Zofia, aber wir brauchen Hugos Hilfe.«
Ewert Grens lächelte dem Jungen zu, mit dem er ein Geheimnis teilte, ein Monstergeheimnis, doch Zofia legte ihre Arme um die Jungs und zog sie fest an sich.
»Sie – das denke ich nicht.«
»Ich weiß, dass Sie das nicht wollen. Aber wir müssen.«
»Hören Sie nicht, was ich sage, Ewert! Sie lassen ihn verdammt nochmal …«
»Ich will aber, Mama.«
»Mein Liebes, du sollst nicht …«
»Ich will aber Ewert helfen.«
Hugo entwand sich dem Griff seiner Mutter und beugte sich zu Grens hinüber.
»Ich kann reden. Über das, worüber ich reden darf, meine ich.«
Der neunjährige Junge und der vierundsechzigjährige Kommissar sahen einander an, und Grens nickte, das war kein Geheimnis.
»Hugo – wir versuchen alles über den Mann herauszufinden, der hier gewesen ist. Und nur du hast ihn gesehen. Hast ihn auch gehört.«
»Ja?«
»Ich wüsste gern, wann er telefoniert hat.«
»Wann?«
»Ja. Wie viel Uhr war es, als du gesehen hast, wie er am Küchentisch saß und telefonierte.«
Hugo strengte sich an. Wollte sich erinnern. Wollte Ewert helfen.
»Ich glaube … das war, bevor ich dich angerufen habe. Und bevor Mama angerufen hat – ich habe das Telefon gesucht, das unter der Schmutzwäsche war und wo wir Rasmus’ Turnhose gesucht haben, und es gab drei verpasste Anrufe. Also vor deinem. Und vor Mamas. Aber nicht megalange vorher.«
Grens scrollte durch seine eigene Anrufliste – um 10.55 Uhr hatte ihn Hugo angerufen. Er bat Zofia, ihren letzten unbeantworteten Anruf zu kontrollieren. 10.47 Uhr.
»Wie lange ist nicht megalange vorher, Hugo?«
»Vielleicht … zehn Minuten. Ungefähr.«
»Gut. Dann wissen wir das. Vielleicht nützt uns das noch. Und jetzt, Hugo, möchte ich noch eine Sache wissen. Was er gesagt hat. Außer, dass er auf deine Mama gewartet hat.«
»Jetzt muss es aber genug sein! Sie haben eine Antwort auf Ihre Frage bekommen, Ewert! Lassen Sie uns in Frieden!«
Der neunjährige Junge legte seine Hand auf die seiner Mutter, um sie zu besänftigen; so wie sie vermutlich sonst immer ihre Hand auf seine legte, um ihn zu besänftigen.
»Mama, das macht nichts. Ich habe es doch gesagt. Ich möchte mit Ewert reden. Denn er war da.«
Die beiden Erwachsenen tauschten Blicke aus. Und Grens sah es. Wie sie gegen ihre Schuldgefühle kämpfte, Ich war nicht da, als mein Sohn mich gebraucht hat.
»Also, was hat er gesagt, Hugo?«
Der Kommissar schnitt sich ein Stück vom Apfelkuchen ab und legte es auf eine Serviette. Dann nahm er einen Bissen, obwohl sein Kiefer entsetzlich weh tat.
»Versuch nachzudenken, Hugo.«
»Auf Englisch. Aber kein richtiges Englisch. Wie jemand, der eigentlich eine andere Sprache spricht. Und dann ein paar italienische Worte. Glaube ich.«
»Italienisch?«
»Ja.«
»Was zum Beispiel?«
»Ich glaube … Brot.«
»Brot?«
»Ciabatta.«
Grens nahm einen weiteren Bissen von dem Apfelkuchen und nickte Zofia zu, als wolle er ihr sagen, dass er gut schmeckte.
»Ciabatta?«
»Ja.«
»Bist du ganz sicher, Hugo?«
»Nicht ganz, aber …«
»Kann ich reinkommen?«
Mariana sah abwechselnd zu ihrem Chef und zu dem neunjährigen Jungen hinüber.
»Hugo – könnte es auch cirrata gewesen sein?«
Der Junge dachte wieder lange nach, ganz lange, er war wild entschlossen zu helfen.
»Ja. Vielleicht.«
Und dann murmelte er das Wort leise vor sich hin, schien zu testen, wie es klang.
»Cirrata. Cirrata. Cirrata. Ja. Ich glaube schon. Dass es das war, was er gesagt hat.«
»Tintenfisch. Der Name der Organisation. Cirrata bedeutet ›achtarmiger Tintenfisch‹.«
Grens sah sie verblüfft an. Sie war gut, das wusste er, aber nicht, dass sie so verdammt gut war.
»Rumänisch, Ewert. Derselbe Sprachzweig wie Spanisch und Italienisch. Und Lateinisch.«
Natürlich. Der Kommissar schämte sich ein wenig, weil er es vergessen hatte, wie immer. Weil die Leben der anderen ihn nicht so sehr interessierten, wie sie es vielleicht sollten. Rumänisch. Ihre zweite Muttersprache.
»Er hat noch etwas gesagt. Was zu ciabatta dazugehörte. Oder zu cirrata.«
Hugos Wangen bekamen nach und nach wieder die Farbe, die aus ihnen gewichen war, als er vom Rückstoß der Pistole nach hinten geschleudert worden war.
»Es kam nach cirrata. Er sagte kaputt. Cirrata kaputt.«
Er wandte sich direkt an Mariana, schließlich verstand sie die Sprache, und sie antwortete auch.
»Kaputt?«
»Ja. Und was dieses Wort angeht, bin ich mir ganz sicher.«
Mariana lächelte den Jungen an, er sollte wissen, dass er seine Sache gut gemacht hatte, und wandte sich dann an Grens.
»Und da haben wir den Kopf des Tintenfisches, Ewert.«
»Was?«
»Caput. Das bedeutet ›Kopf‹. Und wenn du einen Schritt weiterdenkst – die Abkürzung CC. Cirrata Caput. Der Kopf des Tintenfisches.«
Sie zog ihr Telefon aus der Tasche und suchte in einer der Apps das Foto heraus, das Piet Hoffmann von dem Dokument im nordafrikanischen Sitz der Schleuserbande gemacht hatte.
»Und wenn du noch weiterdenkst – cap wie in capital, wie in capitolium, das ist noch immer derselbe Sprachstamm. Hauptstädte. Plätze für Beschlüsse. Siehst du, Ewert, da ganz oben rechts auf dem Papier? CC 25 %. Der- oder diejenige bekommt den größten Anteil. Das alles bestätigt das, was wir schon vermutet haben. Der Kopf des Tintenfisches. Im Verhältnis zu den acht anderen, die weniger bekommen. Ein Kopf, der bestimmt, und acht Arme, die für ihn arbeiten.«
»Du meinst, dass er auf diesem verdammten Stuhl hockte und mit dem … Anführer der Organisation gesprochen hat?«
»Wenn Hugo sich richtig erinnert. Und wenn wir das richtig lesen.«
Ewert Grens erhob sich vom Ecksofa der Familie Hoffmann.
War das möglich?
Hatte der Mann, der Amadou umgebracht hatte und auch den etwas älteren schwedischen Kommissar töten wollte, auf Anweisung des Anführers der gesamten Organisation gehandelt? Hatte er dem Kopf des Tintenfisches von hier aus Bericht erstattet?
Grens dachte an das Foto, das Hoffmann zusammen mit den Dokumenten über die Gewinnverteilung geschickt hatte – das von einem deutschen Mann in Tripolis, den sie als Jürgen Krause identifiziert hatten. Wenn der Deutsche, trotz allem, der Kopf des Tintenfisches war – warum sollte dann ein Mörder hier sitzen, im Haus der Hoffmanns, mit dem Auftrag, Zofia Hoffmann umzubringen, und ihn anrufen? Die oberste Leitung? In einer internationalen Schleuserbande war doch wohl jeder Teil selbstständig tätig? Falls dem so war, musste es sich um ein Problem in Schweden handeln, das der schwedische Tintenfischarm lösen sollte.
Womit Mariana also recht behalten hatte.
CC war der Anführer.
Und CC war Schwede.
Ewert Grens ging in den Flur, in die Küche, und sah aus dem Fenster. Ein früher Nachmittag in einer schönen Wohngegend. Genau so ruhig, wie es sein sollte.
Nun war er damit an der Reihe, sein Telefon aus der Tasche seines Jacketts zu fischen und auf das Symbol für Fotos zu drücken. Er hatte nicht viele. Weil er nur selten fotografierte. Das hatte er eigentlich noch nie getan – was geschehen war, das war geschehen, und wenn er sich ohne ein Foto nicht daran erinnerte, war es ohnehin nicht wichtig. Aber dieses hier hatte er gemacht – und gespeichert. Ein Foto von dem ersten Menschen, den er getötet hatte. In dieser Küche, in der er gerade stand. Der Mensch, der mit seinem Auftraggeber gesprochen hatte – aller Wahrscheinlichkeit nach ein Schwede –, nur kurz vor seinem Augenblick des Todes.
Der Kommissar markierte das Foto und drückte auf das Symbol für Senden.
Dann rief er an.
»Grens? Sind Sie es? Ich habe …«
Piet Hoffmann saß in einem Auto, das hörte man an diesem typischen Hintergrundgeräusch.
»… jetzt gerade keine Zeit. Ich melde mich in ein paar Stunden.«
»Sie klingen gestresst, Hoffmann?«
»Tut mir leid, aber ich kann gerade nicht. Bis später.«
»Sie sollen sich auch nur ein Foto angucken. Ich habe es Ihnen gerade geschickt.«
Mehr Rauschen, mehr Autogeräusche, als Hoffmann die Nachricht öffnete.
»Aha. Und?«
»Der Tote.«
»Ich sehe, dass der Typ tot ist.«
»Erkennen Sie ihn?«
»Nein.«
»Sicher?«
»Den habe ich noch nie gesehen.«
»Ganz sicher?«
»Ganz sicher. Was hat er mit der ganzen Geschichte zu tun? Wer hat ihn getötet? Und wo liegt der da?«
Grens starrte auf den kleinen Flecken Blut auf dem Boden. Und wollte es herausschreien. Hier, Hoffmann. Auf dem Foto liegt er auf deinem Küchenboden, neben dem Tisch, an dem deine Frau und deine Söhne jeden Tag frühstücken, wenn sie mit dir telefonieren. Deine Familie. Die jetzt im Wohnzimmer sitzt und mir geholfen hat, in den Ermittlungen weiterzukommen, weil einer deiner beiden Jungen den Toten gesehen und gehört hat, weil einer deiner Jungen versucht hat, den Mann zu erschießen.
»Wer ihn getötet hat und wo er liegt, ist nicht wesentlich. Wesentlich hingegen ist, dass er direkten Kontakt mit dem Anführer der gesamten Organisation hatte, und das ist unsere einzige Chance, den Dreckskerl zu finden und zu identifizieren.«
Erneut Rauschen, Quietschen, Heulen.
»Nein, Grens, ich habe ihn noch nie gesehen. Und jetzt muss ich mich um mein Chaos kümmern. Ich melde mich.«
Ewert Grens blieb in der Küche zurück, bei dem Blutfleck am Boden und dem Loch in der Wand. Irgendetwas nagte in ihm. Seit dem Gespräch zwischen Hugo und Mariana und den Ausdrücken auf Lateinisch.
Cirrata.
Das Wort klang irgendwie bekannt – ohne dass er sich erinnern konnte, woher.
Aber es nagte und nagte.
Und er war sich immer sicherer, dass es mit der Antwort zusammenhing, nach der er suchte. Und wenn das so war, dann wären das Dokument, das ihm Hoffmann geschickt hatte, und die Zeugenaussage seines Sohnes der Anfang und das Ende der Lösung.
ALS SIE IN Omars Wagen den Hafen von Zuwara verließen, sah Piet Hoffmann sie. Die Flüchtlinge. Die Frank mit Drohungen und Bestechungen weggetrieben hatte, bevor er die große Lagerhalle mit Sprengschnüren präpariert hatte, um sie in die Luft zu jagen.
Er sah sie die Landstraße entlanggehen, weg von dem Verwüsteten. Sie waren verzweifelt. Sie schrien, weinten und gestikulierten.
Einen Moment lang begriff er gar nichts.
Dann schon. Weil die Welt ganz schön oft ein abgefuckter Ort war, wo richtig zu falsch und dann wieder zu richtig wurde.
Er hatte kriminellen Individuen, die vollkommen frei von Empathie waren und mit Menschen wie mit Ware handelten, die Möglichkeit genommen, von der Hölle anderer Menschen zu profitieren.
Er hatte die Wurzeln der Schleuserbande zerstört, sodass sie nicht wieder austreiben konnten.
Aber – er hatte diesen Flüchtlingen damit die Hoffnung auf Veränderung geraubt.
Deshalb schrien und weinten sie. Und deshalb konnte er sich von ihrem Bild nicht losreißen. So kam es, dass Hoffmann nach Ewert Grens verwirrtem Anruf über einen toten Mann auf einem Fußboden, und obwohl sie schon ein ganzes Stück in Richtung Tripolis und Flughafen zurückgelegt hatten, bremste und trotz Franks Protesten in eine kleine Seitenstraße bog, die breit genug war, um darin zu wenden.
Als sie sich nach einigen Kilometern – in die falsche Richtung – dem wandernden Menschenzug auf der Landstraße näherten, trafen sie auf tiefe Trauer, die nur Hoffnungslosigkeit mit sich bringen kann. Obwohl die Organisation, die es nicht mehr gab, sie in einem Boot losgeschickt hätte, das jederzeit sinken konnte, und wenn dies so gekommen wäre, gleich die nächste Reise geplant hätte mit der nächsten Runde von Flüchtlingen, weil das Boot, das Hunderte mit sich in die Tiefe gerissen hatte, bereits genug Geld eingebracht hatte. Hoffmann hatte vorgehabt, ihnen all das zu sagen, ihnen zu sagen, dass die libysche Route nach Europa von nun an geschlossen war und dass das eine gute Sache war. Aber als er vor ihnen stand und versuchte, die Männer ganz vorn in diesem Menschenzug davon zu überzeugen – an einem abgefuckten Ort in einer abgefuckten Welt –, verloren alle Argumente ihren Sinn. Darum öffnete er stattdessen den Kofferraum und holte einen der beiden Koffer heraus, die er mit den Geldscheinen gefüllt hatte, während das Echo der Sprengung des Geldtresors im Hauptquartier widerhallte. Er murmelte auf Englisch und ein wenig Französisch, dass das deutlich mehr sei als das, was sie der Schleuserbande gezahlt hätten, dass sie nach Hause zurückkehren und neu anfangen oder mit den Booten einer anderen Organisation über das Mittelmeer fliehen könnten, dass es ihre Entscheidung sei und dass das Geld reichen würde, egal, in welche Richtung sie weiterreisten.
ALS EWERT GRENS nach der Röntgenuntersuchung seines lädierten Kopfes im Karolinska Universitätskrankenhaus in sein Büro im Polizeirevier Kronoberg zurückkam und sich auf das braune Sofa legte, wusste er es. Er wusste, was in ihm genagt hatte. Cirrata. Wo er dieses Wort gesehen hatte, gehört hatte. Nämlich in der Lobby eines Hotels in der Hauptstadt von Niger. Ein Chauffeur in Uniform, der ein Schild hochgehalten und nach Mister Cirrata gefragt hatte. Ein Beamter des Außenministeriums, der aufgestanden war und sich für das Gespräch bedankt hatte. Cirrata, Dixon? Was denn jetzt? Er hatte Grens’ Frage mit einem warmen Lächeln quittiert. So heißt der UN-Repräsentant, den ich treffen werde.
Wen sollte er treffen?
Wer war der UN-Vertreter?
Ewert Grens rannte durch den Raum, vom Sofa zum Schreibtisch, den er so selten benutzte. Der Boss. Der schwedische Kopf der Schleuserbande. War Dixon auf dem Weg zu dieser Person gewesen? Er fand die Visitenkarte mit dem Logo der Regierung unter einem Haufen von unsortierter und ungeöffneter Post und wählte die Nummer. Einmal. Zweimal. Niemand ging ran. Die Stimme des Regierungsbeamten grüßte mit einem elektronischen Gruß auf Schwedisch und Englisch, und Grens hinterließ eine Nachricht, bat um Rückruf.
Er war ungeduldig.
Ging im Zimmer auf und ab, wie so oft.
Bis er nicht mehr länger warten konnte.
Es war erstaunlich leicht, das Hotel in Niamey über Google zu finden, und der Kommissar war ganz zufrieden, als er kurz darauf die Telefonnummer wählte. Und in seinem allmählich besser werdenden Schulenglisch erklärte er, dass er über einen häufigen Gast des Hotels sprechen wolle. Zwei Missverständnisse und zwei Kontrollrückrufe später war der Sicherheitschef des Hotels ausreichend überzeugt, dass Grens wirklich der schwedische Polizist war, als der er sich ausgegeben hatte, um die Vorschriften zu umschiffen und trotz des Berufsgeheimnisses über einen Gast zu reden.
»Ein Chauffeur, sagen Sie?«
»Ein Mann in Uniform ohne Gradabzeichen. Der gegen acht Uhr morgens vor drei Tagen einen Ihrer Stammgäste abgeholt hat – einen schwedischen Regierungsbeamten namens Thor Dixon. Ich würde gern mit dem Fahrer in Kontakt kommen.«
»Warum?«
»Das ist meine Sache.«
»Wollen Sie meine Hilfe oder nicht? Es gibt mehrere Taxiunternehmen, und es wird mich einige Stunden kosten herauszufinden, für welches er arbeitet.«
»Ich möchte wissen, zu wem oder wohin der Chauffeur Dixon gefahren hat. Ich interessiere mich also nicht für Ihren regelmäßigen Gast, falls das eine Erleichterung für Sie ist, sondern ich suche Informationen über die Person, zu der er an genau diesem Morgen gebracht worden ist.«
Das Telefongespräch machte es nicht einfacher, die Rastlosigkeit im Zaum zu halten. Geduld war noch nie seine Stärke gewesen. Daher wanderte er weiter im Raum hin und her, zwischen Schreibtisch und Fenster, zwischen Sofa und Bücherregal. Bis jemand leise an die Tür klopfte und ein Kollege, an dessen Namen er sich nicht erinnerte, seinen Kopf durch den Türspalt schob.
»Du hast Besuch.«
»Aha?«
»Soll ich sie reinbringen?«
»Kommt drauf an, wer es ist.«
»Ein sehr junger Mann. Und seine Mutter.«
Ein Gesicht schaute unter dem Ellbogen des Mannes hervor. Mit einem Lächeln.
»Hugo …?«
»Hallo Ewert.«
»Was machst du hier – im Polizeirevier?«
»Dich besuchen.«
Zofia stellte sich neben ihn.
»Er hat nicht aufgehört, mir auf die Nerven zu gehen. Er wollte so gern herkommen. Zu Ihnen, an Ihren Arbeitsplatz. Ist das in Ordnung?«
Ewert Grens lächelte. Breiter, als ihm bewusst war.
»Herzlich willkommen. Ich empfange hier in diesem Büro nicht oft so feinen Besuch. Oder überhaupt Besuch, wenn ich ehrlich bin.«
Er zupfte den Stoff des Sofas zurecht, so gut es ging. Fuhr mit der Hand durch die Luft, um ihnen zu verstehen zu geben, dass sie sich setzen sollten. Dann schob er die Papierstapel vom Besucherstuhl, bevor er sich Hugo gegenüber hinsetzte.
»Ewert – das ist nicht die ganze Wahrheit.«
Zofia musterte Grens, vermied aber direkten Augenkontakt.
»Hugo wollte unbedingt herkommen, das stimmt. Aber ich wollte es auch.«
»Ja?«
»Denn ich wollte Sie um Verzeihung bitten. Ich … ach, es war einfach so viel, als ich nach Hause gekommen bin. Aber ich habe Ihr Gesicht gesehen. Und ich sehe es auch jetzt, blau geschlagen, verbunden. Mir war klar, mir ist klar, dass Sie die Kinder geschützt haben. Und mich auch geschützt haben. Er hat ja auf mich gewartet, nicht auf Sie.«
Sie sah ihn an.
Mit Augen, die keine Kraft mehr hatten, sich mit dem Tod zu beschäftigen.
»Aber Sie waren es, Ewert … Sie haben mir das Leben gerettet. Und das Leben meiner Jungen.«
»Oder es war umgekehrt.«
Grens zwinkerte Hugo zu, ohne dass Zofia es bemerkte.
»Umgekehrt? Jetzt verstehe ich Sie nicht, Ewert.«
»Dass Hugo mir das Leben gerettet hat.«
Es dauerte einen Augenblick. Dann lächelte sie. Lachte sogar ein wenig. Knuffte Hugo in die Seite, damit auch er über den Scherz des kauzigen Kommissars lachte.
»Es tut mir leid, Ewert. Ich habe mich danebenbenommen. Habe falsche Sachen gesagt. Sie sind immer willkommen. Wenn Sie uns besuchen möchten. Ich weiß, dass Hugo und Rasmus sich darüber freuen würden. Ich würde mich auch darüber freuen – wenn Sie weiterhin mit Ihnen in Kontakt bleiben.«
Ewert Grens lächelte. Das war schön. Ein Kampf weniger an einem Tag voller Kämpfe.
»Und … was macht die Gesundheit?«
Er nickte ihr vielsagend zu, wusste ja nicht, ob Hugo eingeweiht war. Dass sie ihr drittes Kind erwartete.
»Hugo weiß es. Dass er noch einmal großer Bruder wird. Wir haben vorhin darüber gesprochen. Das gehörte in gewisser Weise zu diesem Besuch. Und mit der Gesundheit steht alles zum Besten.«
Sie legte sich unbewusst die Hand auf den Bauch, Grens’ Blick weilte ein wenig zu lange an der Stelle.
»Wir … sollten auch eins bekommen. Ein Mädchen, wie sich zeigte. Im fünften Monat. Als Anni so schwer verletzt wurde. Meine Frau, meine ich. Darum wurde da nie etwas draus.«
»Ewert, ich wusste nicht, dass …«
»Manchmal kommt es, wie es kommt. Aber jetzt kenne ich ja zwei tolle Jungs. Nicht wahr, Hugo?«
Später stand er im Flur und sah lange einem Jungen und seiner Mutter hinterher, die Zimtschnecken essen gehen wollten – Grens hatte ihnen das Versprechen abgenommen, dass sie das Café gegenüber vom Polizeirevier ausprobieren würden – bevor er selbst in ein anderes Dienstzimmer ging, das drei Türen weiter lag und wo ihn Sven und Mariana erwarteten.
»Setz dich, Ewert.«
Marianas Wangen waren leicht gerötet, und sie runzelte die Stirn wie immer, wenn eine Ermittlung kurz davor war, eine neue Richtung einzuschlagen – wenn sie unbedingt mit den Neuigkeiten rausplatzen musste.
»Sven und ich glauben, dass wir … oder hör einfach zu, dann erklären wir es dir Schritt für Schritt.«
Eine blaue Mappe lag auf dem schlichten Tisch zwischen drei ebenso schlichten Stühlen. Mariana hatte ihr Zimmer trotz der vielen Dienstjahre bei der Kripo nicht besonders hübsch eingerichtet. Dieselben Möbel und dieselben Sachen an den Wänden wie damals, als sie eingezogen war. Sie war mit einer Einrichtung zufrieden, die mal jemand anderes für sich ausgewählt hatte. Manchmal fand er es schade. Aber meistens war er stolz darauf, eine Mitarbeiterin rekrutiert zu haben – sie sogar durch die Bürokratie geschleust zu haben, vorbei an einer Reihe qualifizierterer Bewerber – , die tatsächlich der Meinung war, dass die eigentliche Arbeit, die laufenden Ermittlungen, mehr Bedeutung hatten als die Farbe eines neuen Teppichbodens.
»Wir fangen mit dem Toten an, der dich in der Küche der Familie Hoffmann attackiert hat. Keine Treffer in unseren Registern. Aber eine Antwort von Interpol. Identische Fingerabdrücke und identische DNA in zwei ungelösten Fällen mit einem bisher unbekannten Mörder. In Italien und Polen.«
Sie hatte das Dokument hochgehalten, das ganz oben in der Mappe gelegen hatte – nun tauschte sie es gegen ein anderes aus.
»Als wir den Mann überprüft haben, den Piet Hoffmann Omar nennt und von dem er uns ein Foto geschickt hat, haben wir von unseren libyschen Kollegen erfahren, dass er – der offenbar Omar Zayed heißt – früher ein Mitarbeiter in Gaddafis Verwaltungsstab war. Er hat für die Sicherheitspolizei gearbeitet, war verantwortlich für Vernehmungen, Folter und Ähnliches. Einer der wenigen, die die Säuberungen überlebt und offenkundig einen neuen Futtertrog gefunden haben.«
Das nächste Dokument in der Mappe war ein wenig dicker. Oder eigentlich auch nicht. Es waren mehrere Blätter, zusammengeheftet.
»Parallel haben wir aber noch weitere Personen untersucht. Namen, die uns wie alle anderen zu Beginn unbekannt gewesen waren, dann aber immer wieder aufgetaucht sind.«
»Aha?«
»Zuerst die Sektionsassistentin beziehungsweise Obduktionstechnikerin. Eine Frau namens Laura, sie ist etwa fünfzig Jahre alt und im Leichenschauhaus des Söder-Krankenhauses angestellt. Unter ihrer sanften und freundlichen Oberfläche verbirgt sie noch ein ganz anderes Wesen.«
»Und?«
Ewert Grens spürte, dass er unruhig wurde. Er wandte sich leicht ab, damit Mariana nicht sehen konnte, wie sehr er hoffte, dass ausgerechnet diese Frau nicht die Antwort auf die Frage nach dem schwedischen Kontaktmann war.
»Es hat sich gezeigt, dass sie eine ziemlich üble Vergangenheit hat. Aber vielleicht ist das ja auch der Grund, warum man sich entscheidet, Leichen aufzuschneiden.«
»Und?«
Mariana sah abwechselnd von den Unterlagen zu ihrem Chef und wieder zurück.
»Wir haben sie durchleuchtet, soweit es uns möglich war. Und jetzt sind wir uns sicher – dass sie es nicht ist.«
Grens spürte die Erleichterung, die ihn sofort so sanft stimmte, wie er die Obduktionstechnikerin erlebt hatte. Es interessierte ihn auch nicht, ob Mariana und Sven es ihm ansahen, weil er es ohnehin nicht verbergen konnte.
»Dann haben wir weitergemacht. Mit dem nächsten Namen. Hier, Ewert, das ist das erste Blatt auf dem Stapel.«
»Nicht so schnell.«
Der Kommissar war noch nicht bereit weiterzugehen.
»Was hat sie getan?«
»Wer?«
»Die Obduktionstechnikerin. Laura.«
»Ewert – was spielt das für eine Rolle?«
»Ich möchte es wissen.«
Mariana grinste.
Zumindest dachte er, dass sie grinste.
»Sie hat sich scheiden lassen. Und saß außerdem acht Monate im Frauengefängnis Hinseberg wegen Körperverletzung.«
»Körperverletzung?«
»Hm. Er hätte sie nicht betrügen sollen.«
Nun war es an Grens zu grinsen.
Zumindest dachte Mariana, dass er grinste.
»Und jetzt? Können wir weitermachen?«
»Jetzt können wir weitermachen.«
Mariana zeigte auf den Papierstapel, den sie auf den Tisch gelegt hatte. Ganz oben eine Art Personalliste des Außenministeriums. Ein paar Jahre alt, wie es schien. Mariana zeichnete mit dem Finger einen Kreis um eine Zeile in der Mitte.
»Da. Siehst du?«
Ewert Grens las. Eine Angestelltenliste des schwedischen Konsulats in Bengasi, Libyen. Und ein Name, den er kannte.
»Thor Dixon. Er arbeitete bereits zu Gaddafis Zeit dort, Ewert. Bevor er den Posten als Referatsleiter für die in Stockholm stationierten Botschafter für Westafrika übernommen hat.«
»Sowas tun Mitarbeiter des Außenministeriums. Sie reisen. Arbeiten sich in der diplomatischen Hierarchie nach oben.«
»Stimmt. Sowas tun sie. Aber sieh dir das an.«
Das zweite Blatt von den zusammengehefteten.
Ein Foto. Schwarzweiß. Aus einer Tageszeitung. Zwei Personen sehen in eine Kamera. Anzüge, ernste Blicke, Flaggen auf dem länglichen Konferenztisch.
»Erkennst du sie, Ewert?«
Der Kommissar setzte seine Lesebrille auf, die inzwischen immmer in einer seiner Taschen lag, und beugte sich vor.
»Nein.«
»Das da, das ist Omar Zayed. Links. Und das da, der Mann, der ihm gegenübersitzt, das ist der junge Thor Dixon. Auf einem offiziellen Foto. In einem offiziellen Zusammenhang. Aber es zeigt vor allem eine Sache – sie haben dort zur selben Zeit gearbeitet. Haben sich dort kennengelernt.«
Grens sagte nichts. Er war sich ja nicht sicher, wohin die Reise ging. Oder ob er das überhaupt wissen wollte.
»Dann haben wir das gefunden. In einer anderen Zeitung, die von einem diplomatischen Treffen berichtet. Acht Personen auf dem Foto. Ganz links sitzen drei Männer. Siehst du, welche?«
Es war derselbe Zeitraum. Und kaum zu glauben, aber sie trugen sogar dieselben Anzüge. Omar Zayed und Thor Dixon. Aber den dritten, auch er war in einem grauen Anzug mit gestreifter Krawatte, ungefähr im selben Alter wie die anderen, den kannte er nicht.
»Das ist Jürgen Krause. Den hat Hoffmann fotografieren lassen, als Omar sich mit Krause in Tripolis getroffen hat. Und der versteckt sich, so nehmen wir an, hinter dem Codename ACC in den Unterlagen über die Gewinnbeteiligung. Der Zweitmächtigste der Bande. Erkennst du das Muster, Ewert? So ist die Organisation aufgebaut. Sie beruht auf internationalen Kontakten. Auf formellen Kontakten, die im Lauf der Jahre informell geworden sind. Auf einem Netzwerk, das bereits existierte. Und geographisch perfekt passte. Ein Vertreter in der Region, in der das Schleusen der Flüchtlinge beginnt – und ein Vertreter in jedem Land, in dem es endet. Zuw1 und ACC und CC. Wenn wir zuw2 abziehen, weil der, wie wir inzwischen wissen, auch in Nordafrika tätig ist, verwette ich mein letztes Hemd darauf, dass die Codenamen lam und sal und bank und gda und trans balt zum Großteil für Leute stehen, die damals, als die Verbindungen entstanden sind, auch Diplomaten gewesen waren.«
Ewert hatte gut zugehört. Alles, was sie sagte, schien zusammenzupassen. Trotzdem verstand er es nicht.
»Dixon?«
»Dixon, Ewert.«
»Meinst du das wirklich ernst … Dixon?«
»Ja genau, Dixon. Er könnte die Hauptperson sein, die den anderen vielleicht nicht unbedingt sagt, was sie tun sollen. Die aber dafür gesorgt hat, dass sie handeln konnten.«
Der Kommissar lehnte sich auf dem unbequemen Stuhl zurück und wippte auf den wackligen hinteren Beinen hin und her. Viel mehr gab es nicht zu tun.
»Und jetzt? Ich vermute, du hast schon einen Vorschlag, wie wir weitermachen?«
Mariana schob den kleinen Stapel Papier in die blaue Mappe zurück, in der Platz für deutlich mehr Dokumente war.
»Sven und ich benötigen deine Erlaubnis, um Thor Dixons Telefonlisten anzufordern. Und zwar sämtliche. Seine privaten Telefonanschlüsse und die, die er als Regierungsbeamter benutzt. Wir wollen herausfinden, ob wir eine Verbindung zwischen ihm und der Organisation entdecken können – zum Beispiel, ob er mit dem Mann in Hoffmanns Küche telefoniert hat, als Hugo ihn belauschte. Ob Dixon diesem Auftragskiller persönlich den Auftrag erteilt hat, die Zeugen zu beseitigen.«
ABENDLICHE DUNKELHEIT. SCHON wieder. Aber er wusste jetzt, in welcher Reihe und auf welcher Höhe der großen, prächtigen Fensterfront Thor Dixon sein Büro hatte. Es war Licht an. Der Regierungsbeamte saß an seinem Schreibtisch, wie auch der Kommissar oft um diese Uhrzeit, ein paar Kilometer entfernt, noch an seinem Arbeitsplatz war.
Ewert Grens war ein paar Minuten zu früh und wartete an der mit Grünspan überzogenen Statue des Königs am Gustav Adolfstorg darauf, dass Dixon die schweren Steintreppen herunterkommen und die Eingangstür des Außenministeriums öffnen würde. Dixon hatte auf seine Nachricht auf dem Anrufbeantworter reagiert und zurückgerufen und so geklungen wie immer, freundlich und bereit, seine Hilfe anzubieten. Denn das hatte Grens gesagt – dass er weitere Unterstützung bei den Ermittlungen benötigte. Er hatte natürlich nicht gesagt, dass er gekommen war, um Dixons Beteiligung an der Organisation zu prüfen. Die zuvorkommende Haltung, die Selbstverständlichkeit, mit der Dixon den Kommissar empfing und teilhaben ließ, seine Offenheit, die niemals mit Zögern oder Geheimnissen einherkam, weckte in Grens Zweifel, ob er hier an der richtigen Adresse war. Er fragte sich aufrichtig, ob seine und Marianas und Svens Auslegung der Dokumente und alter Zeitungsartikel ein einziger Fehler war, darauf zurückzuführen, dass sie unter Druck standen, weil sie Ergebnisse liefern mussten, um einen Fahndungserfolg vorweisen zu können.
»Das wird ja langsam eine schöne Angewohnheit. Dass der Herr Kommissar mich zu später Stunde aufsucht. Aber … entschuldigen Sie … wie sehen Sie denn aus?«
Auch in Thor Dixons Stimme gab es keine Anhaltspunkte von Schuld, und Grens hatte gelernt, so etwas auch aus dem Ungesagten herauszuhören.
»Vielen Dank, dass ich so spät noch vorbeikommen durfte – zum zweiten Mal jetzt. Ich weiß das zu schätzen. Und das hier …«
Grens zeigte auf sein Gesicht.
»… war ein kleiner Unfall. Das passiert in unserem Beruf manchmal.«
Der Erbfürstenpalais war so still und verlassen wie bei seinem ersten Besuch.
Ihre Schritte und ihr Atem hallten durch die Korridore.
»Und womit kann ich der Polizei dieses Mal helfen?«
Dixon hatte die Thermoskanne mit frischem Kaffee bereits auf den kleinen Beistelltisch gestellt. Er schenkte Grens eine Tasse schwarzen Kaffee ein und gab sie ihm, ohne zu fragen. Er wusste, Grens wollte doch zu jeder Tageszeit Kaffee.
»Mit ein paar Namen. Noch ein paar mehr, meine ich. Ich glaube sogar, dass Sie die kennen.«
»Dass ich die kenne? Ich bin gespannt. Ich freue mich, dass es so gut geklappt hat mit dem Jungen, die Angehörigen werden dieser Tage über den Tod seiner Cousine und ihres Mannes von meinen afrikanischen Kollegen informiert werden, denen vertraue ich sehr. Dass können Sie dem Jungen gerne ausrichten, Grens, das wird ihn freuen und vielleicht ein wenig beruhigen.«
Ewert Grens nahm einen Schluck Kaffee und musterte den Regierungsbeamten über den Tassenrand.
Den Jungen beruhigt nichts mehr.
Weil er tot ist.
Und ich bin hier, um herauszubekommen, was Sie damit zu tun haben.
Thor Dixon sah Grens an. Falls er Amadou nur erwähnt hatte, um Grens zu testen, so war ihm das nicht anzumerken. Entweder war Dixon so unschuldig wie er sein sollte oder er war ein verdammt guter Schauspieler.
»Ich werde es ihm sagen, wenn ich ihn sehe.«
Grens versuchte, irgendeine Regung in Dixons Gesicht abzulesen.
Nichts.
Er war unschuldig. Oder eiskalt.
»Dann fangen wir doch mit einem der Namen an, bei denen ich Ihre Hilfe benötige. Seinen Namen hätte ich gern. Der Mann, der da neben Ihnen auf dem Foto steht. Die Aufnahme wurde in Libyen gemacht.«
Ewert Grens hatte sich auf das Besuchersofa gesetzt, Dixon hatte auf dem edel zerschlissenen Ledersessel gegenüber Platz genommen. Er wirkte ebenso elegant wie sein Besitzer und atmete mehr Oper als Büro. Der Kommissar legte das Blatt Papier auf den ebenfalls eleganten Couchtisch und schob die Kopie des Zeitungartikels zu Dixon rüber.
»Erkennen Sie ihn wieder?«
Thor Dixon beugte sich über das Blatt.
»Könnten Sie mir bitte meine …«
Er zeigte auf das Regal hinter Grens.
»… Lesebrille geben?«
Ewert Grens reichte ihm die Brille aus glänzendem Metall, und Dixon umrahmte seine grauen Augen damit. Dann beugte er sich wieder über das Foto.
»Ja, ich erkenne ihn.«
»Und?«
»Zayed. Omar Zayed. Ich kenne ihn aus meiner Zeit als Diplomat, damals war ich zuständig dafür, gegen das Gaddafi-Regime zu arbeiten – oder mit dem Regime, wenn Sie so wollen. Aber inwiefern hilft Ihnen das bei den Ermittlungen?«
»Der Mann, der neben Ihnen steht, heißt ganz richtig Omar Zayed und wurde als einer der führenden Köpfe der internationalen Schleuserbande identifiziert, die für die Toten in dem Container verantwortlich sind.«
»Wie bitte?«
»Die Identifizierung ist hundertprozentig.«
Dixon fixierte das Foto, sein tadellos rasiertes Kinn ruhte in seiner Hand.
»Omar Zayed?«
»Wie gut kennen Sie ihn denn? Wie gut kennen sie sich?«
»Zayed soll also Teil dieser … dieser Tragödie sein? Verantwortlich für diesen Irrsinn? Aber – was will der Herr Kommissar damit eigentlich sagen? Wir haben zusammengearbeitet. Das ist ein offizielles Foto von einer offiziellen Verhandlung. Ich kannte ihn damals nicht. Und ich kenne ihn auch heute nicht. Aber Sie sagen also, dass …«
»Es gibt noch einen zweiten Namen, über den wir reden müssen.«
Grens schob das nächste Foto über den Tisch, das mit den acht Personen, die an einem Konferenztisch sitzen. Er zeigte auf einen kräftigen Mann, der seine Haare mit Mittelscheitel trug.
»Der zwischen Ihnen und Omar Zayed sitzt.«
»Ja?«
»Kennen Sie den?«
Dixon setzte sich die Brille wieder gerade auf die Nase und versank in der Aufnahme, die nicht besonders scharf war.
»Jürgen Krause, ein Deutscher.«
»Es sieht fast so aus, als würden Sie sich die Hand schütteln und sich umarmen. Stimmt das?«
»Der Fotograf würde heute wohl kaum einen Job bei einer Zeitung bekommen, aber … ja, das tun wir – mir hat das ehrlich gesagt noch nie gefallen, aber das gehört manchmal zum diplomatischen Parkett … bei Besprechungen.«
»Auch Krause ist als einer der führenden Elemente der Organisation identifiziert worden.«
»Ich verstehe nicht recht.«
»Es besteht kein Zweifel, und die deutschen Kollegen haben ihn bereits vorgeladen.«
Thor Dixon betrachtete ein letztes Mal die Kopie dieser Aufnahme, dann sah er Grens an. Und zeigte keine Regung. Nichts.
Er war weder in Sorge noch wütend, und auch nicht vorwurfsvoll. Er war die Ruhe selbst. So wie es nur Unschuldige sind.
»Das klingt alles ganz unglaublich und so unvorstellbar. Aber wenn Sie das sagen? Doch ich wiederhole mich – was will der Herr Kommissar mir damit eigentlich zu verstehen geben? Was hat das alles mit mir zu tun?«
»Das ist ja meine Frage.«
»Und die Antwort ist immer dieselbe – auch das ist ein offizielles Foto von einer offiziellen Verhandlung. Und ein Mensch, den ich damals nicht kannte und heute auch nicht kenne. Ich verstehe nicht, worauf der Herr Kommissar hinauswill?«
»Ich möchte darauf hinaus, dass aus offiziellen Treffen mit offiziellen Bekannten im Laufe der Zeit inoffizielle Treffen mit inoffiziellen Bekannten werden. Und dass Ihre offiziellen Aufträge diese inoffiziellen überhaupt erst ermöglicht haben.«
Ein paar Fotos. Auf denen ein Regierungsbeamter zu sehen ist, der an ein bisschen zu vielen Stellen in Gesellschaft mit zu vielen Schlüsselpersonen gesehen wurde. Viel an Beweis war das nicht. Noch nicht. Aber wenn Grens gehofft hatte, ihn aus der Reserve zu locken, oder dass er womöglich zusammenbrach und alles gestand, dann konnte er lange warten. Der Diplomat, der da vor ihm saß, wirkte gefasst, sicher und keineswegs beeindruckt. Und wartete darauf, dass Grens mit seinen Ausführungen fortfuhr.
»Ich habe mein ganzes Leben mit dem Guten und dem Bösen zu tun gehabt. Und habe dabei eine Sache gelernt, Dixon. Das beides gibt es gar nicht. Weder das eine noch das andere. Denn es ist so – die meisten Verbrecher sind in ihrem Leben selbst Opfer gewesen. Es geht also immer darum, an welchem Punkt man sich das Leben eines Menschen ansieht. An welcher Stelle man das kleine Loch kratzt und von außen draufsieht. Wenn man sich für den Zeitpunkt entscheidet, wann er oder sie das Opfer eines Verbrechens wurde, definiert man den Menschen als gut. Wenn man sich dagegen für einen Zeitpunkt kurz vor der Tat entscheidet, dann betrachtet man den Menschen eher als böse und schlecht.«
Grens sammelte die Blätter auf dem Tisch zusammen und wollte sie gerade zerknüllen, als er es sich anders überlegte und noch einmal das Foto mit den drei Männern in den fast identischen Anzügen hochhielt.
»So wie diese drei Menschen, die sich auf ihren jeweiligen Lebenslinien auf offizieller oder eher inoffizieller Ebene begegnet sind, jeder mit seinem persönlichen Lebensplan. Gut oder böse. Oder aus den Guten werden die Bösen. Das hängt ganz davon ab, zu welchem Zeitpunkt man sich ihre Begegnung ansieht und bewertet.«
»Kann ich dem Herrn Kommissar noch mit etwas anderem behilflich sein? Haben Sie noch einen Namen?«
Auf dem Tisch lag ein Stift. Einer, mit dem Verträge und Absprachen unterzeichnet werden, eine dreieckige Spitze, an der sich manchmal Tintenklumpen bildeten, wenn man es nicht gewohnt war, damit zu schreiben. Und genau das passierte jetzt, haufenweise Tintenklumpen. Als Grens den Deckel abnahm und den Kopf eines der Männer mit einem Kreis versah.
»Ich bin nicht seinetwegen hier – Omar Zayed, obwohl ich das vielleicht sein sollte. Aber um den müssen sich andere kümmern. Oder eben auch niemand. Ich bin auch nicht wegen …«
Jetzt bekam der Konferenzteilnehmer in der Mitte einen Kreis um den Kopf, dicke Kreise für einen übergewichtigen lachenden Mann.
»… Jürgen Krause hier. Das dachte ich die ganze Zeit. Ich dachte, ich hätte meinen deutschen Kollegen mit Krause den Namen des Kopfes der internationalen Schleuserbande gegeben. Dabei war der die ganze Zeit hier …«
Es war an der Zeit.
Grens beugte sich über den Tisch und senkte unbewusst die Stimme.
»… das Ende der Kette war die ganze Zeit Ihr Schreibtisch, Dixon. Ich bin also Ihretwegen hier. Es geht um Ihren Namen. Weil Sie der Kopf der Bande sind, sich CC nennen und mit jedem Flüchtling, der übers Mittelmeer transportiert wird und auf dem Weg auch mal in einem Container erstickt, fünfundzwanzig Prozent des Gewinns einstreichen.«
Er verstummte.
Der ermittelnde Kommissar hatte ziemlich schwergewichtige Verdächtigungen und Beschuldigungen von sich gegeben, und der Regierungsbeamte saß da und tat … nichts. Keine Anzeichen von Angst, die er zeigen müsste, wenn er schuldig war, keine Anzeichen von Bestürzung, die er zeigen müsste, wenn er unschuldig angeklagt worden war. Nichts. Das waren seine gesammelten Reaktionen.
»Der Junge, von dem Sie vorhin gesprochen haben, Dixon. Sie haben ihn vorhin nur ›den Jungen‹ genannt. Er heißt Amadou. Sie wissen Bescheid? Er hieß Amadou. Denn er ist tot. Nur sechs Personen wussten, dass er mein Hauptzeuge ist. Er selbst, Sven Sundkvist, Mariana Hermansson, eine Polizeizeichnerin, Zofia Hoffmann und der Regierungsbeamte im Außenministerium, der hier vor mir sitzt. Denn ich habe Ihnen diese Information anvertraut. Allen anderen vertraue ich blind, aber den Mann im Außenministerium, den kenne ich gar nicht wirklich. Ich glaube, dass Sie die Informationen, die ich Ihnen gegeben habe, zu Ihren Gunsten verwendet haben. Ich glaube auch, dass Sie seinen Tod angeordnet haben, so wie Sie auch für den Tod des Guides im Tunnelsystem verantwortlich sind, denn ihn hätte man mit den Toten im Container und mit den Körpern im Leichenschauhaus in Verbindung bringen können. Der Mörder der beiden ist übrigens auch tot, er lag in Hoffmanns Küche – und sein letztes Telefonat hat er mit jemanden namens Cirrata Caput geführt.«
Grens öffnete zwei Fotos auf seinem Handy. Das eine von dem Auftragsmörder mit seiner eigenen Waffe in der Brust, dann das abfotografierte Dokument von der Gewinnverteilung der Flüchtlingsmillionen auf neun Teilhaber.
»Cirrata Caput. CC. Sehen Sie? Letzte Spalte.«
»Ja?«
»Sie sind das, Dixon.«
»Wie bitte?«
»Sie haben genau gehört, was ich gesagt habe.«
So unbeeindruckt und ruhig wie zuvor. Sogar noch der Hauch eines Lächelns.
»Grens – ich befürchte, Sie werden hier keinen Kaffee mehr bekommen.«
»Verzeihung?«
»Es gibt keinen Nachschlag.«
»Ich bin nicht gekommen, um Ihren Kaffee zu trinken …«
»Denn es verhält sich folgendermaßen – es tut mir aufrichtig leid, aber ich habe keine Ahnung, wovon der Herr Kommissar da redet. Ich bin Regierungsbeamter. Das Ziel meiner Arbeit ist, dass die Menschen überleben, es besser haben. Ich treffe mich auf allen Reisen mit den unterschiedlichsten Machthabern, die alle an offizieller Stelle bekannt und registriert sind. Ich weiß immer noch nicht, worauf Sie eigentlich hinauswollen – aber Sie versuchen die ganze Zeit, mich zu überführen, einzuschüchtern, mir Angst einzujagen. Aber das gelingt Ihnen nicht – ich bin Diplomat, ich verhandle mit Regierungen, mir machen Worte, die keinen Sinn ergeben, keine Angst. Und was Sie sagen, ergibt einfach keinen Sinn. Darum möchte ich Sie jetzt bitten zu gehen, Grens. Suchen Sie Ihre Antworten dort, wo Sie sie finden können.«
Die Kaffeetasse blieb leer.
Grens hatte seine Aufgabe erfüllt. Er hatte versucht, jemanden zu schubsen, der aber fest auf dem Boden stehen blieb und nicht aus dem Gleichgewicht geriet.
Wie bei seinem letzten Besuch liefen sie schweigend die Treppe hinunter. Und auch jetzt ergriff Grens erst das Wort, als sie unten angekommen waren.
»Schweden ist ein sehr interessantes Land, Dixon. Hier muss man erst ein paar Meter graben, bevor es nach Scheiße stinkt. Es gibt andere Orte auf der Welt, wo es schon an der Oberfläche stinkt, weil man sich dort nicht so viel Mühe macht, den Scheiß zu verstecken. Aber die Menge an Scheiße ist überall die gleiche. Ich rieche die Scheiße, auch in diesem Haus, und das löst in mir gleichermaßen Angst und Wut aus.«
»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Grens. Ich werde ihn haben.«
Ewert Grens hatte den bronzefarbenen Griff der Tür in der Hand, aber seine Wut hielt ihn zurück. Es gab nur einen Weg. Er musste sich die Kraft zurückholen.
»Ich hatte vor Kurzem ein Gespräch mit meinem Kontaktmann in Nordafrika, dem Ausgangspunkt der kriminellen Unternehmungen. Und wenn ich ihm zuhöre, wie zynisch das alles zugeht, da werde ich so … ich haue niemandem in die Fresse, aber Sie – Dixon – sind kurz davor. Für das, was Sie da machen. Die Lebensmitteltransporte zu verhindern, sie anzugreifen, diese Hilfe zu unterbinden, um den Hunger und damit die Motivation zur Flucht zu vergrößern, damit Sie noch mehr Geld verdienen können.«
»Wovon …«
Dixons Wangen und Hals hatten rote Flecken bekommen. Seine Worte stolperten, und seine Augenlider flatterten nervös.
»… reden Sie da?«
»Dass Sie im Hotel in Niamey gesessen und über das Gute geredet haben. Und jetzt stellen Sie sich hier hin und lügen mir ins Gesicht, Sie reden davon, dass die Menschen überleben sollen, es ihnen besser gehen soll. Und gleichzeitig lassen Sie die Lebensmitteltransporte beschießen und nehmen ihnen das Essen weg.«
»Was werfen Sie mir da vor? Ich, der … wenn jemand, dann wohl ich, der … ich lebe für diese Aufgabe, Grens! Ich bin bereit, dafür zu sterben! Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass mein Leben ohne diese Aufgabe – Gutes zu tun – keinen Sinn hätte. Sie kränken mich! Das ist so ungeheuerlich und unverschämt! Ich bitte Sie, gehen Sie. Verschwinden Sie, verdammt nochmal!«
Er hatte die Fassung verloren. Nicht die Beschuldigungen und Verdächtigungen, sondern die Kritik an seiner Arbeit hatte das ausgelöst.
Für einen Diplomaten, der immer die Distanz wahren sollte, war das ein ungewöhnlicher Gefühlsausbruch gewesen.
Für einen Schuldigen allerdings kam dieser Ausbruch viel zu spät. Außerdem hatte er auf die falschen Dinge reagiert.
Und das verwirrte Grens. Hier stimmt doch was nicht? Warum hatte Thor Dixon überraschend seine Contenance und Kontrolle verloren, um die er immer so bemüht war? Und dann so spät?
Draußen war es kühl, fast kalt, obwohl es Juni war. Ewert Grens ging zu seinem Wagen, den er vor der Oper geparkt hatte. Aber er fuhr weder zurück nach Kungsholmen ins Revier noch in den Sveavägen ins eigene Bett – er hatte eine Adresse in der Vasastan in das Navi eingegeben, wo er noch nie zuvor gewesen war. Thor Dixons Privatadresse. Er würde dort auf ihn warten und ab und zu nach den dunklen Fenstern im dritten Stock sehen. Er war sich sicher, dass sein Besuch im Außenministerium etwas losgetreten hatte. Und falls etwas daraus entstünde, wollte er vorbereitet sein. Es könnte sich schließlich doch um den Kopf des Tintenfisches handeln.
THOR DIXON BEMERKTE den Wagen nicht, der auf der anderen Straßenseite stand. Er stieg aus dem Taxi und ging in das Haus im Vanadisvägen. Es spielte auch keine Rolle, ob er den Kommissar in seinem Wagen entdeckte oder nicht, der hatte sich vorgenommen, den Regierungsbeamten zu beobachten, und wusste selbst noch nicht, was er fühlen und denken sollte.
Gut. Böse.
Es ging darum, das Richtige zu tun.
Für einen alleinstehenden Beamten im Außenministerium war die Wohnung hervorragend geschnitten. Sie befand sich im obersten Stock eines Gebäudes aus dem frühen 20. Jahrhundert, Dixon hatte ein zusätzliches Arbeitszimmer, mit einem großen Schreibtisch und einem Blick über die Parkanlage Vanadislunden. Auf dem Schreibtisch hatte er zwei gleich große Papierstapel mit Dokumenten gelegt, die er sonst in seinem Tresor aufbewahrte, der in die Wand hinter dem Bücherregal eingelassen war. Man musste nur die Romane von Strindberg beiseiteschieben, dann offenbarte sich dahinter das Codeschloss in ein anderes Leben.
Der erste Stapel, links, bestand aus Excel-Listen, die allesamt Varianten der Unterlagen waren, die ihm Grens auf seinem Handy gezeigt hatte.
Einhundertsieben Dokumente, die den einhundertsieben Fischerbooten mit Flüchtlingen entsprachen, die mit Lastwagen oder Containern an ihre Ziele in Deutschland und Schweden transportiert worden waren. Am Anfang waren es nur ein paar Reisen im Monat gewesen, mittlerweile waren es schon ein paar pro Woche. Das waren rund zweihundert Millionen Kronen pro Reise. Sein Anteil betrug ein Viertel davon.
Auch der zweite Stapel, in der Mitte des Schreibtisches, bestand aus einhundertsieben Dokumenten.
Aber sie waren Kopien von etwas ganz anderem.
Sie waren das Herz, der Herzschlag seines Unternehmens.
Dafür lebte er, dafür war er bereit zu sterben.
Einhundertsieben Einzahlungsbelege, die den Einnahmen entsprachen, die CC für jede der einhundertsieben Flüchtlingsreisen eingenommen hatte. Jeder Arm der Organisation kümmerte sich um seine Sachen, seinen Profit. Thor Dixon wusste genau, dass Omar, Delilah und Jürgen ganz andere Beweggründe hatten als er. Dasselbe galt für Angela in Lampedusa mit ihren fünf Prozent, Ettores in Salerno mit seinen acht Prozent, Jazmine bei der Lombard Bank Malta mit ihren fünf Prozent sowie die beteiligten Unternehmen mit ihren Prozentsätzen, die für den Weitertransport im Hafen von Danzig und die Überfahrt nach Schweden und Deutschland verantwortlich waren. Für sie zählte nur das Geld. Für ihn hingegen waren das lediglich Kopien auf seinem Schreibtisch. Cirrata Caput. Der Kopf des Tintenfisches. Ein ziemlich alberner Name, den Delilah damals bei ihrem ersten Treffen lachend vorgeschlagen hatte. Aber er hatte sich festgesetzt. Und es stimmte ja, er war der Kopf des Ganzen, der Gründer des Netzwerkes, der mithilfe seiner diplomatischen Kontakte auf den Arbeitsreisen parallel interessierte Unternehmer zusammengeführt hatte. Fünfundzwanzig Prozent hatte er dafür gefordert. Und jede Öre davon – abgesehen von den Leuten im Värta-Hafen und dem ein oder anderen Auftrag, der zwischendurch erledigt werden musste – wanderte in die Dokumente auf dem rechten Stapel.
Wer flüchten will, wird das tun, und er nimmt die Organisation, die es ihm oder ihr ermöglicht.
Aber wenn sie sich für uns entscheiden, helfe ich damit nicht nur den Flüchtlingen und ermögliche ihnen ein besseres Leben mit besseren Lebensumständen – ich speise ihr Geld auch wieder in das System ein, damit noch andere diese Hilfe bekommen können.
Dafür sind die Einzahlungen hier.
Aber das hätte er diesem Kommissar nicht erklären können. Der hatte ihm nicht nur Beschuldigungen an den Kopf geworfen, die der Wahrheit entsprachen, sondern hatte auch die absurden Behauptungen aufgestellt, dass seine Organisation für die Angriffe auf die Lebensmitteltransporte verantwortlich sein sollte – Scheußlichkeiten, die andere Schleuserbanden sich ausdachten, die aber nichts mit dem Auftrag zu tun hatten, dem sich Cirrata verschrieben hatte. Diesem Auftrag hatte er sich verschrieben. Hätte er sich dagegen für solche Scheußlichkeiten entschieden – dann würde er lieber gar nicht leben.
Deshalb öffnete er seinen Kleiderschrank und nahm den Koffer heraus, der dort seit der ersten Flüchtlingsreise über das Mittelmeer mit Visum, Pass und einer neuen Identität gepackt auf ihn wartete. Deshalb würde er jetzt die Wohnung verlassen und mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss fahren.
Denn der Kommissar und die schwedische Rechtsprechung würden das alles ja sowieso nicht verstehen. Es nicht einmal versuchen. Wie sollten sie auch? Wie sollten sie denn begreifen, wie viel Kraft und Liebe es kostete, eine solche Reise aus der Unterdrückung in die Freiheit zu organisieren? Ich habe in diesem Bereich über fünfundzwanzig Jahre gearbeitet. Ich habe gesehen, wie Staaten und Systeme kollabierten und sich auflösten, wie die Flüchtlingsströme zunahmen und Menschen in ihrer Heimat starben, obwohl sie nur versucht hatten zu überleben. Was war denn ein einzelner Lastwagen, der am Straßenrand anhalten musste, weil Dutzende erstickt waren – wenn doch Tausende andere unbeschadet ankamen und Tausenden anders geholfen wurde? Was war ein einzelner Container, in dem ein paar Flüchtlinge erstickten – wenn Unzählige unbeschadet im Hafen eintrafen und sie – aber auch die Zuhausegebliebenen – dadurch bessere Lebensbedingungen hatten? Und die Verluste – ein verwirrtes Individuum, das in einem Tunnel stirbt, oder ein einsamer Junge, der in seinem Bett einschläft und nie wieder aufwacht? Sie alle waren Tropfen in einem Meer, in dem Tausende nicht umkamen, dank seiner Organisation. Mit welchem Recht zerstörten wir diese Welt und hinterließen Chaos und Elend? Die Flüchtlingsströme werden niemals versiegen. Im Gegenteil, sie werden sogar noch zunehmen. Und ich – ich tue etwas dagegen.
Er löschte das Licht im Flur und schloss die Wohnungstür ab.
Ein letztes Mal.
EWERT GRENS HATTE gesehen, wie Dixon mit dem Taxi ankam und im Haus verschwand. Kurz darauf war das Licht im dritten Stock angegangen, Grens vermutete, dass es das Schlafzimmer oder Arbeitszimmer war. Eine Altbauwohnung, so wie seine im Sveavägen. Grens hatte sich die Lehne seines Sitzes zurückgestellt und war darauf vorbereitet, lange zu warten.
Aber da wurde es schon wieder dunkel in dem Zimmer.
Zeitgleich klingelte sein Telefon.
»Hast du kurz Zeit, Ewert?«
Mariana. Sie flüsterte zwar nicht, aber ihre Stimme klang gedämpft und angespannt.
»Ich sitze vor Dixons Haus. Da passiert gerade was … es kann also sein, dass … Ist es was Wichtiges?«
»Ja. Es ist wichtig.«
»Okay?«
»Es geht um Dixons Telefonlisten. Der Staatsanwalt hat uns auch den Zugriff auf seine Privatanschlüsse genehmigt. Und ein Anruf ist besonders interessant. Unbekannter Anrufer, eine Prepaidnummer. Und zwar um 10.37.«
»10.37?«
»Ja. Das passt exakt zu deinen Angaben, die wir mit Hugos Hilfe rekonstruiert haben. Als er den Mörder in der Küche bei dem Telefonat belauscht hat. Und noch eins, Ewert – er wurde auch ein zweites Mal angerufen, ebenfalls unbekannter Anrufer. Nachts um 03.22, das ist ungefähr der Todeszeitpunkt, den Errfors für Amadou festgesetzt hat.«
»Das gibt es doch nicht. Wir hatten bisher null Beweise. Aber so langsam kommen sie zusammen.«
»Und es gibt noch mehr. Noch besser.«
Das Licht im Treppenhaus ging an. Grens starrte auf den Hauseingang, der laut Sven und der Hausverwaltung der einzige Zugang zum Haus war.
»Hörst du mir zu, Ewert?«
»Ich höre.«
»Der Sicherheitschef aus dem Hotel in Niamey hat zurückgerufen. Er hat den Chauffeur gefunden, den du gesucht hast. Und der ist sich ganz sicher, dass Dixon nicht einen Mr Cirrata in dem Regierungsgebäude treffen sollte, sondern dass er selbst Mr Cirrata war. Er hat ihn auf dem Foto wiedererkannt, das du gemailt hattest.«
Die Tür ging auf.
Und Thor Dixon kam mit einem Koffer in der Hand aus dem Haus. Er ging auf eines der Autos zu, die am Straßenrand geparkt standen.
Grens Besuch in seinem Büro hatte ihn offenbar doch stärker erschüttert, als er gezeigt hatte.
Und er hatte es eilig.
»Ihr müsst sofort hierherkommen, ihr beide. Sofort.«
»Was ist denn los, Ewert?«
»Er haut ab. Dixon. Der will weg. Ich rufe gleich Verstärkung, mindestens zwei Streifenwagen als Backup.«
Dixon verstaute seinen Koffer im Kofferraum. Und dort würde Grens auch sofort nachsehen, wenn sie das Schwein anhielten.
Thor Dixon legte den Koffer in den Kofferraum und schloss die Klappe. Das Licht über dem Vanadisvägen bildete diffuse Kreise über den Schirmen der Straßenlaternen, die Luft war feucht, fast neblig. An einem Juniabend? War das vorhin schon so kalt gewesen? Er öffnete die Fahrertür und wollte sich in den Wagen setzen, als sein Handy klingelte. Nur acht Personen hatten diese Nummer.
Omar.
Wieso jetzt?
»Ich habe es dir schon hundert Mal gesagt, du sollst mich nicht auf dieser Nummer anrufen, wenn ich in Schweden bin.«
»Das spielt alles keine Rolle mehr – es ist vorbei.«
Thor Dixon stand mit dem Autoschlüssel in der Hand an seiner geöffneten Wagentür.
»Vorbei? Wovon redest du da?«
»Die Boote, das Lagerhaus, das Hauptquartier, die Mitarbeiter.«
Omars Stimme klang nicht nur panisch, sie klang auch nach Schmerz, als würde ihm jedes Wort große Qualen bereiten.
»Die ganze Scheiße ist in die Luft geflogen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich bin am äußeren Rand des Hafens und liege in einer Kiste. Mit der sie früher Fische transportiert haben. Weil alles, alles, in die Luft gesprengt wurde. Die gesamte Infrastruktur – ausgeschaltet! Wir haben der falschen Person vertraut. Wir haben einen großen Fehler gemacht. Das war es!«
Thor Dixon hatte noch nicht alles verstanden. Omar wollte das Telefonat offensichtlich beenden, weil ihm die Kräfte ausgingen. Und auf einmal bekam der Abend ein ganz neues Gesicht – der unangekündigte Besuch des Kommissars, seine aufdringlichen Fragen, die Beschuldigungen, und am Ende diese ungeheuerlichen, unverschämten Behauptungen. Gegen die sich sein Diplomatenherz vehement gewehrt hatte. Er hatte versucht, sie zu marginalisieren, um sich nicht provozieren zu lassen.
»Omar, warte. Bevor du auflegst …«
Ewert Grens hatte unverstellt geklungen, sogar aufrichtig.
Als würden sie beide zumindest die Fähigkeit teilen, sich zu engagieren.
»Ja?«
»Beantworte mir eine Frage. Die will mir nicht aus dem Kopf. Und sie wurde mir heute Abend auch schon gestellt.«
»Ja?«
»Die Lebensmitteltransporte – die von den privaten Sicherheitsfirmen bewacht und begleitet werden?«
»Ja?«
»Wer hat die angegriffen?«
»Wer … was?«
»Darum ging es vorranging bei meinem letzten offiziellen Besuch in Niger. Ich war davon ausgegangen, dass es die üblichen Verdächtigen waren. Piraten. Oder eben lokale Kleinkriminelle. Oder die Hungernden, die vergessen, wer sie sind. Antworte mir. Wer war in letzter Zeit für die Angriffe auf die Lebensmitteltransporte verantwortlich?«
»Was spielt das jetzt für eine Rolle?«
»Wer hat die Transporte früher angegriffen und die Lebensmittel zerstört oder gestohlen, als sie noch nicht begleitet wurden? Und wer hat es in letzter Zeit versucht? Wer ist verantwortlich für diese hinterhältigen Attacken, die den Menschen die Nahrung nehmen, die sie am nötigsten haben? Und die ohne diese Lebensmittel sterben?«
»Was spielt das für eine Rolle – jetzt, wo alles vorbei ist?«
»Genau aus diesem Grund. Wer, Omar? Denn wir hatten damit nichts zu tun, nicht wahr?«
Schweigen. Langes Schweigen. Als hätte er aufgelegt.
»Hallo, bist du noch …«
»Alles.«
»Alles?«
»Erinnerst du dich? Du hast gesagt, dass wir alles tun sollen, damit es mehr Flüchtlinge gibt.«
»Die Idee war, ihnen die Lösungen aufzuzeigen, damit sie ihre Möglichkeiten sehen, wie wir ihnen ein besseres Leben bieten können.«
»Und das haben wir getan. Delilah und ich. Alles. Jeder Arm ist für sich selbst verantwortlich, nicht wahr? So wolltest du es. Und das war nun einmal unsere Methode, um die Rentabilität zu fördern – mit motivierenden Maßnahmen und mit zusätzlichen Passagieren auf den Booten. Wir sind nicht für die Krise verantwortlich, die nicht endet. Wir haben ihnen nur ein bisschen deutlicher gemacht, dass es besser für sie ist zu flüchten.«
Dann legte Omar auf.
Wer ist verantwortlich für diese hinterhältigen Attacken, die den Menschen die Nahrung nehmen, die sie am nötigsten haben?
Oder hatte nicht Omar aufgelegt, sondern Dixon sein Handy auf den Asphalt geschleudert?
Wir haben ihnen nur ein bisschen deutlicher gemacht, dass es besser für sie ist zu flüchten.
Dann schloss er die Wagentür – von außen –, und vielleicht weinte er sogar, als er zurück in sein Haus im Vanadisvägen ging.
EWERT GRENS WISCHTE die Windschutzscheibe mit dem unteren Teil seines Ärmels ab, sie beschlug, weil sein Atem auf den schwedischen Sommer traf. Ansonsten hatte er von seinem Wagen aus nämlich eine gute Sicht. Und Thor Dixon war nah genug, um in wenigen Sekunden bei ihm zu sein. Er hatte neben seiner geöffneten Wagentür gestanden und telefoniert, jetzt war er erregt, das war unverkennbar, ab und zu warf er die Arme in die Luft. Wie verzweifelt. Dann hatte er mit voller Wucht sein Handy auf die Straße geschleudert – so sah es zumindest von Weitem aus – , danach die Wagentür geschlossen und war zurück ins Haus gerannt.
Wenn ich das jetzt mit dem fast unnatürlich beherrschten Dixon in seinem Dienstzimmer vergleiche, sehe ich hier eine Fassade, die langsam bröckelt.
Das Licht im Treppenhaus ging an, Grens sah den Fahrstuhl nach oben fahren.
Hatte er es sich anders überlegt? Hatte er Verdacht geschöpft? Hatte er ihn, seinen Schatten, entdeckt?
Oder habe ich alles richtig gemacht – und mein Auftritt hat etwas in Bewegung gesetzt?
Sollte das so sein, dann ist es nur eine Frage der Zeit, dass er versucht unterzutauchen.
Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für einen Zugriff.
Für eine Festnahme hatte er ausreichend Material: die Kontaktaufnahme mit anderen Führern der Organisation, die Telefonlisten, die Zeugenaussage des Chauffeurs. Trotzdem wartete er noch ab, er wollte und durfte auch nicht alleine da hochgehen, das war unprofessionell und vollkommen unnötig, denn Sven und Mariana würden, ihrer letzten SMS zufolge, gleich eintreffen.
Er versuchte, in die Wohnung zu sehen. Aber das war nicht möglich. Keine Gardine, die flatterte, kein Zimmer, das erleuchtet war.
Da. Da hinten.
Der schwarze Volvo mit den doppelten Rückspiegeln. Mariana am Steuer, Sven auf dem Beifahrersitz. Sie rollten die Straße hinunter, hielten ein paar Häuser entfernt an und schalteten die Scheinwerfer aus.
Exakt fünf Minuten.
So lange warteten sie immer vor einem Zugriff.
ATMEN.
Es geht nicht. Es geht nicht.
Was er auch versucht, um die Luft in seine Lunge zu bringen, wie tief er sie auch einsaugt, herunterschluckt und presst, er bekommt sie nicht den Hals hinunter, als würde jemand zudrücken, ihn erwürgen wollen.
Thor Dixon schlug auf den Notfallknopf im Fahrstuhl, und nach ein paar missglückten Versuchen gelang es ihm, das Innengitter und die Fahrstuhltür aufzuschieben und ins Treppenhaus im ersten Stock zu klettern.
Aber das half nicht.
Er bekam keine Luft.
Es gab ein kleines Fenster, neun Stufen runter, am Absatz zwischen Erdgeschoss und erstem Stock, dorthin stolperte er, riss das Fenster auf und spürte den Wind, die Kühle, den Sauerstoff.
Er schloss die Augen.
Zwei Gespräche hatten alles verändert. Zuerst das mit dem Kommissar, das ihn tief erschüttert hatte.
Ich lebe für diese Aufgabe, Grens! Ich bin bereit, dafür zu sterben!
Dann das Telefonat mit Omar, das ihm den Boden unter den Füßen weggerissen hatte.
Denn wir hatten damit nichts zu tun, nicht wahr?
Die Frage und dann die entsetzliche Antwort.
Die er nicht ertragen konnte.
Cirrata, die Organisation, die er gegründet hatte, war für die schrecklichsten Taten verantwortlich. Für die Zerstörung von Lebensmitteln. Das Gegenteil vom eigentlichen Wesen einer Hilfsorganisation, ihrer Philosophie, ihrer Existenzberechtigung. Das Gegenteil von ihm.
Ich bekomme keine Luft.
Der größtmögliche Verrat.
Delilah und Omar hatten nicht begriffen, was das System zu leisten vermochte.
Ein System, das sich um die Menschen kümmert. Das Lebende in die Gesellschaft lässt, um ihnen ein würdiges Leben zu geben, und das Tote aus der Gesellschaft entlässt, um ihnen einen würdigen Tod zu geben.
Ich bekomme keine Luft.
Dreiundsiebzig Tote in einem Container. Und wenn das nicht alle waren?
Wenn es eine Dunkelziffer gibt, die so groß ist, dass ich sie nicht ertragen kann?
Ich bekomme keine Luft.
Wie viele sind aufgrund der Angriffe auf die Transporte verhungert, nur damit meine Mitarbeiter noch mehr Geld verdienen konnten?
Wie viele sind im Mittelmeer ertrunken, weil unsere Boote so heillos überfüllt waren wie die aller anderen Schleuserbanden?
Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht.
Thor Dixon hatte die Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt.
Auf einmal war alles so klar.
Er hatte falsche Entscheidungen getroffen, auf der Grundlage falscher Informationen.
Hätte er das gesehen, was Grens in so kurzer Zeit begriffen hatte, hätte er gehandelt.
Das ist alles meine Schuld.
Er lehnte sich aus dem Fenster, versuchte zu atmen.
Alles meine Schuld.
Einatmen.
Meine Schuld.
Atmen.
SIE STIEGEN GLEICHZEITIG aus und rannten auf das Haus zu. Sven hatte den vierstelligen Code von der Hausverwaltung bekommen, und die schöne Tür, die hauptsächlich aus gemustertem Glas bestand, glitt ohne Widerstand auf.
Als sie im Treppenhaus standen, spürten sie den Windzug. Er kam aus einem offen stehenden Fenster.
Auf dem ersten Absatz, es schlug gegen den Rahmen, im Takt mit dem Wind.
Das Fenster führte nach hinten in den Garten, der wiederum an das Nachbargrundstück angrenzte mit Gebäuden, die ebenfalls über Ein- und Ausgänge verfügten.
Verdammt.
Sie teilten sich auf. Sven kletterte aus dem Fenster, während Grens und Mariana in den dritten Stock gingen.
Sie klingelten. Zwei lange wütende Töne. Dann noch einer.
Aber hinter der Tür blieb es still.
Grens hatte sich schon umgedreht, um aus dem Auto Werkzeug zu holen, als Mariana die Türklinke herunterdrückte.
Offen.
Sie signalisierte Grens zurückzukommen. Gemeinsam betraten sie den Flur, mit gezogenen Waffe.
Verlassen.
Die Wohnung schien leer zu sein.
Der Flur führte in das Zimmer, das Grens von der Straße aus gesehen und für das Arbeitszimmer gehalten hatte. Ein großer Schreibtisch aus Eiche. Ein Bücherregal mit schwedischen Klassikern, die alle nicht sehr benutzt aussahen, ein brauner Ledersessel und an den Wänden gerahmte Fotos von den Weißen Bussen, die er auch in seinem Dienstzimmer hängen hatte. Während Mariana weiter in die Küche ging, sah sich Grens im Arbeitszimmer nach Geheimfächern um. Wenn es welche gab, dann hier.
Auf dem Schreibtisch lagen zwei Stapel Papiere. Sie waren identisch hoch, an die hundert Blatt pro Stapel.
Da zuckte er zusammen.
Auf dem einen Stapel lag obenauf ein Dokument, das ihm bekannt vorkam. Es sah aus wie die Unterlagen, die ihm Hoffmann aus dem Hauptquartier in Zuwara geschickt hatte. Er nahm es hoch. Es erinnerte ihn nicht nur daran, im Prinzip war es identisch! Neue Zahlen, aber dieselbe Tabelle mit den bekannten Spalten. Er blätterte durch den Stapel.
Sie alle hatten die gleiche Quelle.
Die Kalkulationen über die Einnahmen jeder einzelnen Reise.
Die Beweise, die ihm noch gefehlt hatten.
Dieses Schwein würde in seiner Zelle verrotten, und er würde höchstpersönlich den Schlüssel wegwerfen.
Gerade wollte sich Grens an den zweiten Stapel machen, als er Mariana schreien hörte.
»Ewert!«
Er stürzte zu ihr – noch hatte sich nicht alles zu einem Bild zusammengesetzt, aber vielleicht würde es das bald tun. Er lief durch die Küche, durch das ziemlich große Wohnzimmer und in eines der beiden Schlafzimmer. Mariana hatte eine Stehlampe eingeschaltet und saß auf dem Doppelbett mit einer schimmernden Tagesdecke.
»Geh da rein.«
Sie zeigte in den begehbaren Kleiderschrank.
Er ging um die Ecke und prallte zurück.
An einem Haken an der Decke hing Thor Dixon.
Einen Strick um den Hals.
Er hatte sich erwürgt, war einen ähnlichen Tod gestorben wie die dreiundsiebzig Flüchtlinge im Container.
ALS SICH DIE Kriminaltechniker und auch schon die Bestatter in Dixons großem walk in closet drängelten, zog sich Grens zurück und ging durch die großzügige Wohnung. Dixon hatte sich ohne Abschiedsbrief das Leben genommen. Die Bürde war wohl plötzlich zu schwer geworden. Und das hatte – davon war Grens überzeugt – mit der Schleuserbande zu tun. Mit dem Stapel auf seinem Schreibtisch. Genau genommen mit den beiden Stapeln, von denen er sich bisher ja nur einen angesehen hatte.
Er ging zurück ins Arbeitszimmer.
Der eine Stapel entsprach den Einnahmen und Gewinnverteilungen der erfolgten Reisen. Das waren die entscheidenden Beweise. Sie würden vor Gericht ausreichen, um die Verbindung von Thor Dixon mit dieser kriminellen Organisation zu belegen.
Er blätterte den zweiten Stapel durch.
Auch dieser bestand offenbar aus der identischen Anzahl von Unterlagen. Sie waren, wie die anderen auch, alle nummeriert.
Es waren Quittungen, anonyme Einzahlungsbelege. Für eine ganze Reihe verschiedener Bankkonten.
Grens setzte sich auf Dixons Schreibtischstuhl. Was war das?
Der eine Stapel belegte Einnahmen, also Auszahlungen, dieser hier aber Einzahlungen, und zwar eine Einzahlung für jede Auszahlung.
Den Betrag, den CC nach jedem Transport ausgezahlt bekommen hatte, hatte er auf andere Konten wieder eingezahlt.
Enorme Summen, Hunderte von Millionen.
Die Empfänger der Einzahlungen waren allesamt große Hilfsorganisationen. Das Rote Kreuz, Rettet die Kinder, Weißhelme, Africa Groups of Sweden, Amnesty International, Familienverein der Provinz Stockholm und Världens Barn – im Prinzip hatten alle diese Organisationen, die Menschen in Not unterstützten, um ihre Lebensumstände zu verbessern, Geldspenden in unfassbarer Höhe erhalten.
Ewert Grens sprang auf.
Lieber Gott – dieser Idiot hat tatsächlich gedacht, dass er Gutes tut.
Dann ließ er sich wieder auf den Stuhl fallen.
Da war noch was.
Ganz unten im Stapel lagen zwei Papiere, die anders aussahen als die anderen – sie waren mit einem giftgrünen Stift umrandet, damit sie jemandem auf jeden Fall ins Auge stachen. So wie Grens jetzt.
Er zog sie raus.
Das erste Blatt war die Kopie einer Vollmacht, die Thor Dixon bei der Einrichtung eines Bankkontos in Katar erhalten hatte, auf das die Gewinne der Schleuserbande via eines Kontakts bei der Lombard Bank Malta überwiesen wurden.
Das andere Blatt – ebenfalls eine Transaktion, die nur wenige Minuten vor dem Eintreffen von Grens und Mariana getätigt wurde – belegte, wie Dixon mit dieser Vollmacht einen allerletzten Coup gelandet hatte. Einen Coup, dessen Konstrukt mindestens so raffiniert war wie der Rest der illegalen Organisation. Dixon hatte ganz einfach seine Vollmacht verwendet, um sämtliche Einlagen zu verpfänden. Um dann, mit diesen Einlagen als Pfand, einen Betrag in dieser Höhe zu leihen und diese Summen auf die betreffenden Konten der Hilfsorganisationen zu überweisen.
Grens lehnte sich gegen die Stuhllehne.
Das hier war Dixons Abschiedsbrief.
Er hatte eine eigene Schleuserbande aufgebaut, um noch mehr Menschen die Flucht in ein besseres Leben zu ermöglichen. Und gleichzeitig hatte er das Geld, das sonst Kriminelle einstreichen würden, wieder an jene zurückfließen lassen, die vor Ort halfen.
Zwei Fliegen mit einer Klappe.
Außerdem hatte er offenbar schon von Anfang an den Plan gehabt, auch die Gewinne seiner Mitstreiter auf diese Weise einzusetzen. An dem Tag, an dem der Vorhang fiel – und sich ihr Unternehmen auflösen würde – , hätte er die anderen Profiteure – darunter Omar, Delilah und Jürgen Krause – leer ausgehen lassen! Sie hätten somit all die Jahre gratis für ihn gearbeitet. Das hatte er alles von langer Hand vorbereitet. Es war eine Art Notausgang, ein Abschied, eine letzte riesengroße Spende.
Grens wusste nicht, ob er jemals wieder würde aufstehen können. An einem anderen Tag, unter anderen Umständen, hätte er darüber lachen können, wie raffiniert man diese Gesellschaft manipulieren und reinlegen kann, denn manchmal hat sie das wirklich verdient.
Aber dieser Idiot war tatsächlich der Überzeugung gewesen, Gutes getan zu haben.
Während die Flüchtlinge in einer Metallkiste lagen. Eingesperrt. Reglos. Übereinandergestapelt.
Während der Guide tot im Tunnel lag.
Während Amadou tot in seinem Bett lag.
Während sie alle gestorben waren für … das hier?
GRENS STELLTE SICH ans Fenster zur Straße, wo er vorhin noch im Auto gesessen und Dixon observiert hatte. Im Hintergrund hörte er die gedämpften Stimmen von Hermansson und dem Rechtsmediziner. Er riss das Fenster weit auf. Ließ die Sommernacht ins Zimmer, aus einer Dunkelheit, die keine richtige wurde.
Deshalb.
Deshalb habe ich die Vorgehensweise nicht verstanden, weil sie nicht die eines Kriminellen war.
Er hatte nicht verstanden, warum sich jemand, der Menschen in Containern ersticken ließ, hinterher die Mühe machte, sie ordentlich zu bestatten. Warum jemand Tote unter Schaum begrub, um sie einen nach dem anderen durch die Tunnel der Stadt zu schleppen und sie in den Leichenschauhäusern zu verteilen.
Du warst das.
Du hast – als alles schiefgegangen ist – das Gleiche versucht, was ich wollte.
Ihnen ihren Tod zurückgeben.
ER WOLLTE SIE überraschen. Es kribbelte im Bauch. Vor Sehnsucht. Er genoss die kurze Strecke zwischen Gartentor und Haustür, dahinter befand sich seine richtige Welt.
Eigentlich sollte er gar nicht nach Hause kommen, aber sein Auftrag, für den er zwei Wochen angesetzt hatte, war schneller erledigt als geplant. Piet Hoffmann stellte den Koffer auf die oberste Stufe und suchte nach dem Schlüssel. Da hörte er ein Geräusch. Eine Stimme. Die eines Kindes. Er sah auf die Uhr. Normalerweise würden sie jetzt noch nicht wach sein. Es war ein ganz normaler Samstagmorgen.
Er sah sich um, die Autos der Nachbarn standen in den Auffahrten. Wie immer an den Wochenenden.
Jetzt hörte er es wieder. Die Kinderstimme. Es war Rasmus. Er war sich ganz sicher. Und das da war Hugos. Warum waren die beiden schon wach? Er versuchte, die drei Gefühle zu begreifen, die ihn überwältigten. Sorge – war etwas passiert? Freude – er würde sie noch früher in den Arm nehmen können als gedacht! Und er spürte auch ein kleines bisschen Enttäuschung – er hatte vorgehabt, den Koffer in den Keller zu bringen, den Inhalt zu verstauen, die Geschenke mit nach oben zu nehmen und Frühstück zu machen.
Leise öffnete er die Tür und schlich in den Flur.
Überraschen.
Das Kribbeln hatte noch zugenommen.
Sie saßen im Wohnzimmer, als er reingestürmt kam und – viel zu laut, aber er liebte das einfach – rief: Seht mal, wer da ist!
Von allen erdenklichen Reaktionen hatte er mit dieser als Letztes gerechnet. Sie hatten Angst. Und zwar nicht nur, als er ins Zimmer geplatzt gekommen war – Hugo schrie laut, und Rasmus versteckte sich, und Zofia starrte ihn stumm an – , sondern auch nachdem sie längst begriffen hatten, dass er es war. Ihr Vater und Ehemann.
Sein Plan war nicht aufgegangen.
»Was … ist los?«
Sie waren an einem freien Samstagmorgen schon sehr früh wach. Sie reagierten panisch auf die Späßchen, die sie von ihm kannten.
»Zofia? Rasmus? Hugo? Ist was passiert? Warum seid ihr schon wach?«
Zofia schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. Rasmus sah hinterm Sofa hervor. Und Hugos Stimme zitterte ein wenig.
»Nein, Papa, es ist gar nichts passiert. Gestern war ein kurzer Schultag, da kann man schon mal früher wach werden.«
Nachdem er sie alle umarmt und erklärt hatte, dass die Sondereinsätze schneller erledigt waren als gedacht und er deshalb früher zurückkommen konnte, ging er in die Küche, um sich den Kaffee zu gönnen, den er sich im Flughafen nicht geholt hatte, um schneller nach Hause zu kommen. Abrupt blieb er mitten im Raum stehen. Er hatte gelernt, jeden Raum zu scannen, Unregelmäßigkeiten zu sehen, um darauf reagieren zu können. Aber mit seiner eigenen Küche gelang ihm das nicht. Auf dem Boden befand sich ein ziemlich großer Fleck, der vorher nicht dagewesen war. Und in der Wand neben der Abzugshaube war ein Loch, zwar nicht groß, aber tief und mit einem Durchmesser, der ihm bekannt vorkam. Hugo war ihm in die Küche gefolgt. Sie sahen sich an.
»Und es ist wirklich nichts passiert?«
»Nichts passiert, Papa.«
Ewert Grens hatte Hugo zuliebe gelogen, als der nicht mit seinem Vater hatte telefonieren wollen. Jetzt log Hugo selbst, und auch nicht besonders gut. Zumindest nicht für einen Vater, der jedes Detail in dem Gesicht seines Sohnes kannte.
»Gar nichts? Dieser Fleck war da nicht, als ich das letzte Mal zu Hause war.«
Blut. Das konnte man zwar nicht sehen, aber das war das Erste, woran er dachte. Als hätte jemand versucht, einen großen Blutfleck zu beseitigen.
»Pfannkuchen.«
»Pfannkuchen?«
»Ewert hat auf uns aufgepasst, als Mama zu Amadou gefahren ist. Da haben wir gewaffelte Pfannkuchen gemacht. Rasmus hat das Glas mit der Erdbeermarmelade fallen gelassen, das ist zersprungen.«
»Und das Loch?«
Von einer Kugel.
Er konnte sie sehen, die Gewalt an den Wänden, wie ein Ort auch immer die Spuren der Gewalt trug, die dort stattgefunden hatte.
Piet Hoffmann setzte sich an den Küchentisch.
Dass Hugo ihn anlog, war eine Sache, Kinder taten das manchmal, so wie Erwachsene auch, wenn sie eine Wahrheit geheim halten wollten, die schlimmer war als die Lüge. Vielleicht bildete er sich auch alles ein? Ein Fleck und ein Loch. Das könnte das Ergebnis eines wilden Spiels unter Geschwistern sein. Und er dachte nur an Blut und Pistolenschüsse?
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt nicht, wie das Loch in unsere Küchenwand gekommen ist?«
»War das nicht schon immer da?«
Nachdem er seinen Kaffee getrunken und Zofia endlich im Arm gehalten hatte, so wie sie sich schon immer umarmt hatten, und den Jungs die Mitbringsel gegeben hatte – Plastikspielzeug aus dem Flieger, das offenbar jedes Kind auf dieser Welt liebte und sammelte – , ging er in den Keller. In sein Arbeitszimmer und weiter in sein Geheimzimmer, das niemand außer ihm kannte.
Er hatte die Tasche mitgenommen, eine der beiden Taschen aus dem Hauptquartier – mit den Einnahmen aus dem Tresor.
Mit dem kleinen Hebel im Schrank öffnete er die Tür zu seinem Geheimzimmer.
Ein Tresor, ein Metallschrank und eine Stange mit Schutzwesten – mehr stand da nicht drin. Er musste nur die Sachen im Tresor und im Schrank ein bisschen umräumen, dann hatte er auch genug Platz für den Inhalt der Tasche.
Es fühlte sich gut an. Und richtig.
Nachdem sich seine Freude und Sehnsucht am Anfang schlagartig in Sorge umgewandelt hatte, weil seine Frau und die Kinder so anders reagiert hatten als sonst, und dann in Verwirrung, als er in der Küche Spuren gefunden hatte, die ihm keiner erklären konnte und sein Sohn ihn angelogen hatte, war sie plötzlich wieder zurück. Die Freude. Und auch die Ruhe und Entspannung. In einem Körper mit einer Seele, die immer, immer wachsam war.
Alles war gut, bis er den Metallschrank öffnete.
Und die Pistole im obersten Fach liegen sah.
Der Lauf zeigte nach vorne und nicht nach hinten, so wie er sie immer hinlegte.
Jemand war in seinem Geheimzimmer gewesen.
WAS FÜR EIN strahlend schöner Morgen.
Ewert Grens streckte sich, er saß auf seinem Stein, der wie für seinen gealterten Körper geschaffen war, vor sich die Einmündung in den Stockholmer Hafen. Eine spiegelglatte Wasseroberfläche. Unberührt. Nur ein einziger Vogel, der nach glitzernden Fischschuppen tauchte, oder ein Fischmaul, das nach dem sechsbeinigen Insekt auf dem Wasser schnappte, und alle Stille wäre vorbei.
Eine Woche war es her, seit er hier beim Pflegeheim gesessen hatte, wo er immer hinfuhr, um bei Verstand zu bleiben in einer Welt, die den ihren verlor. Nur er und Anni und dieser flache Felsen, den die Zeit geformt hatte. Weit entfernt von Berichten, die am Ende einer Ermittlung regelmäßig geschrieben werden mussten, und die er Sven und Mariana überlassen hatte.
Das war der einzige Platz, der nur ihm gehörte.
An dem er gefälligst nicht angerufen und gestört werden wollte.
Wie letztes Mal, als jemand eine Leiche zu viel entdeckt hatte.
»Ich möchte mit Ihnen reden, Grens.«
»Kann das warten? Ich bin beschäftigt.«
»Nein.«
Dieses Mal war er selbst daran schuld, schließlich hatte er Hoffmann dazu genötigt, für ihn zu arbeiten.
»Na, dann los. Reden Sie.«
»Ich bin gerade nach Hause gekommen und … Was ist eigentlich passiert, in der Zeit, in der ich nicht hier war?«
»Was meinen Sie?«
»In meiner Küche gibt es einen Fleck, der aussieht, als sei es Blut. Und in der Wand sehe ich ein Loch, das von einer Pistolenkugel stammt. Und in meinem … ich habe ein Geheimzimmer, das außer mir niemand kennt, oder das bisher niemand kannte, und da hat jemand eine Sache anders hingelegt. Grens – Sie hatten mir versprochen, dass Sie dafür sorgen, dass meiner Familie nichts passiert.«
»Und das habe ich auch. Ihnen ist nichts passiert.«
»Und wie bitte erklären Sie dann den Fleck, das Loch und das Eindringen in mein Zimmer?«
»Das kann ich nicht, Hoffmann. Wie wollen Sie das denn erklären? Vielleicht so: Wenn Sie sich nicht bald verändern, verlieren Sie Ihre Familie.«
Grens sah dem Schärenboot hinterher, das die Wasseroberfläche zerschnitt. Jetzt hatte er es schon wieder getan. Sich eingemischt, obwohl er das nicht sollte. Aber er konnte nicht anders, sosehr er es auch wollte. Zwei kleine Jungen hatten das Bedürfnis eines alten Mannes nach Distanz übergangen und ihn damit tief berührt.
»Einmal in der Woche, Hoffmann, fahre ich mit dem Auto über die Lidingbro zu dem Pflegeheim, in dem meine Frau gelegen hat, und setze mich hier auf meinen Felsen. Bis ich wieder weitermachen kann. Weil ich eine Verbindung zu diesem Ort habe. Haben Sie eine Verbindung zu dem Haus, in dem Sie wohnen? Ich versuche, das Einzige am Leben zu erhalten, was ich habe. Sie aber fliehen vor dem, was Sie haben. Und ich weiß nicht, wer von uns beiden der größere Idiot ist.«
Da fuhr eine der großen Finnlandsfähren vorbei, ein riesiges Monster, es sah aus, als würde sie das Schärenboot verschlingen und alles zerstören, was friedlich und schön war.
»Ich habe Ihren ältesten Sohn gesehen, Hoffmann. Was für einen riesigen Sprung er allein in den letzten Tagen gemacht hat. Kinder entwickeln sich so schnell, man muss da sein, um das mitzuerleben. Ich habe gesehen, was Sie hätten sehen sollen. Sie haben verpasst, dass Ihr Sohn gestern etwas Großartiges getan hat, und Sie werden es auch das nächste Mal verpassen. Verstehen Sie – Ihr Sohn ruft eher mich an, wenn er Angst hat, als seinen eigenen Vater.«
Grens war sich nicht sicher, ob Piet Hoffmann noch am Apparat war, er hörte keine Hintergrundgeräusche. Keine Atemzüge.
»Ich habe einen Stein, der von der Zeit geformt wurde. Sie haben eine Familie, Hoffmann. Die sich vergrößert. Kümmern Sie sich um sie.«
Aber es war auch egal, ob er noch dran war, das Letzte sagte er eher zu sich selbst, um zu hören, wie es klang.
»Ich gehe jetzt los – und werde mich mit Laura treffen. Ich habe sie gestern Abend angerufen, weil sie Augen hat, die strahlen, und einen Mund, den ein feines warmes Lächeln umspielt. Neben ihr bin ich ganz ruhig geworden, auch umgeben von Toten, obwohl sie offensichtlich schnell reizbar ist. Sie sagte, dass sie mich auch gern wiedersehen würde. Haben Sie so was Dummes schon mal gehört?«
SIE HABEN EINE Familie, Hoffmann. Die sich vergrößert. Kümmern Sie sich um sie.
Was zum Teufel meinte er damit?
Piet Hoffmann stand in der Küche, das war das einzige Zuhause, das er hatte. Er ließ den Wasserhahn laufen, füllte ein Glas mit kaltem Wasser, trank es aus, füllte ein zweites.
Das Loch in der Wand, der Fleck auf dem Boden.
Ihr ward in Sicherheit. Während ich drei Stunden um mein Leben gekämpft habe, ward ihr in dieser Welt und in Sicherheit.
Also, was verstehe ich nicht?
Hugos Lügen. Rasmus’ Panik. Grens Gequatsche.
Was übersehe ich?
Oder hat er recht – verliere ich tatsächlich meine Familie? Bin ich wie eine Zyste, die man rausschneiden kann? Halten sie mich aus allem raus, so wie ich sie immer aus allem herausgehalten habe?
Er lief durch das Haus, das er nicht mehr wiedererkannte.
Und Hugo?
Warum hatte Grens über ihn und seine Entwicklung gesprochen? Dass er etwas Großartiges getan hatte?
Was hatte das zu bedeuten?
Piet Hoffmann setzte seine rastlose Wanderung durchs Haus fort, stehen zu bleiben war keine Alternative, denn die Freude, Sehnsucht und Ruhe, die ihm auf dem dunklen Meer Kraft gegeben hatten, bekam er hier nicht zu fassen. Er ging in den Keller und stellte sich vor den Tresor mit der Hälfte der Monatseinahmen, die der Geldtransporter nicht mehr hatte abholen können.
Einhundert Millionen schwedische Kronen in Dollar.
Das Geld würde für alle Zeiten reichen.
Meinten Sie das mit dem Satz, Herr Kommissar, ich solle mich um meine Familie kümmern?