DRITTER TEIL
AN MANCHEN MORGEN fiel es ihr schwerer, nicht zu weinen. Nicht, weil sie es nicht wollte – es war die angenehme Art von Weinen, aus Freude und Erleichterung; die Art, bei der jeder Teil des Körpers fliegen möchte, weich und berauscht und still und prickelnd zugleich. Es sollte nur nicht zur Gewohnheit werden. Oder anders, es sollte eine Gewohnheit sein, sich so zu fühlen. Sich bewusst zu machen, dass es ganz natürlich war, in seinem eigenen Haus aufzuwachen und seine zwei Kinder mit ihren richtigen Namen anzusprechen, ohne Angst haben zu müssen.
Zofia schob einen Blumentopf auf dem Fensterbrett in der Küche beiseite, damit sie sich besser vorbeugen und Hugo und Rasmus hinterherschauen konnte, wie die beiden mit ihren Rucksäcken die Straße hinunterliefen und dann aus dem Blick verschwanden. Jeden Morgen. In ihre Augen zu sehen, die keine Fragen mehr stellen mussten, auf die sie ohnehin keine Antwort bekamen, die Haustür zu öffnen und sie ohne Leibwächter gehen zu lassen, auf die Piet so lange bestanden hatte, zu wissen, dass sie, wenn sie in der Schule ankamen, mit Kindern zusammen sein würden, die sich ebenfalls nicht verstecken mussten.
Die vielen Jahre auf der Flucht konnten nur langsam verarbeitet werden, Schritt für Schritt.
Erst als sie wieder in ihrer Heimat waren und sie Zeit gehabt hatte zurückzublicken, hatte sie so richtig begriffen, in welcher Hölle sie gelebt hatten.
Für die Jungs war es viel schneller gegangen. Zumindest für Rasmus. So selbstverständlich er das neue Leben auf der anderen Erdhalbkugel hingenommen hatte, so selbstverständlich war er auch wieder in dem Haus angekommen, in dem er seine ersten Lebensjahre verbracht hatte. Er kroch durch das Loch in der Hecke zum Nachbarhaus, donnerte die Holztreppe in den ersten Stock hoch, wobei er immer mit dem ganzen Fuß auf der Stufe landete, und vergaß so wie früher die Lampe über dem Bett in seinem Zimmer auszumachen. Vielleicht ist es einfacher, je jünger man ist. Hugo dagegen geriet ab und zu ins Schwanken, seine Augen konnten dieselbe Traurigkeit in sich tragen wie an jenem Morgen, als sie in aller Hast alles hier zurückgelassen hatten und seine überschaubare Welt aufgehört hatte zu existieren. Er brauchte seine Routinen, war nachdenklich, machte sich mehr Sorgen, als es ihr für ein Kind gut schien. Er hatte in Südamerika keine Ruhe gefunden und auch in seinem neuen alten Alltag noch nicht. Als würde er nicht darauf vertrauen, dass es beständig war und auch morgen noch alles so sein würde.
Gleich würde sie denselben Weg nehmen, in dieselbe Schule gehen, um dort Französisch zu unterrichten und Spanisch – die Sprache, die in Cali und Kolumbien zu einem Teil von ihr geworden war. Manchmal ertappte sie sich im Lehrerzimmer dabei, dass sie dasselbe tat wie in diesem Moment – aus dem Fenster sehen und den Bewegungen zweier Jungen folgen, ohne dass diese es bemerkten. Sie sahen ganz oft auch richtig glücklich aus, sicher, sogar Hugo. Sie hatten auch Freunde gefunden! Zwei Geschwister, die lange Zeit aufeinander angewiesen waren, im Stoff den anderen Kindern weit voraus, weil sie jeden Tag Privatunterricht erhalten hatten. Aber in Sachen soziale Kompetenz lagen sie weit zurück, weil sie nie mit Gleichaltrigen gespielt hatten.
Das taten sie jetzt. Auf dem Schulhof. Schubsten sich. Rannten Bällen hinterher. Oder standen einfach in einer Ecke und unterhielten sich in einer Gruppe mit anderen Kindern, ganz so, als wären sie auch andere Kinder.
Da kam sie wieder, die Freude, die Erleichterung, sie erschauderte, als das Gefühl vom Bauch in die Brust stieg und dort verweilte. Sie lebten das Leben, von dem sie lange geträumt hatte, von dem sie Tag für Tag innerlich Bilder entworfen hatte, um es in Südamerika auszuhalten. Dorthin war sie in Gedanken geflohen, als die wirkliche Flucht sie immer weiter von diesen Bildern weggetrieben hatte. Ihr jüngerer Sohn hatte sich schnell angepasst, und ihr Großer würde das auch tun, er brauchte nur mehr Zeit, um zu begreifen, dass das Leben tatsächlich normal sein konnte.
Sie hatten gerade miteinander gesprochen, Piet hatte während des Frühstücks angerufen, immer zur selben Zeit. Eine Routine, die es leicht machte, die Jungs aus dem Bett zu kriegen und selbst aufzustehen, sich anzuziehen und den Tisch zu decken, das Telefon zwischen den Obstteller und den Brotkorb zu platzieren und laut zu stellen. Aber das Gespräch war diesmal unterbrochen worden, etwas war passiert, sie hatte ganz deutlich Schüsse gehört, bevor er aufgelegt hatte. Ein schneller Blick zu den Jungs, die aber unbeirrt ihren Orangensaft tranken und die Brotscheiben unter unzähligen Käseschichten versteckten, sie hatten es nicht bemerkt – die Gefahr. Kurz darauf, als die beiden aufgegessen und Zähne geputzt hatten und im Flur standen, bereit zu gehen, hatte Piet erneut angerufen und versichert, dass alles so sei wie immer. Und sie war dankbar, einen Mann zu haben, der kein Mitleid wollte, sondern dessen Hauptanliegen es war, seine Kinder vor Kummer und dieser anderen Wirklichkeit zu schützen. Aber das Gespräch war trotzdem anders verlaufen. Hugo hatte – Rasmus stand im Flur – plötzlich die Haustür geöffnet und sich draußen auf die Stufen gesetzt und gewartet. Zum ersten Mal hatte er das morgige Telefongespräch mit der ganzen Familie verpasst, die Momente, die sich – wenn sie dabei die Augen schlossen – wie ein fast normales Frühstück anfühlten. Vater, Mutter und die zwei Kinder am Küchentisch. Zusammen.
Der Schutz der Kinder hatte immer Priorität.
Piet hatte ihr nach Jahren der Lüge und Geheimnisse versprochen, immer die Wahrheit zu sagen, alles mit ihr zu teilen, so unangenehm es auch sein mochte. So hatten sie die Zeit in Südamerika überlebt, das Kokain, die Gewalt, das Töten, wovon er ein Teil geworden war. Nur so konnten sie zusammenbleiben, es war die Voraussetzung dafür, dass sie blieb und sie etwas hatten, was man Familie nennen konnte. An seinen jetzigen Job, lange unterwegs, weit weg, um dann für ein paar Wochen am Stück nach Hause zu kommen, hatte sie sich gewöhnt, das war Alltag und Lebensunterhalt. Er arbeitete in Afrika, als Angestellter bei privaten Sicherheitsfirmen im Auftrag der UN. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben tat er etwas Gutes. Und verdiente zugleich überdurchschnittlich viel Geld, das dann für viele Jahre reichen würde.
Jetzt konnte sie die beiden nicht mehr sehen. An dem großen Holzhaus ein Stück weiter unten in der Straße, mit der bösen Bulldogge, die jeden Fußgänger anbellte und am Zaun entlangrannte, verlor sie ihre schönen Söhne immer aus den Augen.
Sie stellte den Blumentopf zurück, schob den Vorhang zurecht und wollte sich gerade umdrehen und in den Flur gehen, um sich ihre Jacke und die Schuhe anzuziehen, als sich das gewohnte Bild veränderte.
Ein Wagen, den sie wiedererkannte, ohne sich zu erinnern, woher oder wem er gehörte.
Ein Fahrer, der viel zu schnell fuhr, zu rücksichtslos, um in diesem Viertel zu wohnen. Und die Richtung war eindeutig – geradewegs in die Sackgasse auf ihr Gartentor und ihre Auffahrt zu.
Sie blieb am Fenster stehen, während der Autofahrer die Wagentür öffnete und ausstieg. Und sie wünschte sich sofort, sie hätte es nicht getan.
Der?
Kommissar Ewert Grens?
Sie schämte sich ein wenig, denn eigentlich mochte sie ihn, obwohl er ihren Mann damals zum Tode verurteilt hatte. Aber er war es dann auch gewesen, der außerhalb seiner Dienstzeit – als Privatmann – nach Bogotá und Washington geflogen war und ihn vor eben jenem Tod bewahrt hatte. Er hatte der ganzen Familie geholfen. Ein älterer Mann, der unter seiner rauen Oberfläche herzlich und einsam war und mit dem sogar die Jungs, als sie am Flughafen auf dem Weg in die Heimat waren, gesprochen hatten.
Hallo. Ich heiße Ewert. Onkel Ewert. Und du bist … Rasmus?
Ich heiße Sebastian.
Sie erinnerte sich, wie sich der Kommissar mit seinem schmerzenden Bein hingekniet, gezwinkert und dann geflüstert hatte.
Ich weiß, dass du in Wirklichkeit Rasmus heißt. Ein schöner Name. Und sobald wir mit diesem Flugzeug in Schweden gelandet sind, wirst du auch wieder Rasmus heißen.
Und wie Rasmus zu seinem Vater hochgesehen hatte, bis auch Piet genickt und geflüstert hatte.
Onkel Ewert … weiß Bescheid.
Und wie die Gesichtszüge des Sechsjährigen langsam weich geworden waren.
Rasmus. So heiße ich eigentlich.
Deshalb schämte sie sich. Eigentlich sollte sie Dankbarkeit spüren, ihn hereinbitten wollen. Aber es war vereinbart worden, dass sie sich nie mehr wiedersehen würden. Die Tatsache, dass er die Stufen zur Eingangstür hochkam und an der Haustür klingelte, bedeutete, dass etwas nicht in Ordnung war. Und zwar etwas, das mit Piet zu tun hatte. Das tat es immer.
Sie stand zu lange da und umklammerte den Türgriff, ohne ihn hinunterzudrücken. Es wurde peinlich, er war Kommissar, er hatte natürlich ihre Schritte gehört und ihren Schatten durch die Scheibe der Tür gesehen, womöglich hatte er sogar ihre unruhigen Atemzüge bemerkt.
»Hallo.«
Er lächelte, nicht übers ganze Gesicht, aber so gut er konnte. Ihm war das Ganze vielleicht genauso unangenehm wie ihr.
»Ewert? Was …«
»Kann ich reinkommen?«
Sie nickte, trat einen Schritt beiseite, ließ ihn vorbei.
»Tut mir leid, ich sollte Ihnen natürlich etwas anbieten, wenigstens eine Tasse Kaffee – aber ich habe keine Zeit, mein Unterricht fängt gleich an.«
»Keinen Kaffee. Aber ein Glas kaltes Wasser wäre schön, auch gern hier im Flur, es war eine lange Nacht.«
Sie lächelte schwach, ebenso wie er kurz zuvor, und eilte verschämt in die Küche, ließ das Wasser laufen, bis es eiskalt war, und füllte das größte Glas, das sie finden konnte.
»Echtes Leitungswasser. Das Beste in ganz Enskede.«
Sie reichte ihm das Glas – die Zeit, die er benötigen würde, um es zu leeren, war die Zeit, die ihr blieb, um nachzudenken.
Was macht er hier?
Was ist passiert?
Warum sagt er nichts? Sieht er nicht, dass ich drauf und dran bin zusammenzubrechen?
»Zofia, ich …«
»Das ist mein Name. In echt.«
Sie lachten beide, erinnerten sich an eine Epoche, in der auch sie unter falschem Namen gelebt hatte – mit diesen Worten hatte sie ihm damals geantwortet. Als Piet beschlossen hatte, dem schwedischen Polizisten zu vertrauen, hatte sie das auch getan.
Dann verstummte ihr Lachen.
Und sie mussten sich in die Augen sehen.
Es wurde nur anstrengend, das Theater weiterzuspielen, dass er ohne Grund da war.
»Zofia, ich glaube, dass ich …«
»Wir hatten vereinbart, dass wir uns nie mehr wiedersehen.«
»… Ihre Hilfe …«
»Also dürften Sie nicht hier sein.«
»… brauche.«
Es war ein großes Glas, ein halber Liter passte da rein. Er drehte es auf den Kopf und schüttelte es, als wolle er beweisen, dass es wirklich leer war. Sie war sich jetzt ganz sicher, er war mindestens genauso verlegen und nervös wie sie.
»Ich habe einen stundenlangen Marsch durch eine … ja, ziemlich staubige Umgebung hinter mir, und dann genauso lang einen Geruch ertragen müssen, der … könnte ich noch ein Glas haben?«
Sie füllte es erneut, kalt und bis zum Rand, wartete, bis er ausgetrunken hatte. Die Angespanntheit zwischen ihnen nahm wieder zu.
»Ich halte es nicht länger aus, Ewert – warum? Warum sind Sie eigentlich hier? Ich will nicht, ich … wir sind fertig miteinander, ein für alle Mal, und da wir privat keinen Kontakt haben, sind Sie aus polizeilichen Gründen hier – also reden Sie mit mir! Was wollen Sie?«
Sie schrie niemals. Piet schrie, die Kinder taten es auch, manchmal auf Polnisch und Spanisch, aber sie – niemals.
Jetzt aber tat sie es.
»Antworten Sie mir!«
Es war nicht seine Schuld, das war ihr klar, er hatte sicher nicht entschieden, ohne Anlass herzukommen. Aber es half nichts. Ewert Grens stand vor ihr, und deshalb bekam er die Verzweiflung ab, die sie nie wieder spüren wollte.
»Warum, Ewert?«
Neben dem Schuhregal stand ein Hocker, sie schob die Jacke weg, die dort lag, und ließ sich darauf sinken, was anderes konnte man nicht tun, wenn einen die Beine nicht mehr trugen.
»Piet …«
Er konnte sie kaum ansehen, konnte sich in etwa vorstellen, wie sie sich fühlte.
»Ich muss ihn irgendwie erreichen, Zofia. Und mit ihm sprechen.«
»Über was denn?«
»Über etwas, auf das nur er mir eine Antwort geben kann.«
»Ich verstehe nicht … was ist denn passiert?«
»Ich weiß es nicht. Noch nicht.«
Er unterdrückte den Impuls, ihr über die Wange zu streicheln, sie zu trösten. Ein älterer Mann sollte einer jüngeren Frau eigentlich keinen Kummer bereiten, und ein Polizist sollte nicht gleichzeitig nach der Wahrheit suchen und die Personen schützen, die in die Sache involviert sind.
»Aber wenn Sie mir sagen, wo er ist, werde ich es herausfinden.«
ES WAR NOCH früh am Morgen, in Stockholm. Ewert Grens hatte das nicht bedacht. Die Zeit verlor ihre Bedeutung, wenn Menschen wie Müll in schmutzigen Containern ihrem sicheren Tod überlassen wurden. Bis er endlich aus dem Labyrinth aus kleinen Gassen herausgefunden hatte, in dem Hoffmanns Haus stand, und ihm klar wurde, dass der Weg in die Stadt aus einer kilometerlangen Schlange aus stillstehenden Fahrzeugen im Leerlauf bestand. Aber um diese Tageszeit das Blaulicht aufs Dach zu setzen und die Sirene einzuschalten, um ein paar Minuten schneller beim Frühstück im Revier zu sein, war keine wirkliche Alternative. Also wurde er zu einem von den vielen Menschen auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, die allein mit ihren Gedanken in einer Blechkiste gefangen saßen. Und es war unerwartet angenehm. Die erzwungene Stille. Ein Ort, an dem der Zorn und die Traurigkeit freien Lauf hatten – und nachdem sie das ausgiebig genutzt hatten, genügte es, das Seitenfenster herunterzukurbeln und alles rauszulassen.
Afrika? Niger? Das hatte sie gesagt.
Im letzten Jahr noch hatte er nicht gewusst, wo genau Kolumbien liegt, als man ihn plötzlich mit seinem alten Reisekoffer in der Hand dorthin geschickt hatte, aber dieses Land war ein vollkommen weißer Fleck auf seiner persönlichen Weltkarte.
Piet Hoffmann erweiterte ein zweites Mal seine geographische Perspektive.
»Ewert?«
Er hatte eine Nummer gewählt, und Sven war bereits beim zweiten Klingelzeichen drangegangen.
»Ewert, ist alles …«
Jetzt schwebte die Stimme seines engsten Mitarbeiters aus den Lautsprechern im Dach durch den Wagen.
»… okay?«
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.«
»Du warst auf einmal verschwunden. Mit dem Handy. Und den Fingerabdrücken, die Krantz mit dem Pinsel ermittelt hatte. Wie …«
»Niamey, Sven.«
»Wie bitte?«
»Die Hauptstadt von Niger. Westafrika. So heißt die.«
»Aha?«
»Offensichtlich geht jeden Vormittag ein Flug von Arlanda dorthin. Zehn Stunden Flug mit Umsteigen in Paris. Ich habe gerade beschlossen, einen endlosen Stau zu verlassen und die Stadt in Richtung Norden zu umfahren. Zum Auslands-Terminal. Ich möchte, dass du mir ein Ticket für diesen Flug reservierst und ihn erst einmal aus eigener Tasche bezahlst – ich gebe es dir dann später zurück.«
Der Lautsprecher im Dach knisterte nicht, wie es bei Elektronik manchmal der Fall ist, er rauschte auch nicht, zerhackte weder Worte noch Geräusche. Die Wiedergabe war tadellos. Im Laufe der langen Pause, die folgte, wurde sich Grens immer sicherer, dass Sven noch im Hafen war, in der Nähe des Containers und der Leichen, die wie Teile eines Brettspiels auf dem Asphalt ausgebreitet worden waren. Der Wind blies heftig, wie er es schon getan hatte, als sie dort eingetroffen waren, er hörte Möwen kreischen, quietschende Lastkräne und die schweren Motoren von Fahrzeugen.
»Westafrika, Ewert?«
»Mehr kann ich dir jetzt noch nicht sagen. Noch nicht. In einem Tag oder vielleicht in zwei, wenn ich die Spuren verfolgt habe, die nur zu einem einzigen Menschen führen können. Wenn ich kapiert habe, wie sie an eben diesen Ort gelangen konnten, und warum. Wenn ich mit der Person gesprochen habe, die ich eigentlich nie wiedersehen wollte.«
Erneut gab es eine lange Pause. Ewert Grens stellte sich vor, wie sich Sven mit der Hand durch die Haare fuhr, was er immer tat, wenn er nachdachte. Grens stellte sich vor, wie er sich vom Container und den Leichen abgewandt hatte – Sven, dem der Tod große Angst machte, der immer darum bat, nicht zum Gerichtsmediziner gehen zu müssen, und jedes Mal dankbar war, wenn er für eine Aufgabe eingeteilt wurde, die nichts mit einem Menschen zu tun hatte, der vor ihm lag und nicht mehr atmete. Diese Dinge lernt man von einem nahestehenden Kollegen. Seine Eigenheiten. Und respektiert man diese, so wird einem ebenfalls mit Respekt und Loyalität begegnet.
»Also gut, Ewert. Ich weiß, dass du mir nicht mehr dazu sagen wirst, ganz egal, wie viel Druck ich ausübe. Also buche ich dir dein Ticket und schicke dir einen Wagen mit deinem Ausweis und deinem Impfpass. Und erwarte eine ausführliche Antwort, wenn wir uns wiedersehen.«
Eine Antwort?
Grens hatte den Gedanken nicht bis zu Ende gedacht. Sein Plan war, bei dem Treffen die richtige Antwort zu bekommen. Aber wenn es die falsche Antwort war? Wenn Hoffmann tatsächlich in Aktivitäten verstrickt war, die enorme Gelder mit Menschenhandel anhäuften? Dann war es nicht nur seine Aufgabe, Ermittlungen gegen ihn aufzunehmen, sondern er würde auch zu einem Haus in Enskede zurückkehren müssen und die falsche Antwort einer Frau mitteilen, die ihn nie mehr hatte sehen wollen.
»Und während ich weg bin, Sven.«
»Ja?«
»Würdest du …«
Er unterbrach sich. Er war kurz davor gewesen, Sven zu bitten, bei Zofia Hoffmann vorbeizuschauen und sicherzustellen, dass sein eigener Besuch nicht mehr als nötig kaputtgemacht hatte. Aber ein weiterer Polizist, der an ihre Tür klopfte, würde nur dazu führen, alte Wunden aufzureißen.
»… Hermansson daran erinnern, die Firma, die für den Container eingetragen ist und somit auch für ihn verantwortlich ist, gründlich zu durchleuchten? Selbst wenn sie denkt, dass es sinnlos ist. Und während sie das tut, suchst du in den Tunneln nach dem selbsternannten Guide, der dort lebt. Den müssen wir finden, ganz egal, in welchem Loch er sich verkrochen hat. Der Guide, der sich Schlüssel zu öffentlichen Gebäuden beschaffen kann, die eigentlich nur die Armee und der Rettungsdienst besitzen sollten. Diese Schlüssel sind Stellvertreter für die vielen Jahre, die er schon im Untergrund lebt, und für die vielen Jahre, die er dort noch bleiben wird, diese Schlüssel bedeuten Macht und Würde, und die Voraussetzung, auch weiterhin ohne uns andere dort leben zu können. Nur er weiß, wer ihm den Auftrag gegeben hat. Wem er den Gullideckel und den Eingang gezeigt hat, für wen er die Türen geöffnet hat. Wer die Toten durch die Tunnel geschleppt hat, um sie zu entsorgen.«
Es wurde wild gehupt, als Grens aus der Schlange ausbrach und auf der schmalen Fahrbahn zwischen den Fahrzeugen, die eigentlich keine war, zum Überholen ansetzte. Ein paar hundert Meter weiter hatte er die Nase voll, befestigte zum zweiten Mal an diesem Morgen das rotierende Blaulicht auf dem Autodach und schaltete die Sirene ein. Damals war er als sehr junger Mann nach Paris geflogen, um zu heiraten. Jetzt würde er viel weiter in den Süden reisen. In eine Stadt, von der er noch nie gehört hatte. Für eine Antwort, die er einfordern musste, auch wenn sie die falsche sein könnte.
DIE SONNE HATTE endlich beschlossen, über dem internationalen Flughafen Diori Hamani unterzugehen. Mit hoher Geschwindigkeit verließ ein glühender, kugelförmiger Feuerball den Himmel in der Gesellschaft eines Flugzeugs der Air France.
Sand. Steppe. Trockenes Gras.
Das war das letzte Bild, das Ewert Grens von seinem Fensterplatz aus sah, als die Räder hart auf der Landebahn aufkamen, der schwere Flugzeugrumpf schwankte und ruckte, die Räder ein zweites Mal aufprallten und die Gummischicht der Reifen angerissen wurde, sich das Flugzeug in die entgegengesetzte Richtung neigte, ein drittes Mal aufkam, bevor es einigermaßen sicheren Boden gefunden hatte und auf das schlichte Flughafengebäude zusteuerte.
Der Kommissar blieb noch lange auf seinem Platz sitzen, nachdem man sie auf Nigers Hauptstadtflughafen willkommen geheißen hatte. Seine bewusst langsame Atmung – ein, aus, ein, aus – , um zur Ruhe zu kommen, kollidierte mit der Stimme aus den Lautsprechern, die über den Sitzreihen schwebte. Das waren die mechanischen Informationen der Stewardess über die Ortszeit und die Temperatur, die sich zwischen dreißig und fünfunddreißig Grad Celsius bewegte, aber in der Nacht wohl auf siebenundzwanzig fallen würde.
Eine andere Welt.
Seine ersten Gedanken über den afrikanischen Kontinent.
Grens wurde klar, dass es ihm gefiel, nicht zu wissen, wohin ihn der nächste Schritt führte, ein Gefühl, das er früher gefürchtet und gemieden hatte. Früher war er von Routinen abhängig gewesen, und vielleicht war das teilweise auch heute noch so – eine Krücke, die ihm Halt gab, damit er nicht umfiel. Aber dieses Setting hier, vor sechsunddreißig Stunden in Stockholm aufgestanden zu sein, ohne zu ahnen, dass er sich am nächsten Abend ein in letzter Minute zugefaxtes Visum schnappen und an einem völlig fremden Ort gegen eine Wand aus Hitze prallen würde, das hätte ihn vor noch nicht allzu langer Zeit dazu gebracht, sich nach den Liedern aus den Sechzigern und dem Sofa in seinem Zimmer im Polizeirevier zu sehnen.
Er näherte sich zwar der Rente, befand sich aber noch immer in der Entwicklung.
»Wollen wir es uns brüderlich teilen?«
Vor dem Eingang des Terminals parkte nur ein einziges Taxi. Ewert Grens sah den Mann an, der die Beifahrertür bereits geöffnet hatte und ihm auf Hochschwedisch einen Platz auf der Rückbank anbot. Fünfundfünfzig, so groß wie er selbst, aber schlanker, Augen im selben Farbton wie die Haare – Grens hatte noch nie zuvor so graue Augen gesehen.
»Ich saß in der Reihe hinter Ihnen, sowohl im Flieger von Arlanda als auch in dem von Paris-Charles de Gaulle. Wir waren wohl die Einzigen, die nur mit Handgepäck reisen – und haben schon im Hotel in Niamey eingecheckt, wenn die anderen noch auf ihre Koffer warten.«
Weltgewandt.
In jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Ewert Grens. Das sah man sofort. Der Hochgewachsene bewegte sich weltgewandt, er sprach so und trug sogar die entsprechende Kleidung – einen dünnen und hellen Anzug, wie jemand, der schon oft in diese Klimazone gereist war, im Gegensatz zu seinem eigenen dunklen, viel zu dicken und schon verschwitzten Jackett.
»Danke. Ich muss zu einem Hotel, das heißt …«
Grens zog einen Zettel aus der Innentasche seines Jacketts.
»… Hotel Gaweye. Und es befindet sich gleich hinter, lassen Sie mich mal sehen, da steht … Kennedy Bridge, glaube ich, und dem Niger. Zumindest laut meinem Mitarbeiter Sven, und der ist zu fast allem imstande, außer dafür zu sorgen, dass die handgeschriebenen Zettel in meinem Pass auch lesbar sind.«
»Dann haben wir dasselbe Ziel. Die besten Zimmer in der Stadt – ich übernachte immer dort.«
Die Temperatur im Inneren des Autos ließ diejenigen außerhalb kühl und erfrischend erscheinen. Eine ätzende, brennende Hitze, die ihn umarmte, Grens hatte so etwas noch nie erlebt.
»Sie werden sich daran gewöhnen.«
Der Weltgewandte hatte sich umgedreht und sah in Grens rotes und glänzendes Gesicht.
»Es mag seltsam klingen, aber der Körper stellt sich nach ein paar Tagen um.«
»Dann bin ich schon wieder zu Hause. Einen Tag habe ich. Dann muss ich das gelöst haben, weswegen ich hier bin.«
Das Auto fuhr an, aber nicht besonders schnell, sondern so, als versuche es ebenfalls, die Kraft zu sparen, die von der Umgebung gierig verschluckt wurde. Oder vielleicht lag es am Taxifahrer, der die neun Kilometer vom Flughafen ins Herz der Hauptstadt ausdehnen wollte.
»Business?«
Der breitschultrige Mann hielt das Lenkrad mit kräftigen Händen, ein starker Kontrast zu den weichen und sanften Bewegungen, mit denen er seine beiden Passagiere durch Niameys südöstlichen Vororte transportierte, auf einer Straße, die einem Schild zufolge Route Nationale 1 hieß. Und er lächelte sanft, als er nach seiner einleitenden Frage den Blick zwischen dem Weltgewandten und Ewert Grens auf dem Rücksitz hin und her wandern ließ und auf die Fortsetzung des Gesprächs wartete.
»Yes. Business.«
Sie antworteten gleichzeitig – und lächelten beide. Sahen sich an. Bis der Weltgewandte die Hand ausstreckte.
»Thor Dixon. Ich arbeite im Außenministerium. Und meine Aufgabe ist es, im Auftrag der Regierung Treffen mit UN-Vertretern und Hilfsorganisationen und Vertretern der lokalen Regierung durchzuführen. Um weiter darüber zu diskutieren, wie wir, also Schwedens Regierung, am besten helfen können.«
»Ewert Grens. Kriminalkommissar bei der City-Polizei in Stockholm, hier, um ein Massaker zu untersuchen. An Flüchtlingen, die in einem Container erstickt sind.«
Jetzt lächelten sie beide nicht mehr.
Das Gesicht des Regierungsvertreters war ziemlich zerfurcht, aber auf eine elegante Weise gealtert, Weisheit durch Erfahrung, die nur das Leben bietet. Grens Furchen hatten nichts mit Eleganz zu tun, sie ließen ihn müde und an manchen Tagen verbraucht aussehen.
Aber jetzt hatten beide denselben Gesichtsausdruck.
Wut und Trauer.
Genau wie die Stimme des Regierungsvertreters.
»Ich habe es in den Zeitungen gelesen, kurz bevor ich in Arlanda in den Flieger gestiegen bin. Und wusste … na ja, ich wusste wahrscheinlich nicht, was ich denken sollte. Es stimmt also tatsächlich? Und die Spur führt … hierher?«
Ewert Grens hatte die schwarzen Schlagzeilen der Zeitungen auch gesehen, dezimetergroße Buchstaben, die auf dem Fundament magerer Fakten standen. Er hatte sich je ein Exemplar aller Ausgaben gekauft und schnell die Seiten mit den verschwommenen Nachtaufnahmen des Värta-Hafens durchgeblättert, aus großer Entfernung gemachte Fotos in riesigen Formaten, flankiert von ein paar fett gedruckten Zitaten einer Polizeiquelle, die beschrieb, dass die Flüchtlinge womöglich mit einer Art von chemischem Pulver umgebracht worden seien.
»Wenigstens die Zahl stimmte.«
»Die Zahl?«
»Dreiundsiebzig Menschen, die um ihre letzten Atemzüge gekämpft haben.«
Auf beiden Seiten der Straße glitzerten Moscheen und Minarette im Sonnenuntergang, während hier und da kleine Gruppen von Leuten zusammenstanden, die sich unterhielten und alle Zeit der Welt zu haben schienen. Die hatte Ewert Grens nicht.
»Eingeschlossene Flüchtlinge. Das ist auch eine Art Business, Kommissar. Und ihre Reise beginnt oft hier – Sie befinden sich gerade in der vielleicht größten Wachstumszone für Flüchtlingsströme.«
Der Regierungsvertreter hatte sich ganz zu Grens umgedreht, er sah ihn aus seinen grauen Augen ernst an.
»Ein Business im Wert von Hunderten von Milliarden – arme Menschen in reiche Länder zu locken. Jene, die fliehen, weil sie den Traum von einem besseren Leben haben. Die neue Art des Tourismus – reist mit uns ins Land der Möglichkeiten.«
Die Bebauung und der Verkehr verdichteten sich, als die Einwohner von Niamey außerhalb der Taxischeiben zahlreicher wurden. Lange Schlangen von Frauen, die in der Abenddunkelheit schwere Säcke auf dem Kopf trugen, junge Männer mit überladenen Schubkarren, Mädchen auf zu großen Männerfahrrädern, falsch geparkte Lastwagen, die unter Stapeln von Kisten begraben waren, entgegenkommende Fahrzeuge, die immer wieder auf die Gegenfahrbahn ausscherten. Und irgendwie gelang es dem Fahrer, mit ebenso ruhigen Bewegungen wie zuvor vorwärts zu gleiten, ohne einmal abrupt zu bremsen oder das Seitenfenster herunterzukurbeln und laut zu schimpfen.
»In den letzten Monaten, Herr Kommissar, haben über fünfzigtausend Flüchtlinge Agadez durchquert, eine Stadt, die ein Stück weiter landeinwärts liegt, das Tor zu einer Wüste, die zum Mittelmeer und nach Europa führt. Vier Tage über Sanddünen und felsige Landschaften, um nach Libyen zu gelangen. Eine tausendsechshundert Kilometer lange Reise. Sie lassen Terroranschläge und militanten Islamismus hinter sich, vor allem aber den Hunger. Niger ist das ärmste Land Afrikas. Jeder dritte Einwohner leidet unter akuter Unterernährung. Sie nennen es die Hungersaison, die dauert bis August an, und an vielen Orten gibt es nur trockene Blätter und wilde Beeren zu essen.«
Grober Asphalt wich Schotterstraßen, obwohl sie sich auf einem viel befahrenen Stück befanden, und wurde erst wieder auf dem letzten Stück in Richtung Zentrum der Hauptstadt zu Asphalt. Zumindest nahm Grens an, dass es das Zentrum war, dass das bräunliche Wasser, dem sie sich näherten, der Fluss war, den Svens unleserliche Handschrift beschrieben hatte, und dass die Brücke, die sie jetzt überfuhren, die Brücke war, die derselben Handschrift zufolge nach John F. Kennedy benannt worden war.
»Hotel Gaweye, Sir. Und Sir.«
Der Taxifahrer zeigte auf das Gebäude, das sich am Ufer des Flusses genau dort erhob, wo die Brücke endete. Eines der wenigen hohen Häuser, ein langgestreckter Immobilienkomplex, der in jeder Großstadt der westlichen Welt hätte stehen können, ohne sichtbar zu sein. Aber hier war es mehr oder weniger das Einzige, was der Komplex tat – sichtbar sein. Zu hoch. Passte nicht her. Genau wie Grens, der dort wohnen würde, wahrscheinlich nicht hierher passte.
»Ich zahle.«
Ewert Grens wählte einen schönen Geldschein aus dem Bündel, das er hastig im Flughafengebäude gewechselt hatte – das Bild einer Frau mit einem flauschigen Kopfschmuck, der in ein bunt gemustertes Boot mündete, das von Fischen umgeben war. Klare Farben. Die Banknoten waren viel steifer als die, die er kannte.
»No, no, Sir. Too much.«
Der Fahrer schüttelte energisch den Kopf, während Grens die Hand ausgestreckt ließ. Fünftausend westafrikanische Francs, etwa siebzig Kronen.
»Please. Take it. You drive so much better than I do.«
Die schöne Banknote wechselte den Besitzer, und als Grens gerade seine Brieftasche in die Innentasche seines Jacketts zurückstecken wollte, streckte ihm der schwedische Regierungsbeamte etwas entgegen.
»Meine verschiedenen Nummern. Wenn Sie mal einen Kaffee trinken möchten, im Hotel oder in der Stadt, rufen Sie einfach durch, und wir finden bestimmt eine Zeit zwischen meinen Terminen.«
Eine Visitenkarte. Ganz oben das blaue Schild, das drei goldene Kronen und die etwas größeren Buchstaben Außenministerium einrahmte, etwas darunter sein Name und seine Kontaktdaten.
Ewert Grens steckte sie in die Brieftasche.
»Danke – aber ich bin nicht hier, um Kaffee zu trinken.«
Der Regierungsbeamte nickte höflich und verschwand in Richtung Hoteleingang, während Grens aus der Tür stieg, die der Fahrer, der um das Auto geeilt war, geöffnet hatte. Im Freien wurde ihm zum Abschied eine Hand entgegengestreckt, voller Dankbarkeit für das Trinkgeld, die den Kommissar ganz verlegen machte.
»Frederick. My name.«
»Ewert.«
»Wow, very hard. Ejjert?«
Grens lächelte und schüttelte leicht den Kopf.
»Ewwyytert?«
Und quittierte den nächsten Versuch des Taxifahrers mit einem vorsichtigen Nicken.
»Good enough, Frederick. In America the problem was even bigger. They ended up calling me Jerry.«
»Jerry?«
»Yes.«
Frederick gab Ewert Grens Hand frei und schloss die hintere Wagentür.
»Jerry it is. When time for a taxi, call this number.«
Diese Visitenkarte war etwas schlichter, eine Serviette mit einer Telefonnummer, mit einem Bleistift hingekritzelt. Grens legte sie neben die andere in die Brieftasche – es war ihm wichtig, dem freundlichen Fahrer zu verstehen zu geben, dass er genauso wichtig war wie der Regierungsbeamte – und ging dann auf das Hotel zu, das nicht in die Umgebung passte.
Es war windig.
Ein warmer und aufdringlicher Wind – als würde man durch eine geöffnete Ofentür gehen. Und irgendwo mitten im Wind verborgen wirbelte ähnlich heißer Sand und blieb in den Augen und im Mund kleben.
Das Hotel Gaweye empfing ihn mit einem riesigen Foyer. Das größte, das er je gesehen hatte. Ein knallroter Teppich und Ledermöbel an den Wänden, als hätte man sie alle zur Seite geschoben. Auf dem Weg zur Rezeption, die sich am anderen Ende befand, hatte man das Gefühl, durch eine leere Turnhalle zu laufen.
»Willkommen.«
Englisch mit französischem Akzent. Die Rezeptionistin checkte ihn ein, gab ihm eine Plastikkarte statt Zimmerschlüssel. Als er zum Fahrstuhl gehen wollte, hielt sie ihn zurück.
»Mr. Grens.«
Er drehte sich um und sah, wie sie ihm einen Umschlag hinhielt.
»Das ist für Sie, Mr. Grens. Ausdrucke auf Fotopapier. Wie der Absender es gewünscht hat.«
Ewert Grens öffnete den Umschlag mit dem Zeigefinger und spähte hinein. Ausgezeichnet. Sven hatte genau das gemacht, was er tun sollte.
Die kleinen Geschäfte des Hotels arbeiteten wie die Rezeption mit einer leistungsstarken Klimaanlage. Unsichtbare Ventilatoren, die zischend die Schweißtropfen auf der Stirn verjagten. Er nahm eine Zahnbürste, Zahnpasta und ein Deodorant von den Regalen auf der einen Seite der breiten Passage, ein weißes Hemd, Unterwäsche und ein paar Strümpfe aus den Glasvitrinen auf der anderen Seite. Dann fuhr er mit dem Aufzug bis in die fünfte Etage, und ein gut ausgestatteter Raum mit ausreichend Platz für zwei Personen und Tapeten und Teppiche und Blumen im selben Rot wie im Foyer, ein Farbton, der offenbar als besonders belebend galt. Als ob er den bräuchte. Das Rot war bereits in seiner Brust, ein Feuer, das zischte und brüllte und keinen Frieden fand, bis die Menschen, die unter dem Brandschaum vergraben waren, ihren Tod zurückbekommen hatten.
Er setzte sich auf das Bett, so weich, dass es sogar mit seinem Sofa im Polizeirevier in Stockholm konkurrieren konnte, und sah auf die Lichter des Hotels, die sich im Fluss spiegelten. Schnittblumen und eine phantastische Aussicht – ein neues Stück Unwirklichkeit in einer Wirklichkeit, die Leute verkaufte, die lediglich trockene Blätter zum Überleben sammelten.
»Hallo.«
Er hielt sein Telefon in der Hand, erinnerte sich gar nicht, dass er eine Nummer gewählt hatte. Vielleicht war es die Einsamkeit, diese besondere Art von Alleinsein, die es nur in Hotelzimmern gibt, vielleicht war es auch das Feuer in der Brust – aber es spielte eigentlich keine Rolle, es war schön, Mariana Hermanssons Stimme zu hören.
»Ewert? Sven hat mir erzählt … bist du gut angekommen?«
»Ja. In einem Jahr in Südamerika, im nächsten Jahr in Westafrika. Die kriminelle Welt schrumpft und expandiert zugleich, Hermansson.«
Er war es, der angerufen hatte. Also erwartete sie wohl, dass er noch was sagte. Als er nach einem längeren Schweigen keine Anstalten dazu machte, ergriff sie das Wort.
»Wir haben einen glaubwürdigen Hinweis.«
Grens lauschte ihrer ruhigen Stimme, ihrer Variante des südschwedischen Dialekts, einer besonderen Variante, die im dicht mit Einwanderern besiedelten Rosengård entstanden war, wo sie mit weit über hundert Nationalitäten aufgewachsen war. Er hatte den Dialekt schon immer gemocht, und er mochte sie, aber hier in dieser unwirklichen Realität war er von größerer Bedeutung.
»Einen Hinweis auf den Guide. In welchem Teil des Tunnelsystems er lebt. Wir haben schon angefangen, Ewert, dort unten zu suchen, auch mit Hunden, und wir werden ihn finden. Ihn zum Reden bringen. Die Verbindung zwischen dem Guide und der Person finden, die seine Dienste gekauft hat, um die Leichen zu entsorgen.«
Aber es löschte das Feuer in seiner Brust nicht.
Sondern ließ es nur noch heftiger lodern.
Ewert Grens erhob sich von der weichen Matratze und verließ überstürzt das Zimmer, als sei es entscheidend, dass er gerade jetzt zum beabsichtigten Treffpunkt eilte. Feuer hat seine Eigenheiten. Er rannte geradezu aus dem Aufzug in die hallenartige Lobby, nur um festzustellen, dass diese so trostlos leer war wie zuvor. Man konnte eine Tasse Kaffee bestellen und sich in die Ledermöbel setzen, die an den Wänden standen. Er setzte sich ungefähr in die Mitte, mit freiem Blick auf die Rezeption. Zofia hatte ihm erklärt, dass ihr Mann erst spät ins Hotel kommen würde, um am nächsten Morgen nach Schweden zurückzufliegen, nach Hause, für einen seiner seit langem geplanten Urlaube, und dass er und seine Kollegen von der privaten Sicherheitsfirma immer hier übernachteten, wenn sie in der Hauptstadt Halt machten.
Ihre Wege würden sich wieder kreuzen. Und mussten das hier tun – nicht in Stockholm.
Beim ersten Kontakt hatten sie sich nicht gesehen. Es war ein absurder Dialog am Telefon gewesen – während einer Geiselnahme in einem schwedischen Hochsicherheitsgefängnis. Das war alles.
»Ich töte.«
»Was wollen Sie?«
»Ich töte.«
»Ich wiederhole – was wollen Sie?«
»Töten.«
Das zweite Mal trafen sie sich in Bogota und unter ähnlich seltsamen Umständen, waren aber nicht mehr zwei Expresszüge, die auf demselben Gleis aufeinander zu rasten. Hoffmann brauchte Grens Hilfe, und sie kämpften nicht gegeneinander, sie kämpften Seite an Seite.
Diesmal war es umgekehrt.
In Niamey suchte Grens – trotz ihrer Abmachung, sich nie wiederzusehen – Hoffmann auf. Grens wollte Antworten. Und wenn die Antwort die richtige war, brauchte Ewert Grens diesmal Piet Hoffmanns Hilfe.
Drei leere Tassen aus weißem Porzellan auf dem Tisch.
Der Kommissar hatte gerade seine vierte Tasse Kaffee Liberia bestellt, herrlich bitter, herrlich kräftig, als er die ihm bekannten Bewegungen eines Mannes registrierte, der durch den westlichen Eingang ins Foyer kam. Da war er, Piet Hoffmann. Ein Jahr später. Er hatte Haare über die tätowierte Eidechse auf seinem Schädel wachsen lassen, sie waren jetzt so lang, dass sie sogar den Schwanz der Eidechse bedeckten, der sich über den Nacken hinabschlängelte. Außerdem trug er einen üppigen Bart. Unterschiedliche Erdteile verlangten verschiedene Looks. Aber diese Bewegungen waren unverkennbar und sehr schwer zu ändern, Grens hatte sie in zahllosen Stunden anhand der Aufnahmen der Überwachungskameras studiert, und er war sich sicher: Das waren wirklich seine Bewegungen. Hoffmann tat das, was er immer tat, wenn er einen Raum betrat – er scannte mit geübtem Blick Meter für Meter ab, immer auf eventuelle Gefahren vorbereitet, immer auf der Hut. Bis sein Blick an etwas hängen blieb. An einem älteren Mann, der in einem Ledersessel saß und Kaffee trank. Grens sah, wie Piet Hoffmann unwillkürlich zusammenzuckte und sich entschied, die Stelle ein zweites Mal zu scannen. Mit demselben Ergebnis. Der Mann im Ledersessel war jemand, den er kannte, und dieser Jemand dürfte eigentlich nicht dort sitzen.
»Was zum Teufel …«
Und dann durchquerte er blitzschnell die riesige Lobby.
»… machen Sie hier?«
»Guten Abend, Hoffmann.«
»Ewert Grens – in Westafrika?«
»Ja. Im Sommerurlaub.«
»Sommer … urlaub?«
»Genau so, wie ich schon mal Urlaub in Kolumbien gemacht habe. Wissen Sie, manchmal will das der Zufall so.«
Piet Hoffmann deutete mit einem Kopfnicken auf den Sessel gegenüber von Grens.
»Okay?«
Grens nickte.
»Ich habe auf Sie gewartet.«
Sein Aussehen hatte sich vielleicht geändert, aber die Kleidung war ungefähr die gleiche, allerdings in den typischen Farben des Kontinents. Braune Stiefel, beigefarbene Jeans und eine sandfarbene Jagdweste mit vielen Taschen, die über einem T-Shirt hing, das auf der sonnengebräunten Haut noch weißer wirkte, als es eigentlich war. Beim letzten Mal hatte er erschöpft gewirkt, wie schnell gealtert, jetzt sah er eher jünger aus.
»Also, Grens, dieser … Urlaub? Wann haben Sie sich denn fertig gesonnt?«
Der Kommissar sah zu der goldenen Uhr hinüber, die aus der Wand über dem Empfangsbereich ragte.
»In dreizehn Stunden. Wenn ich Glück habe. Dann fliege ich wieder nach Hause.«
»Wollten Sie vorher schlafen?«
»Nicht viel.«
Es gab eine kleine Bar in einem Raum hinter der Rezeption, Grens hatte sie noch nicht bemerkt, und dorthin verschwand Hoffmann für einen Augenblick, bevor er gleich darauf mit zwei vollen Gläsern in der Hand zurückkam.
»Ich erinnere mich, dass Sie Kaffee bevorzugen. Tiefschwarz. Und dass Sie nicht viel von Alkohol halten. Aber um diese Tageszeit, Kommissar, finde ich, passt dies hier besser. Hirsebier. Sie werden sich dran gewöhnen.«
»Hirse?«
»Anstatt aus Weizen und Getreide und Roggen. Glutenfrei. Falls Sie das interessiert.«
Grens wartete, bis Hoffmann sein Glas hob und trank.
Dann nahm er allen Mut zusammen und auch einen Schluck.
Anders.
Nicht unangenehm. Nicht einmal unerwartet.
Aber anders.
»In Kolumbien habe ich Sie dazu gebracht, Agua de Panela aus gemahlenem Zuckerrohr zu trinken. Am Ende konnten Sie nicht mehr ohne. Jetzt jubele ich Ihnen glutenfreies Bier unter.«
»Immerhin habe ich mal alles darangesetzt, Sie umzubringen – also nehme ich an, Sie haben jetzt das gute Recht, mir das Gleiche anzutun, Hoffmann.«
Sie schwiegen. Tranken und warteten. Dieselbe beunruhigende, peinliche Stille wie im Flur von Hoffmanns Haus, mit Zofia, die weder Lust hatte, mit ihm zu sprechen noch ihn anzusehen.
Am Ende wurde es unmöglich, ins Bierglas zu starren oder aneinander vorbeizuschauen.
Die Flucht in Späßchen und Gespräche über Sommerurlaub und Hirsebier war vorbei.
Piet Hoffmann spürte es ja. Das Feuer.
»Okay.«
Das Feuer, das in der Brust des älteren, groß gewachsenen Mannes brannte, eine Wut, die sich nicht verbergen ließ.
»Warum sind Sie hier, Grens?«
Der Kommissar antwortete nicht.
Mit Worten.
Seine Wut – die eigentlich nur Angst war, die falsche Antwort von der Person zu bekommen, der er vertraut hatte – war im Weg.
Stattdessen reagierte er, indem er den Umschlag hervorholte, den er beim Einchecken bekommen hatte, Kopien der Aufnahmen, um die er Sven gebeten hatte. Er öffnete den Umschlag und schüttete einen Teil seines Inhalts auf den Tisch, sich vergewissernd, dass der Rest im Umschlag blieb. Den wollte er jetzt nicht einsetzen, hoffentlich würde er das niemals tun müssen.
»Ich verstehe nicht – worum geht es, Grens?«
Vier Fotos. Alle in Farbe, diese Art von Bildern waren normalerweise in Schwarz-Weiß. Sie waren zwischen und auf und neben leeren Kaffeetassen und fast leeren Biergläsern gelandet. Das letzte Foto lag falsch herum, der Kommissar lehnte sich vor und deckte es auf.
»Darum.«
Er zeigte auf das Foto, das er gerade umgedreht hatte. Und wünschte, er hätte es nicht getan.
»Um sie.«
Jetzt lehnte sich Hoffmann nach vorn. Um besser sehen zu können.
»Um was, Grens?«
Denn er konnte nicht glauben, was er da sah.
»Um was, Grens?«
Denn wenn das wahr sein sollte, was er da sah, dann handelte es sich um Krieg. Und er begriff nicht, was ein schwedischer Kriminalkommissar damit zu tun hatte. Denn nur Krieg hinterließ diese Art der Bilder. Leichen. Aufgereiht. Sechzig, vielleicht siebzig Stück.
»Sie haben versucht, sie zu zählen, oder? Achtundsechzig. Und das da, Hoffmann, die kleineren Haufen, sind Kleider von weiteren fünf.«
Ein Hafen. Piet Hoffmann war sich sicher. Vielleicht sogar der Värta-Hafen in Stockholm. Mit leeren Frachtcontainern, übereinander gestapelt. Davor waren die Leichen ausgebreitet worden.
»Letzte Nacht. Oder heute Morgen, je nachdem wie man es sieht. Da haben wir sie gefunden. Hier drin.«
Mit dem Handrücken schob Ewert Grens das nächste Foto vor. Das schräg auf einer Kaffeetasse gelandet war. Ein Bild von dem Container und der Öffnung, die sie vor Ort aufgeschnitten hatten. Wenn man genau hinsah, wie Hoffmann es tat, würde er bald die Augen entdecken, die ihn daraus anstarrten.
»Ich verstehe immer noch nicht, Grens. Weder, um was es geht, noch warum Sie hier sitzen und mir diesen Mist zeigen.«
»Sie werden es verstehen. Sobald Sie meine letzten Fotos gesehen haben.«
Der Kommissar machte in der Mitte des Tisches Platz für die restlichen Fotografien. Die linke – eine Nahaufnahme von dem zerrissenen Stoff an der Schulterpartie einer Jacke. Die rechte – die Nahaufnahme eines Satellitentelefons. Grens musterte Hoffmanns Gesicht, versuchte seinen Ausdruck zu deuten, eine Art Reaktion abzulesen, während er sich die Fotos ansah.
Nichts.
Entweder war der ehemalige Undercoveragent tatsächlich so ungerührt, wie er aussah.
Oder er spielte seine Rolle so gut wie früher, als er das jeden Tag tun musste, um zu überleben. Auf dieses Mantra hatte Hoffmann ja seine gesamte Infiltrationsmethode aufgebaut. Nur ein Krimineller kann einen Kriminellen spielen.
»Das Telefon war in eine Jacke eingenäht, die einem der dreiundsiebzig Flüchtlinge gehörte, die auf der Fahrt nach Schweden in einem Container erstickt sind. An diesem Telefon fand die Spurensicherung zwei Fingerabdrücke, die ein Forensiker mit hundertprozentiger Sicherheit zuordnen konnte. Einer stammte von dem toten Flüchtling. Und der andere von Ihnen, Hoffmann.«
Jetzt.
Jetzt kam die Reaktion.
Von einem Menschen, der nicht schauspielerte.
Piet Hoffmanns Miene wechselte von ungerührt zu anwesend und von anwesend zu bestürzt und von bestürzt zu gequält. Er hatte begriffen, was die Fotos abbildeten. Was die Information über die beiden Fingerabdrücke bedeutete. Und er unternahm keinen Versuch, um zu verbergen, dass das Telefon auf dem Foto eine Geschichte hatte, die ihn einschließen könnte.
»Der Flüchtling?«
»Ja?«
»Der, der die Jacke trug. Der das Telefon hatte.«
»Ja?«
»Wie hat er ausgesehen? Woher kam er?«
»Aus Westafrika, zumindest meint das unser Gerichtsmediziner.«
»Alter?«
»Konnten wir noch nicht bestimmen – aber derselbe Gerichtsmediziner schätzt ihn auf dreißig, plus oder minus.«
»Und war unter ihnen auch eine Frau, ungefähr gleiches Alter, gleiche Herkunft?«
»Es sind ja selten viele Frauen unter den illegalen Flüchtlingen. Aber Sie haben recht – da war eine Frau, die zu ihm gehören könnte.«
Piet Hoffmanns Miene war wie versteinert, eingefroren, gequält. Und aus dem Mann, der soeben noch jünger ausgesehen hatte, war jetzt ein Mann geworden, der so alt wie Grens sein könnte.
»Dann … sind das meine Fingerabdrücke. Weil es bis vor ein paar Wochen noch mein Telefon war.«
Er stand auf und lief mit unruhigen, hektischen Schritten durch die trostlose Lobby. Dann blieb er plötzlich stehen, um sogleich weiter zu marschieren.
»Ich brauche noch so eins. Soll ich Ihnen auch noch eins mitbringen?«
Hoffmann hatte mit einem Kopfnicken auf das Bierglas gedeutet, und Grens nickte. Als er zurückkam, war das eine Glas bereits zur Hälfte geleert.
»Wissen Sie, was ich hier mache?«
»Ich weiß, was Ihre Frau mir widerwillig erzählt hat. Sie arbeiten für private Sicherheitsfirmen mit einem Mandat der UN. Transporte schützen. Legal. Das ist so weit alles.«
Ewert Grens hatte Piet Hoffmann nie als jemanden erlebt, der Alkohol brauchte, um sich zu kontrollieren. Er war keiner von den Leuten, denen es an Mut fehlte, sich mit sich selbst zu konfrontieren. Aber jetzt kippte er den Rest Bier in einer Bewegung hinunter.
»Die UN hat kein Mandat, um ihre Leute in bestimmten Gebieten zu schützen. Um mit Waffen auf Waffen reagieren zu dürfen. Das hat schließlich dazu geführt, dass sie vor Abschluss des Vertrages mit der südafrikanischen Sicherheitsfirma jeden Transport verloren haben, während sie still dasitzen mussten und beschossen wurden. Die armen UN-Typen mit ihren blauen Helmen konnte nur das machen …«
Hoffmann zuckte theatralisch mit den Schultern und breitete die Arme aus, um die Hilflosigkeit der Soldaten zu unterstreichen.
»… und es kamen keine Lebensmittel an – gar nichts. Aber von einem Tag auf den anderen, nachdem wir angefangen hatten, die Transporte zu beschützen, brachten sie auf einmal jedes Reiskorn durch, nachdem sie vorher kein einziges abgeliefert hatten. So gut wie jeder Mitarbeiter hat einen militärischen oder polizeilichen Hintergrund. Sie schießen gern. Und verlieren niemals einen Transport.«
Grens hatte sein Hirsebier nicht angerührt. Als Hoffmann nach dem Glas griff und trank, hatte er nichts einzuwenden.
»Ich kann verstehen, dass man einen Lebensmitteltransport angreift, wenn man verdammt hungrig ist. Manchmal geht es auch wirklich darum. Ich kann sogar diejenigen verstehen, die angreifen, um das Essen zu nehmen und es dann weiterzuverkaufen, um damit Geld zu verdienen. Sie haben ja Zugang zu meiner Akte, Grens, also wissen Sie, dass ich auch Dinge vertickt habe, um Geld zu verdienen. Aber ich werde niemals jemanden verstehen, der Lebensmittelkonvois angreift, um sie zu zerstören. Um das Essen zu vernichten und die Flüchtlingsströme zu beschleunigen. Mit einer zunehmend akuten Nahrungsmittelknappheit wird der Wille zur Flucht größer. Wenn es mehr Flüchtlinge gibt, verdienen diejenigen, die davon leben, Menschen zu schleusen, ein Vielfaches mehr.«
Er beugte sich vor.
»Und das hier auf Ihren Fotos, Grens, verknüpft – so seltsam es scheinen mag – meine Arbeit mit Ihrer Frage.«
Er drehte die vier Fotos langsam nacheinander um, bis nur noch weiße und leere Rückseiten nach oben zeigten.
»Einen der Männer, die unseren Transport heute Morgen angegriffen haben, und den ich erschießen musste, um meinen eigenen Tod zu verhindern – Sie erinnern sich, Grens, es geht immer um die Frage, du oder ich, und ich mag mich mehr als dich –, diesen Mann habe ich wiedererkannt. Das war ein Schleuser, dem ich schon einmal begegnet bin. Als mich jemand um einen Gefallen gebeten hat.«
Ewert Grens überlegte kurz, die Bilder wieder umzudrehen, sie offen liegen zu lassen und Hoffmann zu provozieren, bis er alles erzählt hatte. Es war aber nicht nötig. Andere Bilder und Geschichten strömten aus dem Mund seines Gegenübers. Bilder, die in Zuwara ihren Ausgang nahmen, einem libyschen Hafen am Mittelmeer. Das war noch so ein Ort, an dem die Mitarbeiter der Sicherheitsfirma zwischen zwei Missionen hin und wieder übernachten. Die Stadt war der Anfang der libyschen Route – das Tor der Schleuser nach Europa. Dort hatte sich Piet Hoffmann aufgehalten, als er gebeten wurde, das Hotel zu verlassen, um ein Flüchtlingspaar zu beschützen, das dem Vertreter einer Schleuserorganisation die letzte Rate überreichen sollte. Viertausendfünfhundert Dollar pro Person. Für die beiden – eine unglaubliche Summe. Zwei Jahre lang Arbeit, Tag und Nacht. Eine Summe für die Etappen 2, 3 und 4, die Fortsetzung der Reise, die auf der Ladefläche eines Geländewagens in Niger und einer viertägigen Fahrt durch die Sahara begonnen hatte.
»Ich arbeite seit fast einem Jahr in diesem Gebiet, bin hier, um zu verhindern, dass die Schleuser Lebensmitteltransporte vernichten und noch mehr dadurch verdienen. Und nun sollte ich auf einmal zusehen, dass ausgerechnet diese Leute das Geld bekamen. Das junge Flüchtlingspärchen wollte für die Fahrt in einem überfüllten Fischerboot über das Mittelmeer bis zur italienischen Grenze – bis zur europäischen Grenze, der EU-Grenze – bezahlen. Für die Fahrt in einem überfüllten LKW von Italien nach Polen. Für die Reise in einem überfüllten Container von Polen nach Schweden. Es klang verrückt. Es war auch verrückt. Und als ich sie gesehen habe, Grens, so verletzlich, so … Ich habe ihnen erklärt, dass ich ihnen trotz meines Versprechens, das ich jemandem gegeben habe, nicht helfen könne. Daraufhin erklärten sie mir, dass sie sich entschieden hätten und reisen würden – mit oder ohne meine Hilfe. Sie waren nicht mehr verletzlich. Sie waren stolz, stark, hoffnungsvoll. Ich habe meine Meinung geändert, Grens. Ich habe getan, worum ich gebeten worden war. Ich stand als Wachposten daneben, als sie ihre Ersparnisse in einem schmutzigen Umschlag an zwei Schmuggler übergaben. Ich habe dafür gesorgt, dass ihnen die Garantie für eine sichere Reise gegeben wurde.«
Piet Hoffmann starrte auf die umgedrehten Fotos. Es war, als ob er plötzlich auch emotional – nicht nur intellektuell – begriff, was er gerade erzählte. Und dass das Leben der Menschen, über die er gerade sprach, vorbei war.
»Ich habe ihnen sogar … als es vorbei war. Als sie gezahlt hatten. Und wir auseinandergingen.«
Er griff nach einem der Fotos.
»Ich habe ihnen mein Satellitentelefon gegeben.«
Es war das Foto mit den aufgereihten Körpern auf dem Asphalt.
»Zur Sicherheit. Falls was passiert.«
Er sah aus, als wollte er ins Foto springen, nach Stockholm in den Värta-Hafen rennen und die beiden Menschen finden, von denen er erzählt hatte, ihnen die Hand reichen und ihnen aufhelfen, sie vor dieser Reise warnen, von der er selbst ein kleiner Teil geworden war.
»Zwei Schmuggler haben bei dem verdammten Treffen Geld entgegengenommen, beides Nordafrikaner, wahrscheinlich Libyer. Einer von ihnen war der, den ich heute Morgen getötet habe. Ich habe ihn wiedererkannt. Einer wie ich. Mit einer ähnlichen Verletzung, wie ich sie habe. Dieser Typ hatte zwar noch alle seine Finger, ihm fehlte aber ein halbes Ohr. Und er war zum Schutz abgestellt, sollte garantieren, dass alles richtig ablief. Wir als Personen sind nie interessant, wir sind für andere da. Der andere dagegen – der war interessant. Eindeutig der Anführer, er gab den Ton an und sprach überraschend gutes Englisch, starker Akzent, aber reicher Wortschatz. Gewandt und gefährlich zugleich. Erinnerte mich an einen Ex-KGBler, auf den ich damals angesetzt worden war, als ich die polnische Mafia infiltriert habe. Die Leute, die nach dem Fall der Mauer sofort eine neue Beschäftigung fanden. Dieser Typ hätte einer von ihnen gewesen sein können. Wenn ein System zusammenbricht, werden sie gefährlich, die intelligenten Leute mit den richtigen Kontakten. Er hätte ohne Weiteres auch ein Vernehmungsleiter im Gaddafi-Regime sein können, diese Sorte Mensch. Jemand, der keinen Gott mehr hat, für den er kämpfen kann, er kämpft nur fürs Geld. Ich vermute, dass er für diesen Abschnitt des Flüchtlingsstroms verantwortlich ist, also für die Etappen, die in Zuwara beginnen und in einem Flüchtlingslager außerhalb von Frankfurt oder Borås enden. Oder auf diese Weise – als lebloses Päckchen auf dem Boden, das bereits bezahlt hat und deswegen wertlos ist – jetzt.«
Er knüllte das Foto in der Faust zusammen, sah Grens an, und als er begriff, was er getan hatte, faltete er es wieder auseinander.
»Lassen Sie, Hoffmann. Dieses Foto hat seine Aufgabe erfüllt.«
Dann saßen sie wieder eine Weile in dem unangenehmen Schweigen da. Sie wussten ja beide, dass der Kommissar sich entschieden hatte und dem ehemaligen Kriminellen seine Geschichte glaubte.
»Wer?«
Und weil er ihm glaubte – musste er nun auch die offensichtliche Frage stellen.
»Wer hat Sie gebeten, dem Flüchtlingspaar zu helfen?«
Hoffmann schwieg.
»Ich bin hier als Polizist, Hoffmann. Weil ich in einem Massaker ermittle. Ich muss alle erdenklichen Spuren verfolgen, um zu wissen, in welche Richtung ich gehen muss. Ich suche den Namen des Dreckskerls in Schweden, der ihnen ihr Leben und ihren Tod genommen hat. Und Sie sind der Einzige, der ein Gesicht von jemandem aus dem System kennt, der mich dorthin führen kann.«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Warum?«
»Ich kann es einfach nicht. Aber eins sollen Sie wissen, Grens, beim Anblick Ihrer Fotos bereue ich es, mitgemacht zu haben. Dass ich geholfen habe, gegen mein Gefühl und meinen Instinkt. Sie wissen, das Gute mit dem Bösen zu verbinden, das ist nicht möglich.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Wenn sich der gute Wille mit den bösen Kräften verbindet, endet es immer schlimm. Die Person, die mich um Hilfe gebeten hat, hat sich so verhalten wie ich früher. Jedes Mal wenn ich für euch gearbeitet habe, dachte ich ja, dass ich damit etwas Gutes tue. Dass ich der Polizei bei etwas Wichtigem behilflich bin. Dass ich die Bösen entlarve. Und jedes Mal habe ich es nur noch schlimmer gemacht, oder besser gesagt, es ist schlimmer geworden: für mich, für uns, für die Familie.«
»Ich versteh es wirklich nicht.«
»Mehr kann ich nicht sagen.«
Sie waren nicht mehr allein im hinteren Teil der Lobby. Ein älteres Ehepaar, Amerikaner, wie ihre englische Aussprache verriet, ließ sich in den Ledersesseln hinter ihnen nieder. Ewert Grens lehnte sich vor. Er flüsterte.
»Wen schützen Sie, Hoffmann?«
»Wollen Sie noch ein Bier?«
»Wen? Auf Ihrem zerknüllten Foto sehen Sie Dutzende Menschen, alle tot. Und Sie sitzen hier vor mir und wollen nichts sagen?«
»Ich habe Schlimmeres gesehen. Kommen Sie mal mit auf einen der Konvois. Nach meinem Urlaub, in ein paar Wochen, geht es wieder los. Überall auf dem Weg liegen tote Menschen, verhungert, überfallen. Dieses Land ist ein riesiger Friedhof.«
»Glauben Sie wirklich, Hoffmann, dass ich aufgeben werde? Wen schützen Sie – und warum?«
Das ältere Ehepaar hob ihr Glas, hoffte offenbar auf ein Gespräch mit anderen Hotelgästen. Ewert Grens nickte ihnen freundlich zu und wandte sich dann zurück zu Piet Hoffmann. Seine Körpersprache signalisierte deutlich Lasst-uns-in-Frieden.
»Ich könnte es Ihnen erzählen, Grens, wenn die Initiative von mir ausgegangen wäre, um den beiden Flüchtlingen zu helfen. Aber so war es nicht. Und wenn ich die Umstände beschreibe, dann führe ich Sie unbeabsichtigt zu der Person, die mich dazu überredet hat. Und ich werde diese Person niemals einem Risiko aussetzen – nie wieder. Denn Menschenhändler sind keine freundlichen Zeitgenossen.«
»Sie nehmen also lieber in Kauf, Tatverdächtiger eines Massenmordes zu sein, als einen Namen zu nennen, der Ihre Geschichte sogar stützen könnte?«
»Ich wurde gebeten zu helfen. Ich hatte die Möglichkeiten, es zu tun. End of fuckin’ story.«
Dieses Mal war das Schweigen alles andere als peinlich. Sie starrten sich in ihren Ledersesseln wütend an. Zwei Menschen, deren Wege sich erneut unfreiwillig gekreuzt hatten, die beide den Start ihres Fliegers herbeisehnten, der sie am nächsten Tag mehrere tausend Kilometer nach Norden bringen würde, nach Hause, vom Anfang des Flüchtlingsstroms zu seinem Ende.
Sie starrten.
Während Grens versuchte, die Starrköpfigkeit und Unvernunft zu begreifen.
Und plötzlich konnte er.
Und ich werde diese Person niemals einem Risiko aussetzen – nie wieder.
»Zofia.«
Natürlich.
»Zofia hat Sie gebeten, als Verhandelnder zwischen dem Flüchtlingspaar und den Schmugglern zu fungieren.«
Piet Hoffmann hatte über zehn Jahre lang sowohl für die schwedische als auch die amerikanische Polizei verdeckt gearbeitet und gewaltbereite und als gefährlich eingestufte Organisationen auffliegen lassen. Seine ganze Existenz, die Voraussetzung für sein Überleben, baute auf seiner Fähigkeit auf, immer die Fassade zu wahren – seine Maske. Immer ein anderer zu sein, immer die Lüge als Werkzeug einzusetzen.
Aber jetzt funktionierte es nicht.
Ewert Grens konnte ihm ansehen, dass er richtiglag.
Zofia Hoffmann war die fehlende Verbindung zu den Schleusern.
»Reden Sie, verdammt noch mal, Hoffmann.«
Das amerikanische Paar lachte und hob die Gläser, ihnen war es gelungen, ein paar andere Hotelgäste zu sich einzuladen, die einfacher und lustiger waren als die beiden Schweden, die offenbar nur an sich selbst interessiert waren. Piet Hoffmann sah zu ihnen rüber, das war bestimmt wunderbar – so unbekümmert eine Auslandsreise zu machen. Für Zofia und die Jungs hatte es sich immer wie Flucht angefühlt, einem Zollbeamten einen gefälschten Pass hinzuhalten, man lebte, um zu überleben. Wenn die zwei Jahre, die er laut Vertrag mit der südafrikanischen Sicherheitsfirma absolvieren musste, vorbei waren, würde er in sein Haus nach Enskede zurückkehren, das ihnen ausreichend Sicherheit und Abenteuer bot.
»Hoffmann, verdammt! Ich glaube weder, dass Zofia in den Menschenhandel und diesen Massenmord verwickelt ist, noch dass Sie es sind. Ich verstehe auch sehr gut, dass Sie Zofia da nicht mit reinziehen wollen. Aber Sie müssen mir sagen, was Sie wissen. Und ich muss mit ihr reden. Damit ich Sie beide von meiner Liste streichen kann und in der Lage bin, die Verantwortlichen zu suchen. Wenn Sie von meiner Liste gestrichen sind, landen meine Aufzeichnungen im Müll, niemand wird sie jemals zu Gesicht bekommen.«
»Das habe ich schon mal gehört!«
»Nicht von mir – wenn ich mich um Unterlagen kümmere, die wir überschüssiges Material nennen, dann wird das nicht öffentlich zugänglich gemacht. Hören Sie zu! Ich werde Zofia nicht offiziell in der Ermittlung führen. Ihr wird nichts passieren. Auch Ihren Kindern nicht. Sie haben mein Wort.«
Immer allein arbeiten.
Piet Hoffmann atmete tief ein und tief aus.
Trau nur dir selbst.
So hatte er immer gelebt. Und überlebt. Es war sein Mantra gewesen, das sich allerdings verändert hatte, seit er den Kommissar kannte. Langsam hatte er eingesehen, dass ein Mensch, der niemandem vertraut, sich dafür entscheiden kann, es trotzdem zu tun. In Kolumbien hatte er sich dafür entschieden, Grens zu vertrauen. Jetzt wurde das Mantra ein zweites Mal verändert. Jetzt war er gezwungen, ihm zu vertrauen. Dass Grens seine Familie beschützen würde. Denn er wusste, dass Zofias Anteil in dieser Geschichte – dass sie ein Glied in der Kette war – seine Familie in Gefahr bringen könnte.
»Zofia.«
Hoffmann flüsterte, obwohl die fröhliche Gesellschaft nebenan ausgelassen lachte und sich lautstark zuprostete.
»Sie hat mich gebeten. Ich weiß nicht genau, warum, es hat mich auch nicht wirklich interessiert, das müssen Sie sie fragen. Aber die Verbindung zu dem Flüchtlingspaar, dem ich mein Handy gegeben habe, hat was mit ihrer Arbeit zu tun. An der Schule, an der sie unterrichtet und auf die auch unsere Kinder gehen, gibt es Spezialkurse auf Französisch für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Es war einem der Kinder zuliebe, das selbst diese Reise gemacht hat, ich sollte einem Mann und einer Frau aus Niger beistehen – als Schutz und Garantie, dass sie nicht reingelegt und ausgeraubt werden.«
Piet Hoffmann lehnte sich zurück, sein Gesicht wurde zum ersten Mal, seit Grens die Fotos auf den Tisch gelegt hatte, weicher, er sah jetzt nicht mehr so alt aus wie Grens.
Als hätte sich die Angelegenheit – nachdem er dem Kommissar den Namen für die nächste Spur gegeben hatte – damit erledigt.
Er hatte ja keine Ahnung.
»Ich habe da noch ein anderes Anliegen. Das nur umgesetzt werden kann, wenn ich Sie von meiner Liste streiche.«
»Wenn?«
»Wenn!«
Ewert Grens hob seine Stimme, die fröhliche Gesellschaft war aufgestanden und machte sich auf den Weg zu der Tür hinter der Rezeption, die in die Bar führte, wie Grens jetzt wusste.
»Sie haben die Schleuser gesehen, die den beiden eine sichere Reise garantiert haben, was sich als falsch entpuppte. Sie haben den Anführer, wie Sie ihn nannten, getroffen. Darum möchte ich, dass Sie für mich das tun, was Sie am besten können.«
»Was haben Sie vor, Grens?«
»Ich möchte, dass Sie seine Organisation unterwandern. Bringen Sie mir den Namen des schwedischen Mitglieds, das davon profitiert, dass die Leute in einem Container in Stockholm ersticken. Sie besorgen mir diesen Namen, Hoffmann, weil ich für Sie nach Kolumbien geflogen bin. Sie haben mich damals gefragt, wie Sie mir danken können. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich eines Tages darauf zurückkommen werde. Jetzt tu ich das. Schleichen Sie sich dort ein, bringen Sie mir diesen verfluchten Namen. Danach haben Sie Ihre Schuld beglichen und können machen, was Sie wollen.«
Piet Hoffmann war bewaffnet. Als der ehemalige Undercoveragent ins Hotel gekommen war, hatte Grens die Konturen des Holsters unter seiner Weste gesehen, Platz für eine Waffe und ein Messer, sie gehörten zu seiner Standardausrüstung.
Aber er hatte keine Angst, obwohl er die Wut in Hoffmanns Augen sah, die früher ein natürlicher Reflex gewesen war und sich schnell in Drohgebärde und Tod verwandelt hatte.
Sie waren keine Feinde mehr, das würden sie auch nie wieder werden.
»Nein.«
»Ich will dieses Schwein erwischen.«
»Nicht einmal Ihnen zuliebe, Grens.«
»Ich will den schwedischen Unterhändler finden, weil das meine Aufgabe ist. Gegen die Leute, die hier im Land von dem Elend profitieren, kann ich aber nichts ausrichten, das müssen andere erledigen. Aber ich kann das Mitglied der Organisation hinter Gittern bringen, das in meinem Territorium operiert und Massengräber zulässt.«
»Ich wiederhole mich – nein.«
»Nein?«
»Ich werde nie wieder für die schwedische Polizei arbeiten. Oder eine ihrer Organisationen. Niemals.«
»Aber das hier ist anders als sonst. Sie sollen ja nicht die gesamte Organisation aushebeln.«
»Haben Sie es schon vergessen, Grens?«
»Sie sollen mir nur einen Hinweis liefern, der mich zu dem Drahtzieher in Schweden führt.«
»Denn wenn Sie sich erinnern würden, wüssten Sie auch, dass es selten gut ausgeht. Stimmt’s, Herr Kommissar?«
Piet Hoffmann drückte sich mit beiden Händen von den Armlehnen seines Sessels ab.
»Mein zweiwöchiger Urlaub hat gerade angefangen. Der nächste ist erst wieder in drei Monaten. Das sieht mein Vertrag vor, vier Heimfahrten pro Jahr. Ich habe mein Ticket für den Rückflug, wahrscheinlich derselbe Flieger, mit dem Sie auch reisen. Ich werde zu meiner Familie zurückzukehren. Wir können morgen nebeneinandersitzen und das eingeschweißte Essen genießen. Sie haben es doch selbst gesagt, Grens. Es ist nicht mein Job, die zu finden – sondern Ihrer. Einen schönen Abend noch.«
Dann ging er quer durch die Lobby zu den Fahrstühlen, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, obwohl er den Blick des Kommissars im Rücken spürte.
Manchmal ist ein Abschied nur ein Abschied.
EIN HOTELZIMMER IST ein sonderbarer Ort. Vier schweigende Wände, die ein Bett bewachen – normalerweise ein sehr intimer Ort, in dem du vielleicht nackt schläfst und wo dir im Traum deine Gedanken begegnen – in dem gestern noch ein anderer geschlafen hat, den du nicht kennst, und in dem morgen jemand schlafen wird, den du auch nicht kennst.
Ewert Grens verabscheute Hotelzimmer.
Nach Annis Krankheit – und schließlich Tod – hatte er sich entschieden, allein zu leben. Weil er sich wohl damit fühlte. Weil er niemanden sonst brauchte. Aber in Hotelzimmern verlor die Einsamkeit ihre Schönheit – dort war sie so hässlich, traurig und erschöpfend wie in der Vorstellung jener, die große Angst vor ihr hatten.
Er konnte sich nicht entspannen, geschweige denn schlafen. Er saß mit der Fernbedienung auf seinem Bett und zappte durch die Kanäle, von einer Welt in die nächste, ohne richtig hinzusehen. Ihn umgab nur die Einsamkeit, die ihn höhnisch auslachte. Daneben die Wut, während der Ärger und die Resignation direkt dahinter kamen. Piet Hoffmann war einfach aufgestanden und gegangen. Der Einzige, der einen Kontakt zu den Schleusern gehabt hatte, der ihren Anführer gesehen hatte und wusste, wo er sich aufhielt. Der Einzige, den die europäische und amerikanische Polizei einstimmig als den besten Undercoveragenten bezeichnete und der die Fähigkeit hätte, sich in die Organisation einzuschleichen und den Namen des schwedischen Mittelsmannes herauszubekommen.
Und es trotzdem nicht tun wollte.
Grens hielt es nicht länger im Hotelzimmer aus, er fuhr mit dem Fahrstuhl in die Lobby und trat in die westafrikanische Nacht hinaus, die noch unglaublich warm und wesentlich dunkler war als die Nächte in anderen Hauptstädten dieser Welt, denn hier blinkten keine Neonröhren und Werbestelen um die Wette, hier waren nicht alle Räume in den Häusern hell erleuchtet – das künstliche Licht, das den dunklen Himmel über Stockholm so viel milder wirken ließ, gab es hier nicht.
Er lief los, ohne zu wissen wohin, um seine Gedanken zur Ruhe zu zwingen. Die Straße hieß Boulevard de l’ Independance. Nicht viel Verkehr, obwohl er sich laut Karte – die er im Hotelzimmer hatte liegen lassen – im Stadtzentrum befand. Es gab auch nicht so viele Ampeln, obwohl es sogar Kreuzungen gab, dafür aber viel häufiger Kreisverkehr. Auf der anderen Seite einer dieser Mittelinseln stand er laut Straßenschild wieder in einer neuen Straße. Place des Martyrs. Und ungefähr auf dieser Höhe hätte er umdrehen und zurückgehen sollen, und hätte das wahrscheinlich auch getan, wenn sein Telefon nicht geklingelt hätte.
»N’ Abend, Ewert. Ich …«
Marianas Stimme. Der Nummer im Display zufolge rief sie aus dem Präsidium an.
»… mache den Lautsprecher an.«
Trotz des nächtlichen Einsatzes und der morgendlichen Jagd durch die Unterwelt Stockholms war sie noch im Dienst. Er lächelte. Sie konnte es ja zum Glück nicht sehen.
»Ich fange mal mit dem Unternehmen an, dem der Container gehört. Dann muss ich noch eine Sache loswerden und gebe danach an Sven weiter, der was über den Guide sagen kann.«
Sie waren also beide noch im Dienst.
»Der Container gehört einer Spedition aus Danzig. Der Container wurde auch in Danzig geleert und sollte eigentlich – den Unterlagen zufolge – von dort leer nach Stockholm verschifft werden. Alle, die wir mithilfe der polnischen Polizei befragen konnten, wussten nichts davon, dass der Container vor seinem Weitertransport mit Menschen gefüllt wurde.«
Grens Kollegen berichteten aus dem Präsidium der Stadt, in der er jede Straße kannte. Während er sich in einer Wirklichkeit zurechtzufinden versuchte, sich aber nur im Kreis drehte.
»Kannst du uns hören, Ewert?«
»Ich kann euch hören.«
»Das klang gerade so, als würdest du mit dem Handy durch die Gegend fuchteln, das hat so geraschelt und geknistert.«
»Ich habe mich nur umgedreht. Ich steh jetzt still. Macht weiter.«
Er beschloss, noch eine Weile geradeaus weiterzugehen.
»Ja, ich habe da noch was anderes, Ewert. Ich würde mir gern eine Person genauer ansehen.«
»Ja, wen denn?«
»Die Sektionsassistentin. Die Frau, die uns alarmiert hat, als sie plötzlich zwei Leichen zu viel hatte.«
»Was? Warum?«
»Ich möchte ein bisschen bohren und graben. Ich könnte mir vorstellen, dass sie mehr weiß, als sie zugibt.«
»Nein.«
»Nein?«
Er sah ihre strahlenden Augen vor sich.
Ihren lächelnden Mund.
Er war mit ihr in der Gesellschaft der Toten ganz ruhig geworden.
»Sie hat damit überhaupt nichts zu tun.«
»Ewert – die Leichen wurden an ihrem Arbeitsplatz gefunden.«
»Ja – und sie hat sich bei uns gemeldet. Warum sollte sie das tun, wenn sie was damit zu tun hat?«
»Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein Schuldiger in unsere Ermittlungen einschleicht und es zunächst wie Hilfe aussieht. Um uns unter Kontrolle zu haben, um Einsicht in die Akten oder so zu bekommen. Sie hat uns die Liste der Schlüsselbesitzer gegeben, vom Pathologen bis hin zum Personal, das die Kaffeemaschinen auffüllt. Und wir haben jeden von ihnen verhört – alle, nur sie nicht. Wir haben uns weder ihr Leben genauer angesehen noch nach einem möglichen Motiv gesucht.«
Am liebsten hätte Ewert Grens aufgelegt und losgebrüllt.
Wenn sie das gewesen ist – warum hat sie mich dann angerufen? Zu Hause? Warum hat sie ihre Hand auf meinen Arm gelegt? Warum gefiel mir ihr Lächeln so gut?
»Ewert?«
Svens Stimme klang müde, aber um diese Uhrzeit sehnte er sich oft nach Hause in sein Reihenhaus, zu Anita und Jonas.
»Ja?«
»Ich übernehme. Einverstanden?«
»Ich höre.«
»Wir haben leider vor ein paar Stunden einen herben Rückschlag einstecken müssen.«
»Aha, inwiefern?«
»Wir sind nochmal runter in die Tunnel – und haben ihn gefunden. Den vermutlichen Guide. Wir hatten einen Tipp bekommen, und ganz in der Nähe war er auch. Tot. Punktiertes Herz. Kaum Blut – eine schmale und superscharfe Waffe. Ein sehr professioneller Mord. Und ein Mörder, der weiß, dass kleine Stichwaffen wesentlich effektiver sind als große Klingen, die oft an den Rippen abprallen.«
Ewert Grens unterbrach seinen Spaziergang abrupt.
Tot?
Er auch?
»Ewert – die hatten nicht nur vor, alle Leichen nacheinander zu entsorgen, die beseitigen auch jeden, der sie auf ihre Fährte führt und das Risiko erhöht, entdeckt zu werden. Wir sind sicher, dass er der Richtige war – wir haben in seinem kleinen Unterschlupf haufenweise Geldscheine gefunden, die er in einem Hohlraum versteckt hatte. Neue Seriennummern, das Geld muss er also in letzter Zeit bekommen haben, wahrscheinlich als Lohn für die Zugänge, die er verraten hat und für das Öffnen der Türen, für die nur er Schlüssel hatte. Aber auch ohne die Geldscheine wüssten wir, dass er der Richtige ist – an seiner Kleidung haben wir auch Spuren von Ammoniumphosphat gefunden. Löschmittel. Er hat also auch beim Transport mitgeholfen, und zwar schon im Hafen.«
Ein neuer Kreisverkehr. Grens hatte sich offenbar wieder im Kreis gedreht, und ohne zu wissen, wie ihm geschah, befand er sich nun in einer neuen Straße mit einem neuen Namen.
Die beseitigen auch jeden, der sie auf ihre Fährte führt und das Risiko erhöht, entdeckt zu werden.
Noch eine Verbindung zu dem schwedischen Mittelsmann war eliminiert worden.
Plötzlich packte ihn wieder die Wut. Das Rauschen in seinem Kopf hatte er etwas beruhigen können, aber jetzt drehte es sich in ihm so, wie er sich durch die Verkehrsinseln und den Kreisverkehr drehte. Abrupt blieb er stehen.
Er hatte seine Meinung geändert.
Er war überhaupt nicht fertig mit Hoffmann. Im Gegenteil, es hatte noch gar nicht richtig angefangen.
Wenn es ihm nicht gelang, den ehemaligen Agenten mit freundlichem Bitten und dann mit Flehen zu überreden, dann würde er eine andere Methode anwenden müssen.
Zwang.
»Jerry?«
Ewert Grens hörte es nicht gleich beim ersten Mal. Da rief jemand, aber er konnte nicht ihn meinen.
»Jerry? Here! It’s me!«
Er kannte die Stimme.
Auf der anderen Straßenseite hielt ein Wagen.
»Lost, Jerry?«
Er hatte sich tatsächlich verlaufen. War ein echter Jerry. Dort stand das Taxi, das ihn vom Flughafen ins Hotel gebracht hatte. Der kräftig gebaute Taxifahrer mit den weichen, geschmeidigen Bewegungen. Die Beifahrertür stand schon offen.
Sie fuhren zurück. Frederick – dessen Namen Grens zum Glück wieder eingefallen war, was sie beide gleichermaßen glücklich machte – erzählte ihm lachend, dass ausgerechnet diese Straße auf einer Strecke von wenigen Kilometern sechs Mal ihren Namen änderte. Und dass Grens sich die ganze Zeit auf der Hauptstraße befunden hatte. Vor dem Hotel wiederholte sich die Diskussion um das Trinkgeld – der Taxifahrer wollte diesmal gar kein Geld haben, aber der Kommissar insistierte und stopfte ihm schließlich wie beim letzten Mal fünftausend Franc in die Brusttasche.
Ewert Grens hatte einen Plan.
Wenn es mit Freundlichkeit und Flehen nicht ging, dann blieb ihm nur Zwang.
In der Lobby saß niemand, auch auf seinem Zimmer war Hoffmann nicht, aber er fand ihn in der Bar.
Er stand am Tresen.
Vor sich ein Glas Hirsebier. Er unterhielt sich mit einem großen blonden Mann, wesentlich größer noch als Grens und vor allem muskelbepackt.
Dann näherte er sich.
»Ich möchte kurz mit Ihnen sprechen.«
Weiße Wände. Weißer Tresen. Weiße Klimaanlagen an den weißen Wänden. Auf dem weißen Tresen stand ein weißer Fernsehapparat.
Aber Grens bemerkte es nicht.
»Ich würde das gerne jetzt machen und unter vier Augen.«
»Ich unterhalte mich gerade, wie Sie vielleicht sehen können.«
»Beenden Sie das Gespräch.«
Der große Blonde, dessen Bart so struppig war wie Hoffmanns, hatte offenbar verstanden, was Grens auf Schwedisch gesagt hatte und wirkte amüsiert. Und auch schon etwas betrunken.
»Du hast also Freunde hier, Koslow, die ich noch nicht kenne?«
Ein Däne.
Kopenhagener Dialekt, das konnte Grens hören.
»Ewert Grens, Kriminalkommissar. Ich würde mich freuen, wenn Sie Ihren Gesprächspartner kurz entbehren könnten.«
Der Händedruck des Dänen war so kraftvoll wie der Rest des Körpers.
»Ich heiße Frank. Polizei, sagen Sie? Was hat mein guter Freund hier denn angestellt?«
Ein polterndes Lachen, heiser von zu viel Alkohol.
»Dieses Mal geht es nicht darum, was er getan hat. Sondern um etwas, was er tun soll.«
Piet Hoffmann und der Däne sahen sich an, hoben die Gläser, stießen an und tranken aus. Sie umarmten sich, Grens spürte eine Art Verbundenheit zwischen ihnen, viel Erfolg in Zarzis – viel Erfolg zu Hause bei Frau und Kindern. Während der Däne sich ein weiteres Glas bestellte, verließ Hoffmann mit Grens die Bar, und sie setzten sich wieder dorthin, wo sie schon am Nachmittag gesessen hatten.
»Koslow? So nennen Sie sich also gerade?«
»Das ist der Mädchenname meiner Mutter. Und eine meiner vielen Identitäten, die ich im Laufe der Jahre angenommen habe. Ich fand, er passte hierher, außerdem steht er – neben Hoffmann – in meinem einzigen Pass, der nicht gefälscht ist. Weil ich hier offiziell unterwegs bin, legal. Eine Sache möchte ich ein für allemal klarstellen, Grens. Sie haben mir das Leben gerettet. Zweimal, um genau zu sein. Aber sie werden mich nie wieder so ansprechen, ist das klar?«
Ewert Grens hatte Piet Hoffmann schon Drohungen aussprechen hören und kannte die Konsequenzen.
Und er hatte selbst im Laufe seines Lebens mehrmals Drohungen erhalten und die Konsequenzen davon erlebt.
Es lag also an ihm, ob er das Schicksal herausfordern wollte.
Und er würde es tun.
Bald wäre er nämlich an der Reihe, Hoffmann zu drohen.
»Sie haben mal gesagt, dass auch Sie Ihr Geld damit verdient haben, Sachen weiterzuverkaufen. Vor allem Drogen. Davon hatten Sie eigentlich gesprochen.«
Piet Hoffmann nickte. Davon hatte er eigentlich gesprochen, das stimmte.
»Aber das entspricht nicht ganz der Wahrheit, was?«
»Entschuldigung?«
»Dass Sie mit dem Verkauf von Drogen Geld verdient haben.«
»Sie kennen doch das Gerichtsurteil. Sie wissen, was da drin stand.«
»Ich meine aber – dass Sie Geld damit verdienen. Nach wie vor.«
Hoffmann lehnte sich in den Sessel zurück und zuckte mit den Schultern.
»Ganz ehrlich, wovon zum Teufel reden Sie?«
»Davon.«
Aus der Innentasche seines viel zu warmen Jacketts zog Ewert Grens den Umschlag mit den vier Aufnahmen der Leichen. Aber um die ging es nicht. Es waren andere Fotos sowie ein Auszug aus einer internationalen Ermittlungsakte. Material, das er eigentlich nicht hatte einsetzen wollen.
»Ich habe Ihre schrecklichen Fotos doch schon gesehen, Grens. Und sie haben mich tief erschüttert. Aber ich habe Ihr großzügiges Jobangebot trotzdem abgelehnt.«
»Sie haben nur das zu sehen bekommen, was Sie sehen sollten.«
Er breitete die andere Hälfte des Inhaltes auf dem Tisch aus.
»Was sagen Sie dazu – vielleicht erkennen Sie diesen Koffer wieder?«
Auf dem ersten Abzug war ein Koffer zu sehen. Den hatte Piet Hoffmann in Kolumbien vor seiner Rückreise nach Schweden gepackt, war damit durch den Zoll gekommen und hatte Grens auf dem Weg ins Gefängnis gebeten, den Koffer in seinem Büro aufzubewahren, solange er seine Strafe absitzen würde.
»Damals habe ich die Bedeutung Ihrer Bitte nicht begriffen, Hoffmann. Ich habe ihn einfach zwischen mein Regal und den kleinen Schrank gestellt, in dem meine Uniformen hängen, die ich nie trage.«
Grens hob das zweite Foto hoch. Eine gescannte Seite aus einer Ermittlungsakte.
»Bis ich durch Zufall, im Zusammenhang mit einem anderen Fall, auf das hier stieß. Es ist eine internationale Zusammenarbeit mit der portugiesischen, spanischen, holländischen und schwedischen Polizei. Und mitten in dem Akteneintrag ist da dieses Foto. Ein Koffer, der identisch ist mit Ihrem! Er gehörte einer Drogenbande, deren Mitglieder beim Schmuggeln von Ware über den Süden Spaniens, Gibraltar und Faro in Portugal erwischt wurden. Die Ermittler haben herausgefunden, dass der Transport des Stoffes aus Südamerika in diesen vollkommen geruchsneutralen Koffern erfolgte. Das Leder der Koffer bestand aus Kokain, das die Chemiker vor Ort so manipuliert hatten, dass es anhand seines Geruches nicht mehr aufzuspüren war. Wenn Sie sich auch die anderen Aufnahmen von beschlagnahmten Waren ansehen wollen, Hoffmann. Und alle Koffer sind identisch mit dem, den ich für Sie acht Monate lang in meinem Büro aufgehoben habe.«
Piet Hoffmann entwich ein tiefer, langer Seufzer.
Dann lachte er, nicht besonders laut, es war ein Lachen, das sowohl mitlachte als auch auslachte.
»Das gibt es doch nicht. Dann hat der Herr Kommissar dieses Rätsel also auch herausbekommen.«
»Hmm. Ich habe es nicht nur herausbekommen. Ich habe es auch noch zugelassen, obwohl ich bereits davon wusste, bevor ich Ihnen den Koffer ausgehändigt habe, damit Sie ihn wieder einschmelzen und den Scheiß verkaufen können. Ich habe, wenn Sie sich die letzten Aufnahmen ansehen – ich verspreche, mehr gibt es wirklich nicht –, dokumentiert, wie ich eine kleine Geschmacksprobe vom Koffer gekratzt habe, die ich in einer Plastiktüte in meinem Tresor im Präsidium aufbewahre. Und neben dieser kleinen Tüte liegt noch ein letztes Foto von Fingerabdrücken, die ich auf dem Griff des Koffers gefunden habe. Ihre.«
»Aha? Und was soll mir das sagen?«
»Das soll zum einen sagen, dass Sie es wert waren. Dass Ihnen das Startkapital zusteht, nachdem zwei Polizeibehörden von zwei unterschiedlichen Kontinenten Sie erst eingesetzt und Ihre Dienste genutzt haben, um Sie dann in dem Moment fallen zu lassen, in dem Sie gefährlich wurden. Aber es sagt Ihnen auch, dass ich etwas gegen Sie in der Hand habe, was ich weiterleiten kann – wenn ich es muss.«
Erneut lachte Hoffmann, dieses Mal aber klang er verächtlicher.
»Wenn ich wegen dieser Sache mit dem Koffer in den Knast gehe, Grens, dann kommen Sie mit. Weil Sie ihn aufgehoben haben, ohne das sofort zu melden.«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Es wäre interessant zu sehen, wem der Richter mehr Glauben schenkt. Dem Kommissar, der erst jetzt erkennt, dass er reingelegt worden ist. Oder dem Mörder, der lebenslang bekommen hat und dessen Fingerabdrücke auf dem Koffer sind, so wie auch auf dem Handy, das in die Jacke eines Toten eingenäht wurde. Und sollten wir wirklich beide dafür verurteilt werden – wer von uns hat mehr zu verlieren? Der über Sechzigjährige ohne Familie oder der etwa eine halbe Generation jüngere Mann mit Frau und zwei kleinen Kindern, die versuchen, sich in Schweden zu akklimatisieren, nachdem sie seinetwegen jahrelang auf der Flucht gewesen sind?«
Ewert Grens ließ den Mann nicht aus den Augen, den die schwedischen Behörden schlecht behandelt, ausgenutzt und aufgerieben hatten. Und da saß er und hatte genau dasselbe vor, setzte sein Leben erneut aufs Spiel.
Denn er hatte früh begriffen, dass man immer einen Notfallplan im Ärmel haben sollte.
Und manchmal musste man den einsetzen.
Den Notfallplan.
»Hoffmann, glauben Sie mir, ich werde es melden. Ich werde Sie festnehmen. Sie werden für viele Jahre hinter Gitter wandern. Wenn ich das muss.«
Piet Hoffmann blieb reglos vor ihm sitzen. Ziemlich lange. Er wusste zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden, er war lange genug auf der schmalen Grenze zwischen ihnen balanciert. Dann entwich ihm, wie zuvor, ein langer, tiefer Seufzer, dieses Mal aber aus Resignation.
»Zwei Wochen.«
»Was?«
»Ab morgen habe ich zwei Wochen Urlaub. Sie bekommen diese Zeit, Grens – aber nicht eine Stunde mehr. Denn so muss ich weder Zofia noch meinem Arbeitgeber die Wahrheit sagen. Und Sie – Sie werden den Inhalt Ihres Tresors danach verbrennen, abgemacht?«
»Je eher ich den Namen unseres Mannes in Schweden bekomme, desto schneller ist das hier vorbei.«
»Grens – abgemacht?«
Zwei Männer, die sonst niemandem vertrauten, sich jetzt aber gegenseitig vertrauen mussten.
»Abgemacht! Danach verbrenne ich alles.«
Ewert Grens nahm die Abzüge und zerriss einen nach dem anderen langsam und betont. Das hatte Hoffmann zwar nicht beabsichtigt, das war Grens schon bewusst, aber er wollte seinen guten Willen damit demonstrieren. Er erhob sich, doch Hoffmann legte seine Hand auf Grens Arm und drückte ihn in den Sessel zurück.
»Eine Sache noch, Grens, bevor Sie in Ihrem Zimmer verschwinden.«
Er ließ die Hand liegen, und der Kommissar ließ es geschehen, obwohl sich für ihn diese Art von Körperkontakt wie Schläge anfühlte, die er am liebsten mit Schlägen erwidert hätte.
»Sie sind also der Ansicht, dass ich die Organisation unterwandern soll, so wie sonst auch? Ernsthaft, Grens, in zwei Wochen? Sie haben ja keine Ahnung, was das bedeutet und worum es da geht. Um Vertrauen. Über das weder Sie noch ich verfügen. Ganz langsam gewinnt man das Vertrauen des anderen, verdient es sich und setzt es dann ein, um das zu bekommen, was sie einem nicht geben wollen. Es hat mich neun Jahre gekostet, um in das Herz der polnischen Mafia vorzudringen, um den ganzen Weg von Stockholm nach Warschau zu gehen und am Ende ein Treffen mit ihrem Anführer zu bekommen – Taket. Es hat mich drei Jahre gekostet, um in Kolumbien bis zu den Schattengestalten vorzudringen, damit mein Vertrauen bis in die Tiefe des Amazonas reichte. Ihnen, Grens, gebe ich zwei mickrige Wochen, wie weit man damit kommen kann, können Sie sich selbst ausrechnen.«
»Wir haben es hier mit einer wesentlich einfacheren Organisation zu tun. Das wissen wir aus Erfahrung. Schleuserbanden operieren in viel kleineren Einheiten als die südamerikanischen Drogenkartelle.«
Ewert Grens hatte dabei auf die Hand gestarrt, die auf seinem Arm lag, um deutlich zu machen, dass er das überhaupt nicht leiden konnte. Piet Hoffmann zog sie schließlich weg.
»Eine Organisation zu unterwandern ist wie … mögen Sie Essen, Grens, kochen Sie gerne richtig gutes Essen?«
»Wie bitte?«
»Es ist wie französisches Kochen, ganz langsam und lange. Worum Sie mich hier aber bitten, das ist, wie fette Hamburger in einer Fastfoodkette zu braten. Und alle kriminellen Organisationen, in die jemand eingeschleust werden soll, haben eine Sache gemeinsam – die mögen kein Fastfood. Die bevorzugen alles, was länger dauert.«
»Dann müssen Sie dieses Mal anders arbeiten. Und es anders nennen.«
»Wie zum Beispiel?«
»Kollision.«
»Kollision?«
»Konfrontation. Das Gegenteil von Zeit. Ein Blitzangriff, der alle Türen auf einmal öffnet.«
»Und wie genau soll das vonstatten gehen, Herr Kommissar?«
Ewert Grens erhob sich, und dieses Mal hielten ihn keine fremden Hände davon ab.
»Ich weiß es nicht, das ist Ihr Job, Hoffmann. Aber ich verstehe weit mehr, als Sie denken – wenn Sie mit Zeit arbeiten und die Lügen aufbauen können, steht Ihr Gerüst fest und sicher, aber dieses Mal müssen Sie denen so eine Art Lüge mit Timer servieren, der irgendwann ausgeht. Mit so wenig Zeit werden Sie zwangsläufig Ihre Deckung verlieren. Und wenn Sie das getan haben, nicht falls, müssen Sie darauf vorbereitet sein. Sonst gehen Sie dabei drauf. Oder die.«
SEIN HOTELBETT – DAS jemand anders schon für die nächste Nacht gebucht hatte – würde gar nicht neu bezogen werden müssen. Ewert Grens konnte nicht schlafen, es hatte gar keinen Sinn, es zu versuchen. Vielleicht lag es an der Wärme. Oder an der Kraft, die es ihn gekostet hatte, Hoffmann zur Mitarbeit zu bringen, und die sich jetzt in eine Leere verwandelt hatte, nachdem es ihm gelungen war. Oder es war das Gefühl, ab jetzt die Jagd auf die Leute fortsetzen zu können, die Menschen qualvoll in Containern ersticken ließen, und sowohl am Anfang als auch am Ende des Flüchtlingsstroms auf Jagd gehen zu können. Es könnte auch das Schicksal sein, in einem Leichenschauhaus einer Person mit einem warmen, einnehmenden Lächeln begegnet zu sein, gegen die er jetzt ermitteln sollte – die Erkenntnis, dass es – wenn er sie wiedersehen würde – dann als Polizist in einem Verhörraum wäre, mit ihr als der verdächtigen Person.
Es war alles. Und alles auf einmal.
Seine einzige Nacht auf diesem Kontinent verbrachte er also wie zuvor in der Dunkelheit in den Straßen der Hauptstadt, ein Glas Orangensaft in einem kleinen Café hier, eine Schale Palmnusssuppe in einer schlichten Bar dort. Überall begegnete er nur freundlichen Menschen. Eine einzige Abfolge von Fredericks, nur ohne Taxi. Sie folgten einer anderen, inneren Uhr – niemand wollte schnell nach Hause ins Bett. Solange es Kunden gab, hatten sie auch Zeit, ihnen noch etwas zu verkaufen. Und als er sich gegen fünf Uhr morgens in ein kleines Restaurant setzte, deren Besitzer gerade dabei waren zu schließen, und einen Drei-Aufgüsse-Tee bestellen wollte, grüßten sie ihn lächelnd und sagten: Bitte, setzen Sie sich doch. Drei Aufgüsse mit denselben Teeblättern, die immer schwächer wurden, was mit immer mehr Zucker kompensiert wurde. Der lächelnde Restaurantbesitzer erklärte seinem Gast in schwer verständlichem Englisch, dass deshalb der erste Aufguss so bitter wie der Tod schmeckte, der zweite mild wie das Leben, und wenn man bis zum Ende durchhielt, schmeckte der dritte süß wie die Liebe.
Gegen sieben Uhr morgens war er zurück im Hotel. Entspannt und keineswegs so müde, wie er es hätte sein müssen. Er hatte sogar noch genügend Zeit für einen starken, frisch gemahlenen Liberia-Kaffee, bevor er auf sein Hotelzimmer gehen würde, das er um jeden Preis vermieden hatte, um seine kleine Tasche zu packen und auszuchecken. Er setzte sich in die Lobby, dieses Mal in einen der Ledersessel in der Nähe der Rezeption – man musste ja flexibel bleiben – und bestellte sich Kaffee. Gleich zwei Tassen auf einmal, warum nicht.
Es schmeckte traumhaft, wie am Abend davor auch.
Er wollte sich gerade eine dritte Tasse bestellen, als ein bekanntes Gesicht vor ihm auftauchte.
»So sieht man sich wieder, Herr Kommissar. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Der Regierungsbeamte aus dem Außenministerium. Aus dem Taxi. Der mit einer richtigen Visitenkarte.
»Thor Dixon heiße ich. Sie müssen nicht so tun, als ob Sie sich erinnern, ich kann Ihnen ansehen, wie fieberhaft Sie in Ihrer Erinnerung nach meinem Namen gesucht haben.«
Grens lächelte.
»Selbstverständlich, nehmen Sie Platz, Herr Dixon.«
Sein heller Leinenanzug saß perfekt, ohne zu beengen, stellte Ewert Grens neidisch fest.
»Bei meinem nächsten Besuch weiß ich, wie ich mich anziehen muss.«
Er zuckte mit den Schultern, die in einem zu dicken und zu dunklen Jackett steckten.
»Oder eben, wie ich mich nicht anziehen sollte.«
Dann bestellte er die nächste Runde Kaffee, wieder zwei Tassen. Für jeden eine.
»Ich warte auf meinen Fahrer, Herr Kommissar, und habe bis eben vor der Tür gesessen, fast eine halbe Stunde lang. Jetzt müssen sie halt reinkommen und mich holen. So läuft das hier mit der Organisation, man muss sich anpassen.«
»Haben Sie ein frühes Meeting?«
»Ja. UN-Repräsentant, der Innenminister von Niger und Ärzte ohne Grenzen. Wir – also Schweden – haben einen aktualisierten Bericht über die Situation eingefordert, und ich wollte mir vor Ort ein Bild verschaffen.«
»Und das machen Sie in einer Art … Einmann-Delegation?«
»Eins müssen Sie wissen – wir unterhalten in diesem Land weder eine Botschaft noch ein Konsulat. Niemand hat Lust, eine Dependance im falschen Teil der Welt zu leiten. Die schwedischen Botschafter bevorzugen es, in Tokio Sake auf poliertem Reis zu trinken oder in Washington mit der New York Times im Arm zu abendlichen Kulturevents zu gehen. Ich gehöre zu dem Stab, der die Botschafter entlastet, die in Stockholm stationiert sind. Bin ein Sachverständiger. So werde ich genannt. Mit Sachkenntnissen im Bereich Humanitäre Hilfe. Da geht es um einen ziemlich dicken Batzen Geld – zwanzig Milliarden Kronen über das Außenministerium und dann noch ein weiterer Teil von der humanitären Organisation SIDA. Meine Aufgabe ist es, diese Summen in Niger, Burkina Faso, Togo, Benin und Mali sinnvoll einzusetzen. Die Arbeit mache ich schon seit Jahren – ich reise in die ärmsten Länder in Westafrika –, denn im Ministerium steht niemand Schlange, meinen Posten zu übernehmen. Obwohl es eine Arbeit ist, mit der so jemand wie ich wirklich etwas verändern kann.«
»Vergessen Sie Ihren Kaffee nicht. Der wird kalt.«
»Ich helfe den Menschen. Wirklich, Herr Kommissar. Das habe ich schon von Anfang getan, auch vor meinen Reisen, ich habe versucht, Projekte voranzutreiben, die großen Fragen zu stellen. Aber in dem Haus gibt es erschreckend wenige, die sich für die interessieren, die von allem zu wenig haben – Bildung, Unterkünfte, Kommunikation, Lebensmittel. Darum halte ich mich am liebsten hier vor Ort auf, bei den Menschen, die keine so hohe Lebenserwartung haben – die Hälfte der Bevölkerung ist unter fünfzehn Jahre alt. Das ist die Hälfte, Herr Kommissar!«
Ewert Grens nahm den letzten Schluck aus seiner dritten Tasse Kaffee. Er näherte sich seiner Pension, die ihm große Angst einjagte. Aber in einem ganz anderen Land, in dem die Anzahl der Rentner mit großer Geschwindigkeit zunahm und zu einer wirtschaftlichen Bedrohung wurde.
Die Welt wurde immer merkwürdiger.
»Dass die Menschen von hier fliehen wollen, ist nicht weiter verwunderlich. Die Fischerboote im Mittelmeer sind voll von Menschen aus dieser Region. Ich beobachte die ganze Zeit, wie Schleuser neue Kunden rekrutieren und sich in aller Öffentlichkeit dafür bezahlen lassen. Ohne jedes Risiko. So war das früher nicht. Das ist die Konsequenz der veränderten europäischen Asylpolitik.«
Der Regierungsbeamte klang sehr engagiert, es war nicht nur die Arbeit, die ihn antrieb. Hinter dem perfekten Leinenanzug gab es etwas, das von noch größerer Bedeutung war.
»Und Sie, Herr Kommissar? Haben Sie die Antworten bekommen, wegen denen Sie gekommen sind?«
»Ich habe genau die Antworten bekommen, wegen denen ich gekommen bin.«
»Dann wissen Sie jetzt mehr über die Verantwortlichen hinter den vielen Toten in einem schwedischen Hafen?«
»Nein, noch weiß ich nicht mehr als vorher. Bei meiner Reise ging es eher um Arbeitsmethoden und um das Delegieren von Personal.«
Dixon verbarg nicht, dass er Letzteres nicht verstanden hatte, und wollte gerade nachhaken, als sie unterbrochen wurden. Von einem jungen Mann in Uniform ohne Abzeichen.
»Mister Cirrata?«
Grens nahm an, es war der Taxifahrer, denn er hielt ein Schild mit krakeliger Schrift hoch.
»Jetzt trennen sich unsere Wege, Herr Kommissar. Ich fliege morgen zurück – auch eine Blitzvisite. Gute Reise, wünsche ich Ihnen.«
Dixon stand auf.
»Cirrata, Dixon? Was denn jetzt?«
Er reagierte mit einem Lächeln auf Grens Frage.
»So heißt der UN-Repräsentant, den ich treffen werde. Wie ich schon sagte, die Verwaltung hier ist noch ausbaufähig.«
Dixon verabschiedete sich mit einem Lächeln, kam aber nicht weit, denn schon ein paar Schritte später grüßte er einen anderen Hotelgast. Grens reckte den Hals, um zu sehen, wer es war.
Und er erkannte ihn.
Es war Piet Hoffmann, der sich mit dem schwedischen Regierungsbeamten unterhielt.
»Es ist tragisch, dass die UN ihre Lebensmitteltransporte nur mit Unterstützung privater Sicherheitsfirmen ans Ziel bringen kann, die bis an die Zähne bewaffnet sind. Immer wieder diese Angriffe! Das Zerstören der Lieferungen! Ich werde niemals aufhören, mich über die Spezies Mensch zu wundern.«
Sie standen so nah, und Thor Dixon sprach so laut, dass Grens alles hören konnte, was er sagte. Von Hoffmanns Antwort aber verstand er kein einziges Wort. Vielleicht hatte er auch gar nichts erwidert, vielleicht bestand seine Art zu kommunizieren ausschließlich aus dem kurzen Nicken, das Grens von seinem Sitz aus sehen konnte.
»Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch – Sie machen einen fantastischen Job da draußen. Eine so wichtige Aufgabe ist das. Ich möchte, dass Sie das wissen.«
Piet Hoffmann quittierte das Lob für sich und seine Kollegen mit einem weiteren Nicken, dann verabschiedeten sich die beiden Männer voneinander. Der Regierungsbeamte verließ das Hotel, Hoffmann kam auf Grens zu.
»Guten Morgen. Sitzen Sie schon wieder hier und warten auf mich, Herr Kommissar?«
Der Blick, den sie wechselten, war misstrauisch, zögernd. Der gestrige Abend hing wie ein flatterndes, durchsichtiges Tuch zwischen ihnen. Und sie taten das, was Menschen tun, wenn sie sich wieder annähern wollen – sie sprachen über etwas ganz anderes.
»Sie kennen sich, Hoffmann?«
»Wie bitte?«
»Na, Sie und der Regierungsbeamte.«
»Wir sind uns schon mal hier und da begegnet. Hier gibt es nicht so viele gute Hotels.«
Das Tuch zwischen ihnen weigerte sich, zu Boden zu fallen.
Darum blieb Grens nichts anderes übrig.
»Wegen gestern, Hoffmann.«
Es war seine Aufgabe, das Gespräch darüber aufzugreifen – schließlich war er mit einer einzigen Absicht nach Afrika gereist und würde gleich wieder nach Hause fliegen.
»Ich möchte mich entschuldigen. Dafür, dass ich … so weit gegangen bin. Vielleicht sogar zu weit. Aber ich … war gezwungen dazu.«
Ewert Grens zeigte auf den Sessel gegenüber, so wie am vorherigen Abend, aber Hoffmann gab unmissverständlich zu verstehen, dass er nicht vorhatte, sich hinzusetzen.
»Sie haben wahrscheinlich getan, was Sie tun mussten.«
War da die Andeutung eines kleinen, vorsichtigen Lächelns in dem ansonsten verschlossenen Gesicht?
»Sie waren ziemlich professionell, Sie haben mich nach nur zwei Treffen rumgekriegt. Wissen Sie, wie lange Wilson mich bearbeiten musste, um mich zu rekrutieren? Vier Monate. Sie haben das nach zweimal fünfundzwanzig Minuten geschafft.«
Sie umarmten sich nicht, gaben sich nicht einmal die Hand. Aber das Lächeln – das Grens gesehen hatte, davon war er überzeugt – machte es ihm um einiges leichter, ohne Hoffmann zum Flughafen zu fahren.
»Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss in die andere Ecke der Lobby. Und zwar allein. Da ist der Empfang besser. Ich muss ein wichtiges Telefonat führen und meiner Familie eröffnen, dass ich heute doch noch nicht nach Hause komme, dass Zofia und die Jungs noch drei Monate auf mich warten müssen.«
Ewert Grens hatte sich geirrt. Es machte es doch kein bisschen leichter.
»Ich … ich werde ein wachsames Auge auf ihr Zuhause haben. Versprochen!«
»Das Einzige, was Sie mir versprechen müssen, Grens, ist, dass Sie sich verdammt nochmal so weit wie möglich von meiner Familie und mir fernhalten, wenn das hier überstanden ist.«
»Ihre Arbeit wird in keiner Weise das Leben Ihrer Familie beeinträchtigen, das verspreche ich Ihnen, Hoffmann. Okay?«
Piet Hoffmann erwiderte nichts. Er ließ den ältlichen Polizisten, der die halbe Erdkugel umrundet hatte, um ihn zur Mitarbeit zu zwingen, sitzen und ging in die andere Ecke der Lobby, setzte sich mit dem Rücken zur Rezeption und dem Stimmengewirr in einen der Sessel dort. Er würde jetzt das tun, was er nie wieder tun wollte. Das hatte er ihr versprochen. Er würde sie anlügen. Um es für alle einfacher zu machen. Damit sie sich weniger Sorgen machte.
»Guten Morgen, meine geliebte Frau.«
»Guten Morgen, Piet.«
Zofia war sofort drangegangen. Er sah sie vor sich, in der Küche, gerade dabei, den Frühstückstisch zu decken. Er musste daran denken, wie sie seine neun Jahre lange Lüge beschrieben hatte, das Doppelleben in den beiden parallelen Welten. In ihrer Welt und der der Jungen war er der Ehemann und Papa mit seiner eigenen Sicherheitsfirma. Gleichzeitig aber war er ein Mensch gewesen, der an seiner eigenen Kriminalität fast zugrunde gegangen wäre und als Widergutmachung sein Leben als Undercoveragent für die schwedische Regierung riskiert hatte.
Sie hatte das als einen größeren Vertrauensbruch empfunden, als wenn er eine andere Frau gehabt hätte.
So hatte sie das formuliert, als er ihr eines Tages die Wahrheit hatte erzählen müssen.
Lügen, die sich ineinander schachtelten, konnte man nicht greifen. Eine andere Frau wäre deswegen einfacher gewesen, weil es sie tatsächlich gegeben hätte, man hätte sie ansehen und hassen können, sie hätte sich entscheiden können, ihn für immer zu verlassen.
Aber sie hatte ihn nicht verlassen.
Von dem Tag an hatte er ihr immer die Wahrheit gesagt. Auch in den Jahren auf der Flucht, abends, wenn die Kinder im Bett waren und er ihr erzählte, wie es war, andere Menschen zu töten, um zu überleben.
Bis heute.
»Du?«
»Ja?«
»Ich komme heute Abend nicht nach Hause.«
Sie antwortete nicht. Hatte aber auch nicht aufgelegt. Er hörte, wie sie durch die Küche lief, ein Stuhl wurde vom Tisch gezogen, ein Teller klirrte.
»Zofia?«
Der Toaster wurde eingeschaltet. Warum wusste er, wie das klang?
»Zofia? Sag was.«
»Du kommst nicht nach Hause?«
»Die Hungersnot ist so akut geworden, wir müssen zusätzliche Transporte begleiten.«
»Und seit wann weißt du das?«
»Seit gestern Abend. Spät.«
Wie einfach das gegangen war. Zu lügen. Er hatte erwartet, dass diese Fertigkeit, wie alles andere auch, erst trainiert werden musste, damit sie überzeugend wirkte. Aber das war so selbstverständlich gewesen, als hätte er nie damit aufgehört.
»Den ersten Transport werden wir schon heute durchführen. Aber ich werde euch anrufen können, wie immer.«
Mehr Klirren. Vielleicht war das ein Löffel, der gegen Rasmus’ Schale schlug, die immer bis zur Kante mit Vanillejoghurt gefüllt werden musste. Oder es war Hugo, der sein hartgekochtes Ei auf dem Teller zerschnitt.
»Ich mache den Lautsprecher an, Piet, und stelle das Handy auf den Tisch, wie immer – die Jungs sitzen schon hier.«
Ihre Stimme war weder genervt noch enttäuscht. Neutral, sie klang neutral. Was viel schlimmer war.
»Hallo, Jungs!«
»Hallo, Papa!«
Das war Rasmus gewesen. Hugo war still geblieben.
»Bist du auch da, Hugo?«
»Hmm. Ich bin hier.«
Immer nachdenklich.
Ihr Ältester, der so viel grübelte.
»Wie schön, was macht ihr …«
»Um wie viel Uhr kommst du heute Abend?«
Hugo. Als hätte er es geahnt.
»Ich … muss doch länger bleiben. Ein bisschen länger.«
»Du kommst nicht?«
»Hugo, ich …«
»Kommst du oder kommst du nicht?«
»Ich komme heute Abend nicht.«
Wieder hörte er das Schaben der Stuhlbeine auf dem Boden. Dann Schritte. Und eine Tür. Die Haustür?
»Hallo?«
»Hugo ist rausgegangen, Papa.«
»Wirklich?«
»Ja, das hat er gestern auch gemacht. Als du nochmal angerufen hast, weil ihr euch beschossen habt. Er hat sich draußen auf die Treppe gesetzt, bis wir zur Schule gegangen sind.«
Wie ein Schlag in den Magen. Und dann noch einer, gegen den Kopf.
Hugo hatte also wirklich … die Schüsse gehört? Und gewusst, was sie bedeuteten. Vielleicht hatte er Angst um ihn gehabt.
Auch Rasmus hatte es gehört und verstanden. Oder Hugo hat es ihm später erklärt.
Zofia und er waren überzeugt gewesen, dass sie bisher immer nur die Informationen hatten durchsickern lassen, die weitergegeben werden konnten, sie hatten angenommen, dass sie ihre Kinder vor einer Wirklichkeit beschützten, die schon viel zu lange ihre Lebensrealität ausgemacht hatte.
Dabei hatten die beiden die ganze Zeit alles verstanden, gespürt.
Zum zweiten Mal hatte Hugo den Frühstückstisch verlassen, obwohl es ihre gemeinsame Zeit war und er – Zofia hatte ihm erzählt, dass sie das auch so machte – die Augen dabei schloss und so tat, als würde er tatsächlich an einem ganzen normalen Morgen mit seiner Familie ganz normal Frühstück essen.
Piet Hoffmann drückte sich das Handy fest gegen das Ohr.
Er musste es schaffen, in den nächsten zwei Wochen nach Hause zu kommen.
Er musste bald mit ihnen frühstücken, und zwar wirklich zusammen mit ihnen dasitzen, so wie er es versprochen hatte. Und wenn es nur für einen Morgen war, ein einziges gemeinsames Frühstück.
Grens und er hatten gestern ja schon darüber gesprochen – wenn er nur zwei Wochen Zeit hatte, um in das Herz der Organisation zu dringen, musste er sowieso anders arbeiten als bisher. Das galt selbstverständlich erst recht, wenn er nur dreizehn oder zwölf oder vielleicht sogar nur elf Tage Zeit hatte.
Kollision.
So hatte Ewert Grens das genannt.
Konfrontation. Das Gegenteil von Zeit. Ein Blitzangriff, der alle Türen auf einmal öffnet.
Piet Hoffmann saß in dem ruhigeren Teil der Lobby, in der Hand hatte er das Telefon, als würde er so ihre Stimmen festhalten können. Er würde schon bald aufbrechen, nach Norden, an einen Ort fahren, an dem auch die Spuren der Flüchtlingsströme zu finden waren. Jetzt hatte er eine Entscheidung getroffen. Wenn es möglich war, das Unmögliche in zwei Wochen durchzuführen, dann war es vielleicht auch möglich, es noch schneller zu schaffen.