[Gutenberg 47175] • Herrn de Charreards deutsche Kinder: Die Geschichte einer Familie

[Gutenberg 47175] • Herrn de Charreards deutsche Kinder: Die Geschichte einer Familie
Authors
Siebe, Josephine
Publisher
Carl Flemming und C. T. Wiskott AG. Berlin
Tags
historical fiction , german fiction -- 20th century
Date
1922-01-01T00:00:00+00:00
Size
1.40 MB
Lang
de
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Example in this ebook

1\. Kapitel.

»Itze kommense!«

Bubenstimmen gellten laut durch das in der Mittagsglut träge ruhende Dorf. Mädelstimmen tönten nach, waren heller, höher, sie drangen in die Häuser ein und jach erhob sich da und dort lautes Rufen. Fragen und Gegenfragen sprangen von Haus zu Haus, Holzpantoffeln klapperten, Türen, Fenster wurden aufgetan, neugierige Gesichter schauten, und selbst der alte Pfarrer sah müde aus dem Fenster seiner Wohnstube.

Und wieder gellten die Bubenstimmen laut. »Nune biegense um de Ecke!«

Der alte Lemnitzer Karl schrak zusammen in seinem Ofenwinkel, in dem er seine Tage verdrömelte. Verdattert richtete er sich auf. »Sind's Schweden?«

»Niche doch, Vater, die kommen nune nie mehr. Hab nur niche Bange, die Pösener Herrschaft kommt itze gefahren.«

»Die Schweden, die Schweden!« lallte der Alte verzagt. »Da passe du nur druff, die finden wieder her.«

»Es tut dir niemand mehr was!« Frau Katarine Merfen, des Alten verwitwete Tochter, strich mitleidig dem Vater über das verstörte Gesicht. »Se ham uns genug getan.« »Gotte doch ganz genug.« Und einen Augenblick schwankte die große, blonde Frau, und ihre Augen hatten den Schreckensblick von damals, als die Schweden auf »friedlichem« Durchzug in das Dorf gekommen waren. »Itze ist lange Friede,« sagte sie gut zu dem Alten, und wiederholte feierlich: »Friede.«

»Das Wasser vor drei Jahren war 'n Anzeichen, sie kommen wieder,« brummelte der Alte stöhnend. Er war völlig versponnen in das trübe Erleben der Vergangenheit, ihm schimmerte keine Gegenwartshoffnung mehr, kein Tagerleben machte ihn mehr froh.

Die Tochter trat an das Fenster. Draußen auf der Landstraße rollte schwankend, schwerfällig ein Reisewagen daher. Groß war er und ungefüge. Der neue Besitzer des dem Dorfe Bucha nahen Gutes Pösen, Monsieur Anthoine de Charreard, saß darinnen, schlank, vornehm; neben ihm seine junge Frau Sophia Christine.

Es war ein recht zaghaftes Weiberseelchen, was da in einer Ecke des Wagens fast versank. Sophia Christine war nie sonderlich lebhaft gewesen, bedrückt, verschüchtert war sie bisher durch ihre Tage gegangen, aber seitdem ihr Vater, der herzogliche Geheime Rat Ries in Jena ihr stolz den früheren Hofmeister der Herzöge von Weimar, Kammerjunker Anthoine de Charreard, als künftigen Gemahl vorgestellt hatte, war sie ganz verstummt. Aus übergroßer Liebe zu dem Manne, und aus Verwunderung darüber, daß ihr stillverschwiegenes Sehnen Erfüllung gefunden hatte.

Dem schönen Kammerjunker war die zierliche Frau, die da neben ihm im Wagen saß, bisher herzlich gleichgültig gewesen. Er ersehnte Freiheit von dem drückenden Zwang des Hoflebens, ersehnte, Herr auf eigener Scholle zu sein. Darum, nicht um der Frau willen, die er freien sollte, hatte er dem Plan seiner fürstlichen Freundin, die er heimlich Feindin nannte, der Gemahlin des Herzogs Bernhard von Jena zugestimmt. Die Herzogin Marie stammte aus Frankreich wie er, und als er einst die junge Herzogin von Tremouville kennen gelernt, war sie ihm lieb geworden. Das war vergangen, es gelüstete ihn nicht danach, der Narr der übermütigen, hoffärtigen Dame zu sein, und als sie ihm in einer bösen Laune eine Bürgerliche, die liebliche Jungfer Ries zur Gemahlin vorgeschlagen, hatte er ja gesagt. Niemand ahnte ja, wie der schönste Mann von Jena des Treibens müde war, das am Hofe herrschte.